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Jeder Tag ist Muttertag

Es bleibt vorläufig dabei: Was Frauen und Männer fundamental trennt, ist die Erfahrung der Mutterschaft - und zwar in ihrer vollständigen, umfänglichen Dimension. Sind an der Zeugung von Nachwuchs Männer noch in unterschiedlichsten sozialen, emotionalen und medizinisch-biologischen Kontexten beteilgt, markieren Schwangerschaft und Geburt einen genderspezifisch so fundamentalen Unterschied, dass er aus meiner Sicht den Unterschied ausmacht, der Frauen und Männer tatsächlich unterscheidungsfähig macht. Wenn ich von der vollständigen und umfänglichen Dimension dieses Unterschieds spreche, dann meine ich damit sowohl die außerordentlichen Privilegien als auch die bis heute nicht von der Hand zu weisenden Risiken, die Frauen mit Schwangerschaft und Geburt geschenkt werden bzw. die sie auf sich nehmen. Geschieht dies freiwillig in der Haltung eines absoluten und zweifelsfreien Kinderwunsches, mag dies auch umfänglich Sinn geben. Es gibt andere Kontexte und Situationen, die je nach historischen, kulturellen, sozialen und individuellen Rahmenbedingungen Schwangerschaft und Geburt auch sehr in Frage stellen bzw. nachhaltig belasten.

Wie immer dem auch sei - für diejenigen, die geboren werden, steht vor vorne herein fest: Der Mensch ist, weil er sich verdankt. Niemand erschafft sich selbst. Sind die Umstände einer Zeugung, Schwangerschaft und "Aufzucht" von guten, positiven Bedingungen gerahmt, dann erfahren Menschen das, was sich alle wünschen: Sie werden als Erdenbürger auf dieser Welt sehnlichst erwartet und ihnen widerfährt in Form von liebevoller Zuwendung und Fürsorge all jenes, was uns auch vorderhin zu Menschen macht; Menschen, die ihrerseits in der Regel mit den Gaben des Mitleids, der Empathie, der Liebe und Zuneigung ausgestattet bzw. gesegnet sind, so dass ein guter Wind das innerfamiliäre Klima über die Generationen hinweg wesentlich prägt. Familiendynamiken sind in der Regel allerdings nicht so beschaffen. Das pure "Familienglück" bleibt Illusion:

"Eine unruhige Selbstreferenz, die in Vorstellungen eines immer bedrohten, aber auch immer möglichen Gleichgewichts konvergiert, liefert ein stündlich und täglich abrufbares Schema, das es erlaubt, auf Überraschungen, Enttäuschungen und andere Störungen sowohl zu reagieren als auch nach Bedarf abzuweisen, dass Reaktionen erforderlich sind. Die Kulturform des Gleichgewichts, die man sich als eine laufende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Ungleichgewichts vorstellen muss, ist der Rechenrahmen, der zurate gezogen wird, um entscheiden zu können oder unentschieden auf sich beruhen zu lassen, auf welche Probleme innerhalb der Ehe, bei der Erzhiehung der Kinder, im Umgang mit den Alten... wer wann eingeht (Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt 2007, S. 200)."

Was können Mütter, Väter und Kinder zu den erwähnten Ungleichgewichten beitragen? Wer geht wann auf welche Probleme ein? Wer kreiert wann welche Lösungen und welchen Preis zahlen die Beteiligten dafür? Kann man nolens volens bestimmte wechselseitige Erwartungen und damit verbundene Haltungen schlicht voraussetzen, kann man sie möglicherweise auch deligieren? Oder anders herum gefragt: Wer nimmt sich wann das Recht bestimmte Erwartungen zu bedienen - ja sie in verqueren Familiendynamiken sogar zu monopolisieren? Und wie gehen die Beteiligten damit um? Was ist das zivilisatorische Minimum auch in innerfamilialen Beziehungen? Was markiert sozusagen - auch in intimer Hinsicht - den eigenen Raum, den jeder einzelne für sich, den die Eltern für sich und den auch die Kinder für sich - je älter sie werden - in wachsendem Maß beanspruchen können, dürfen und müssen? Und - um auf die plakative thematische Fokussierung zurückzukommen - nehmen Mütter in diesem schwierigen Kontext eine Sonderrolle ein? Mancheiner behauptet es gebe auch ein(e) besondere(s) Begabung/Verpflichtung/Bedürfnis zur/nach Mutterschaft. Die Entscheidung zwischen privater und öffentlicher Rolle, zwischen Erwerbsleben und der Pflicht bzw. dem Bedürfnis Mutterschaft auch (aus-)leben zu wollen besitzt möglicherweise eine andere Dimension bzw. Wertigkeit als sie gemeinhin mit der Gestaltung von Vaterschaft verbunden wird.

Eine kleine private Einlassung: 1987 und 1989 - als ich Vater werden durfte - ließ es meine teilzeitgeregelte Rolle im Erwerbsleben zu, dass ich in meine Töchter im Säuglingsalter, im Vorschulalter und auch noch in die Schulzeit hinein begleiten durfte. Gemeinsam mit meiner Frau und meiner Schwiegermutter konnten wir ein nahezu vollständiges Netz spinnen, in das der Kindergarten erst in einem uns angemessen erscheinenden Alter unserer Kinder eingreifen durfte. Außerdem gehörte ich zur ersten Generation von Vätern, die zu Schwangerschaft und Geburt einen unmittelbareren Zugang hatten. Dafür bin ich dankbar. Und ich glaube, dass dies ebenso sehr meine Persönlichkeitsentwicklung geprägt hat wie später die intensive Sorge und Fürsorge für die Alten.

Ich habe in der vorstehenden kurzen Einlassung meine Schwiegermutter erwähnt. Ich müsste ebenso meine Mutter erwähnen. Beide Großmütter haben ein besonderes Interesse an ihren Enkeltöchtern gezeigt. Die generationenübergreifende Kraft blutsverwandtschaftlicher Bindung hat den Unterschied ausgemacht und beiden Frauen eine besondere Rolle zukommen lassen. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch die Großväter eine besondere Begabung aufwiesen. Der Großvater mütterlicherseits, der 2010 verstorben ist, mutierte in dieser Rolle gar vom harten Hund, dessen Liebe zu seiner Tochter sich primär in Sorge und Autoritätsansprüchen offenbarte, zu einem butterweichen Großvater, der seinen Enkeltöchtern die Wünsche und Bedürfnisse buchstäblich von den Lippen ablesen konnte. Streit gab es dann später allenfalls mit Blick auf den Erziehungsstil der Tochter, der zumindest die väterliche Handschrift der eigenen Tochter gegenüber nicht gänzlich leugnen konnte. Dem harten Hund, der der Großvater auch war, agierte die eigene Tochter zuweilen mit zu großer Strenge. Mich interessieren insbesondere solche Verschiebungen von Wertigkeiten und Haltungen.

Was mich in dieser Hinsicht seit Jahrzehnten beschäftigt, hängt mit einer merkwürdigen Dynamik in der eigenen Herkunfstfamilie zusammen. Diese Dynamik hält an und durchwirkt und beeinflusst seit drei Generationen die innerfamiliären Beziehungen. Zeigen lässt sich dies am Zustandekommen und der Interpretation von Mutterschaft und Großmutterschaft. In meiner Wahrnehmung führt das u.a. zu der Idee, dass jeder Tag in unserer Familie ein Muttertag ist:

  • Die Ursprünge zu der angeführten Familiendynamik wurzeln in Hildes Geschichte: Hilde (*1924) ist die Mutter von Ursula (*1942), von Franz Josef (*1952) und Wilfried (*1955 +1994). Wie Hilde zur ersten Mutterschaft gelangt, kann man - wie angedeutet - in  Hildes Geschichte nachlesen. Nur soviel sei hier gesagt, dass es in der Tat um die Begründung von Mutterschaft ging. Elternschaft konnte sich auf justiziable oder institutionalisierte oder gar gesegnete Weise nicht begründen, weil der Vater als Soldat und bereits verheirateter Mann nicht zur Verfügung stand. Hilde musste ihn zuletzt aus ihrem Selbstbild und der entstehenden und sich vollziehenden Mutterschaft radikal tilgen, weil ihr zur Kenntnis kam, dass der Vater ihres Kindes bereits verheiratet war und einen Sohne hatte. Dass ein zweiter Sohn ein halbes Jahr nach der Geburt ihrer Tochter geboren werden sollte und dass der Vater dieser beiden Söhne und ihrer Tochter im September 1943 den Höchstpreis für seine individuelle Verstrickung die nationalsozialistische Ideologie zahlen sollte und in Rußland den Heldentod sterben würde, hat sie erst 60 Jahre später erfahren. Wie erlebt man eine solche Schwangerschaft und Mutterschaft? Im sozialen Umfeld war Hilde schnell als "gefallenes Mädchen" gebrandmarkt. Sie musst ihren Heimatort verlassen und brachte ihre Tochter in einem Mütterheim der NSV zur Welt. Im Sommer 1942 ist sie in die Familie zurückgekehrt. Schuld und Scham und soziale Ächtung waren der Preis für eine unverhoffte, unerwünschte und vor allem ungeahnte Schwangerschaft.
  • Wie mögen diese denkbar ungünstigen und belastenden Umstände auf die Tochter gewirkt haben. Der Zugang zu diesem Erleben basiert ausschließlich auf dem Selbstbild und den Erzählungen Ursulas, die am 5. Juni 1942 das Licht der Welt erblickte. Ursula, meine Schwester, hat nie ein schlechtes Wort über ihre Kindheit verlauten lassen. Die Großeltern hatten sich nach anfänglicher Enttäuschung und Tendenzen der Aus- und Abgrenzung der eigenen - erst 17jährigen - Tochter gegenüber ganz offenkundig eines Besseren besonnen. Beeindruckend bleibt das Selbstbild und der Erinnerungsschatz Ursulas. An Zuwendung und Fürsorge scheint es nicht gemangelt zu haben. Die Mutter - Hilde - und die kleine Familie haben selbst in den Jahren des Mangels gut für die kleine Ursula gesorgt. Heute kennt man den Begriff der Resilienz. Sollte ich exemplarisch Resilienz als konkreten Ausdruck einer besonderen Lebenstüchtigkeit und Widerstandsfähigkeit beschreiben, in meiner Schwester finden sich diesbezüglich alle Attribute und Kompetenzen auf überzeugende und beeindruckende Weise vereint. Zu vermuten ist, dass auch Hilde ihren gediegenen Anteil daran hat, dass sich ihre Tochter zu einer lebenstüchtigen und lebenslustigen Frau entwickeln konnte.
  • Andererseits verkörperte Ursula von Anfang immer auch das Fremde - möglicherweise sogar das Unerwünschte. Im sozialen Umfeld eines konservativ-katholizistischen Umfelds, trug sie natürlich das Etikett des unehelichen Kindes - hinter der Hand spricht man in solchen Fällen von einem "Bastard". All dies mag mit zunehmendem Alter Ursulas eine ausgeprägtere Rolle gespielt haben. Ich erinnere eine Geschichte, die meine Schwester immer wieder erzählt hat: Die Kinder mussten sich anlässlich eines Besuchs des Schulrats mit ihrem Namen vorstellen. Ursula stellte sich außer der Reihe mit: "Ursula Witsch, geborene Lahnstein" vor. Sie kam weinend nach Hause und bekam auf die Nachfrage, warum die Kinder sie ausgelacht hätten, zur Antwort, die seien halt dumm und hätten keine Ahnung. Hier deutet sich bereits an, dass Hilde geheiratet hatte, und dass ihr Ehemann Ursula "auf seinen Namen genommen" hatte. Die väterlichen Wurzeln bildeten fortan ein streng gehütetes Geheimnis und alle Fragen danach unterlagen einem Tabu.
  • Diese Heirat, am 21. August 1948 hat ihre eigene Geschichte. Hilde heiratet Theo. Fast vier Jahre hat Theo um Hilde geworben. Hilde wollte ganz offenkundig nicht heiraten. Vermutlich war es eine Mischung aus Schuld, Scham, die sie zu der Haltung finden ließen, nichts wert zu sein - eher eine Zumutung als eine ehrenwerte Frau zu sein. Theo kannte Hilde schon aus Kinderzeiten. Sie wohnten Hausbacke an Hausbacke. Auf Heimaturlaub - insgesamt viermal zwischen 1942 und 1944 hatte Theo auch die kleine Ursula kennengelernt. Er hat sie ganz offensichtlich früh in sein Herz geschlossen. Er war nicht nur liebesblöd, sondern verfügte ganz offenkundig über eine Sturheit besonderer Güte. Auch gegen den erklärten Willen seiner Mutter, die ihn stolz und unnachgiebig darauf hinwies, er könne sich seine Kinder selbst machen, hielt er an seiner Absicht fest, solange und so konsequent, bis Hilde seinem Werben nachgab. Dass dies so spät - mehr als drei Jahre nach Kriegsende - der Fall war, mag auch damit zusammenhängen, dass Hilde immer in Habachtstellung blieb. Es wäre ja durchaus denkbar gewesen, dass Franz Streit - der Vater Ursulas - irgendwann vor der Tür gestanden hätte, um seine Tochter kennenzulernen, von deren Geburt er ja auf verbriefte Weise Kenntnis hatte. Es gibt gar eine Version, die davon ausgeht, dass Franz Streit Hilde im NSV-Heim in Flammesfeld kurz vor der Niederkunft noch besucht hat.
  • Theo hingegen hat sich dann seine Kinder in der Tat selbst gemacht: Franz Josef und Wilfried. Aber er hat Ursula adoptiert, und er hat Zeit seines Lebens weder seinen Söhnen noch seiner Stieftochter auch nur den geringsten Anlass gegeben, zu glauben, zwischen ihnen dreien gäbe es irgendeinen Unterschied. Sie Söhne kamen spät, sehr spät - als seien sie begriffsstutzig - auf die Idee, dass hier irgendetwas nicht stimme. Theo ist 1988 - im Alter von eben 65 Jahren - gestorben, nachdem ihm seine Stieftochter auf einer Nachfeier zu seinem Geburtstag und vier Wochen vor seinem Tod im Rahmen ihrer Festrede noch einmal versichert hat, sie hätte keinen besseren Vater haben können. Ihre (Halb-)Brüder teil(t)en diese Auffassung ohne jede Einschränkung.
  • Aber Ursula begann nach dem Tod ihres Stiefvaters behutsam mit Nachforschungen zu ihrer (väterlichen) Herkunft. Es sollte mehr als 10 Jahre dauern, Licht in dieses Dunkel zu bringen; erst nach und nach und spät - viele sagen zu spät - in der Weise von der Mutter unterstützt, dass sie den Namen des Vaters preisgab. Solange Theo lebte, respektierte auch Ursula das Tabu, das Geheimnis ihrer vollständigen Herkunft. Wie so häufig setzte sie sich selbst früh in ihrem Leben gewissermaßen einem Wiederholdungszwang aus und tat es ihrer Mutter nahezu gleich: 1961 - im Alter von 18 Jahren - wurde Ursula schwanger und schenkte im Januar 1962 einem Sohn das Leben. Nie hat jemand die Frage gestellt, wie sehr dieses Ereignis, dieser Wendepunkt die Familiendynamik befeuerte: Hildes Söhne waren Schulkinder. Ihr - Hilde -wurde ein Enkel geboren. Alle lebten unter einem Dach. Ursula und ihr Mann gingen ihrer Arbeit nach. Hilde wurde ein Enkel geschenkt - der Enkel von Hilde und Franz! Uns allen wurde ein Kindelein geboren, das fortan unser aller Leben nachhaltig beeinflussen und prägen würde. Vorbehaltloser und radikaler ist vermutlich selten eine Großmutter zu Werke gegangen. Hilde war ein Kindernarr. Das hat sie Zeit ihres Lebens unter Beweis gestellt.
  • Ihr erstes Enkelkind - Hilde war noch keine 38 Jahre alt - bedeutete nach den Söhnen einen weiteren zentralen Mosaikstein der Sinngebung: Jeder Tag ist Muttertag! Dass es diesem Enkelsohn in den ersten Jahren seiner Existenz keine Sekunde an liebevoller Zuwendung und umfänglicher Fürsorge mangelte, ist in erster Linie der Großmutter, den Urgroßeltern und dem gesamten familialen Umfeld zu danken. Selten ist jemand als Sohn und Enkel gleichermaßen in solch exorbitanter Weise verwöhnt - um nicht sagen vergöttert - worden; nicht als Idiot der Familie, sondern schlicht als ihr Mittelpunkt. Das ganz und gar Besondere liegt - wie schon bei Ursula - in der Haltung des Mannes, der nicht nur Vaters Rolle, sondern auch Großvaters Rolle angenommen hat. So verkörpert im Rückblick Theo als großer Integrationsmagier die eigentliche Seele in dieser Familie. Selten ist es jemandem gelungen, die heterogensten Strömungen und Herkünfte mühelos zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Wer wäre je auf die Idee gekommen, Ursula sei nicht die Tochter und ihr Sohn nicht der Enkel Theos. Jedenfalls niemand von denen, die in diese Familie hineingeboren worden sind und die hier zu Hause waren.
  • Schauen wir doch einmal darauf, in welch galaktischen Unterschieden sich die Paarfindung und Paarsozialisation der Kriegskinder und der Kriegsenkel und der Kriegsurenkel unterscheiden: Ursula (*1942) verliebt sich in Ernst (*1937). Ursula wird 1961 schwanger (die Pille stand vor ihrer Einführung und war bis Ende der 60er Jahre in Deutschland mit extremen Vorbehalten und Tabus belegt). Die Heirat war alternativlos; ein behutsames Abtasten und ein Abklären der Frage, ob sich nicht etwas Besseres finde, keine Option.
  • Die 68er haben dies radikal und grundlegend verändert. Ich bin 1952 geboren worden und habe die Frau, mit der ich eine Familie gründen würde und Kinder bekommen würde, mit 27 Jahren gefunden - nachdem ich sieben Jahre lang fest liiert war und erkennen musste, dass das alles nicht so gut war, wie es hätte sein sollen oder müssen, um einem langen gemeinsamen Leben eine lebbare Perspektive zu geben. Jemand der 10 Jahre jünger ist und mit mir verwandt, hat mehrere Beziehungsachterbahnen darauf verwandt, um genau das herauszufinden. Dann hat er sich eine verheiratete Frau genommen, ihren Sohn adoptiert und noch eine eigene Tochter gezeugt, deren Pate ich bin.
  • Wir - ich meine meine Generation und die Generationen, die nach uns kamen - hatten die eindeutige Tendenz zu einer späten Elternschaft; wie gesagt nach so mancher Achterbahnfahrt mit chemotionalen Overkills, Höhenflügen und ebenso krassen Abstürzen. Ich bin mit 35 zum ersten Mal und mit 37 zum zweiten Mal Vater geworden; der Sohn meiner Schwester gar erst mit 42!!!
  • Die Irrtümer, wechselseitigen Kränkungen, Beziehungskämpfe und -desaster mit finalem Ausgang unter Einsatz der Reset-Taste haben wir uns sozusagen im Vorfeld der dann ernsthaften Bemühungen um gleichermaßen intim und familial tragfähige Perspektiven erlaubt. Meine Schwester und mein Schwager haben ihre erste flatterhafte, aber gesegnete Begegnung versucht zu verstetigen und sind dabei gescheitert - wie so unendliche viele Zwangs- und Pflichtehen der 50er und 60er Jahre.
  • Ich vertrete in fast jeder Hinsicht die Theorie des Referenzrahmens, der die kulturellen, sozialen, politischen und individuellen Freiheitsgrade anschaut, unter denen sich Biografien und Lebensentwürfe entfalten können. Insofern kann ich selbst ein zivilisatorisches Minimum nicht ausmachen und erst recht nicht einen gemeinsamen Schatz an Werten, Wissen und Überzeugungen, die sich in jeweils universellen Haltungen Bahn brechen könnten. Haben wir tatsächlich gelernt aus den Fehlern der uns vorangegangenen Generationen?
  • Beziehen wir es schlicht auf die Fähigkeiten ICH-DU oder auch WIR-Beziehungen - so nennt es Wolfgang Klafki in seinem Allgmeinbildungskonzept in den 90er Jahren - in verantwortlicher und aufgeklärter Weise gestalten zu können, so nehmen sich die Rahmenbedingungen und die Freiheitsgrade jenseits der vermieften und reaktionären 50er und 60er Jahre als geradezu revolutionär aus. Frage ich meinen Neffen und mich selber, was uns möglicherweise die Chance eröffnet hat, Beziehung anders zu leben und zu gestalten als unsere Eltern, dann kommen wir nicht umhin einzugestehen, dass wir all die Fehler machen durften und auch schließlich machten in einem Referenzrahmen der uns ungleich mehr Handlungsspielräume und Freiheitsgrade eröffnete als jemals zuvor.
  • Lange Jahre Mittel- und Schnittpunkt in einem familialen Netzwerk zu sein, liebevolle Zuwendung im Übermaß zu erhalten, elterliche Fürsorge und Sorge für alles, was den Start ins eigene Leben nachhaltig ermöglicht - Wohnung, Essen und Kleidung, schulische Bildung bis zur Allgemeinen Hochschulreife, die freie Wahl des Studiums nach Neigung und anderen Gründen - all dies ist eine Sache. Zeuge einer schwieriger und schwieriger sich gestaltenden Ehe der Eltern zu werden ist eine andere Sache. Und wie fasst Martin Spiewak die Erkenntnisse der Scheidungsforschung so lapidar und treffend zusammen: "Die einzige Belastung für ein Kind, die schlimmer ist als zwei sich streitende Eltern, sind zwei geschiedene sich streitende Eltern."
  • Meine Schwester und mein Schwager haben alle Fehler gemacht, die man machen kann. Aber deshalb sind sie keine schlechteren Menschen, und wir keine besseren. Im Gegenteil: Alle Irrtümer, alle Enttäuschungen, alle Kränkungen derer wir uns je schuldig gemacht haben und denen wir uns ausgesetzt sahen, wiegen mindestens soviel  - eher mehr, weil uns ein gemeinsamer Referenzrahmen nicht nur mehr Freiheitsgrade, sondern auch ein Mehr an Reflexion, an wohlverstandener Aufklärung und Emanzipation eröffnete.
  • Es mag ja sein, dass jemand aus Enttäuschung und aus Kränkungserfahrungen heraus seine Eltern nicht leiden kann. Kaum in einem anderen Zusammenhang entbirgt Sprache einen tieferen Sinn, und es wird irgendwann ganz und gar offenkundig, dass jemand, der seine Eltern nicht leiden kann, auch sicht selbst nicht leiden kann. Denn er ist ja seine Eltern! Jeder Tag ist Muttertag!
  • Wir sind am 8. Mai - am Tag der Befreiung - Großeltern geworden. Unsere jüngste Tochter hat ihren Erfahrungsraum komplettiert. 28 Stunden der Geburtsphase - ohne jegliche Schmerzmittel - mit einem Schock am Ende, der sich Gottseidank schnell als eine akut erfoglreich zu behandelnde Infektion herausstellte, trennt mich nun in einem guten, aber umfänglichen Sinne von meiner Tochter und wird eine sehr viel größere Nähe auslösen zu ihrer Mutter, die sie geboren hat. Mein Respekt und meine Achtung gehört beiden - wie allen Frauen, die Kinder in diese Welt getragen und geboren haben.  Hierher gehört meine Ausgangsthese, und ich danke meiner Mutter, die ihre beiden Söhne nur schwer auf diese Welt bugsiert hat und die jeweils viele Wochen der Regeneration und Rekonvaleszenz auf sich nehmen musste.
  • Menschen - vielleicht auch ganz besonders Männer -, die diesen tiefen Dank nicht empfinden, sind mir fremd. Ihnen wird es gleichermaßen an Herz und an Herzlichkeit mangeln in den Kernbeziehungen der ihnen nahen Menschen, der Menschen mit denen sie Familie begründet haben. Allerdings muss ich einräumen, dass es ja noch das Argument der ungewollten Geburt gibt. "Ich bin ja nicht gefragt worden". Legen diese Menschen nicht früh Hand an sich, dann können sie im fortgeschrittenen Alter immerhin auf das schauen, was sie aus ihrem Leben gemacht haben bzw. auf das in ihrem Leben, was sie mit Leib und Seele ersehnt, gestaltet und angenommen haben: Die Fähigkeit, den Willen und das Vermögen sich zu verlieben, die andere Hälfte zu finden und mit ihr neues Leben in diese Welt zu bringen - Familie zu begründen. Sie können schauen auf alles, was ihr Leben reicher gemacht hat - irgendwann und irgendwie, sie schlafen vielleicht in Schwarz-Gelb oder stellen befriedigt fest, dass Kloppo beim Verein des Herzens unterschrieben hat.
  • Zu ermessen, inwieweit Lebenspläne irritiert werden und korrigiert werden müssen bei früher Elternschaft - vielleicht mit 18 und mit 23 -, was das bedeutet entzieht sich vollständig unserer Erfahrung. Wie gezeigt sind wir Nachgeborenen dann erst spät zur Elternschaft gelangt. Vor Fehlern und den unvermeidbaren Belastungen in der eigenen Familie hat uns all dies nicht geschützt. Wir sind mitten drin im familiendynamischen Zirkus und fragen uns immer wieder von Neuem, wer wann seinen Auftritt hat.
  • Bei all dem Menschlich-Allzumenschlichen, das wir verkörpern und das uns umgibt, sollten wir uns als durchschnittliche Intelligenzverkörperungen in einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft dennoch gewisser Entblödungsstrategien befleissigen. Im gegebenen generationenübergreifenden Kontext bedeutet dies zum Beispiel folgenden Argumentationszusammenhang zu bedenken: Manchmal überspringt die Liebe eine Generation. Das ist immer bedenklich und immer belastend - und es ist vor allem nicht gut im Sinne einer Liebe, die fließen kann und dort ankommt, wo sie hingehört. Ein solcher Übersprung vollzog sich von Hilde zu ihrem Enkelsohn. Alles was Hilde an ihrer Tochter versäumt hat, macht sie an ihrem Enkel wieder gut.
  • Als Mutter und als Großmutter ist Hilde von ihren Söhnen und ihrem Enkelsohn geliebt und verehrt worden. Aber die Söhne konnte irgendwann sehen, was man nicht sehen sollte. Und die größte Leistung der Söhne liegt in der Geschwisterliebe, die bis heute dafür sorgt, dass die große Familie sich sucht und findet.
  • Ein weiterer Übersprung liegt vielleicht in der Beziehung Ursulas zu ihrer Enkelin. Von außen betrachtet ist es bemerkenswert und ungewöhnlich, dass sich Großmutter und Enkelin seit Jahren jeden Samstag zusammenfinden und bei der Oma zu Hause den Tag gestalten; mehr Nähe ist kaum vorstellbar! Wo die Liebe nicht frei fließen kann, überwiegt immer und zu allen Zeiten die Fürsorge und eine wohl verstandene Form der Solidarität. Das ist nicht nichts. Ich will dies hier bezeugen, weil man sich ganz sicher verhebt, wenn man diese verqueren Fließbewegungen verkennt, sie nicht sehen will, sie gar ignoriert.
  • Der Mensch ist, weil er sich verdankt. Nur wer des Dankes fähig ist, ist auch zu einem vollen und satten Leben imstande. Wenn ich immer wieder auf Alexander Kluge verweise, dann zuvorderst, weil wir uns immer wieder verdeutlichen müssen, dass wir uns nicht selbst gemacht haben: Unter unseren acht Urgroßeltern - sagt Alexander Kluge - werden wir nicht als die geboren sein, die wir sind.
  • Es gibt zwei Großväter meines Neffen: Wollen wir Theo, dem sozialen Großvater ein ehrendes Andenken bewahren, dann müssen wir voller Freude und Demut uns ein Beispiel nehmen an seiner unfassbaren Integrationskunst, die uns allen ein zu Hause gegeben hat - und dies in einer Zeit unter Einflüssen, die genau dies ganz und gar unwahrscheinlich erscheinen lassen. Theo beschämt alle, die sich dem Leiden nicht stellen wollen. Der zweite biologische Großvater mahnt uns unserer Verantwortung als Verfassungspatrioten. Zu Franz will ich hier nur noch einmal soviel sagen, dass der Missbrauch ganzer Generationenkohorten überwiegt und dass ein Referenzrahmen Biografien nahelegt und erzwang, von denen wir allenfalls etwas wissen können, die wir aber nicht ansatzweise nachvollziehen können. Die Bilder, die mir von Franz Streit in Erinnerung bleiben, zeigen ihn als liebevollen, leidenschaftlichen Vater. Und oft träume ich nachts davon, wie der Vater wohl zu seinem Sohn Werner gestanden hätte, der seinen Vater als seinen Vater sieht, der aber als SPD-Gemeinderatsmitglied und Kriminalbeamter in einem demokratischen Rechtsstaat - eben unter einem vollkommen diametral entgegengesetzten Referenzrahmen - seinem Leben eine vollkkommen andere Richtung gibt. Franz hat im übrigen drei Urenkelinnen hinterlassen: zwei in Trostberg und eine in Ahrweiler.
  • Wir müssen Franz Streit wenigstens beginnen zu sehen, um zu begreifen, dass er seine Spuren auch im Rheinland gelegt hat. Er war der erste Geliebte Hildes, er ist Ursulas Vater und der Großvater ihres Sohnes sowie der Urgroßvater jener erwähnten Urenkelinnen. Und wir die Nachkriegsgeborenen? Wir sind geschichtsbewusste aufgeklärte Menschen, die das Große und Ganze der wilden Geschichte des 20. Jahrhunderts bis in die kleinsten Verästelungen seiner Auswirkungen zu begreifen haben, um Hasadeuren wie Alexander Gauland und Björn Höcke fortgesetzt den Boden zu entziehen.
   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund