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Jens Jessen Danke und: Holla - es war Heilige Nacht oder auch: Wird es eine Fortsetzung geben?

Also um eines vorab klarzustellen: In 11 Monaten und 20 Tagen ist wieder Heilige Nacht - wenn denn nichts Weltvernichtendes dazwischen kommt. Inzwischen - 11 Tage nach der letzten Heiligen Nacht - mögen sich langsam neben Besinnlichkeit auch Besinnung und eine erste Bilanzierung der Schuldkonten einstellen. Ich selber habe mal wieder festgestellen müssen, wie sehr ich Essig in einen eh schon durchgegorenen Wein schütten muss. Das Selbstbesäufnis "Wenn ich noch einmal Kind sein dürfte" (incl. Essiggabe) wird ja bereits seit Jahren mit Hilfe der Hauptsätze der Familiendynamik gegen den Strich gebürstet. Apropos Hauptsätze der Familiendynamik. Jens Jessens "Schnell, ein Kirschwasser! - Weihnachten ist das Fest der Familie und der anreisenden Verwandten. Die kann man sich nicht aussuchen. Sie liefern sich selbst an. Ein Lehrstück über Familienphysik und Eskalation" erreicht mich erst im neuen Jahr, fast drei Wochen nach seinem Erscheinen.

Es wird aber dann tatsächlich zu einer Erscheinung, mit der ich vor allem mein eigenes "Schuldenkonto" bilanzieren, ein wenig frisieren und vielleicht sogar der schwarzen Null näher bringen kann. Und noch einmal apropos: Jens Jessen meint Verwandte könne man sich nicht aussuchen und nennt das den Ersten Hauptsatz der Familiendynamik (Gesetz der sogenannten Blindbestellung). In der Tat! Mit Hilfe meines Ex-Schwagers könnte man sogar die steile These ins Spiel bringen, wonach Verwandte von Gott gegebene Feinde seien. Das ist im übrigen einer der Gründe, warum wir als "Großfamilie" stillschweigenden Konsens darüber erzielen, dass der Ex-Schwager, Ex-Mann meiner Schwester, aber immer noch Vater meines Neffen und Großvater meiner Großnichte, bei den Feiern der Großfamilie nicht mehr dazu gehört. Natürlich ist das ein Ritt auf des Messers Schneide. Aber um mit Jens Jessen die Frage zu beantworten, wie viele Styroporverwandten man bei einer Weihnachtsfeier brauche, damit sich eine gegebene Menge x von brisanten Verwandeten über einen Zeitraum y hinweg auf einem maximal zulässigen Erhitzungsgrad z halten lasse, kommen wir - wie gesagt stillschweigend - zu dem Ergebnis, dass der Ex-Schwager eben kein Styroporverwandter ist und in der Summe als Beifang (ebenfalls ein Begriff, den Jens Jessen einführt) eher als Brandbeschleuniger wirken würde. Lieber Jens Jessen, man müsste neben der Physik noch die Chemie bemühen, um kalkulieren zu können, welche Elemente - in einem Raum angeordnet - zu welchen Reaktionen neigen; und da man die Elemente nicht statisch platzieren und kontrollieren kann, sondern dieselben die Neigung haben sich mehr oder weniger dynamisch im Raum zu bewegen, käme diese Aufgabe eher der Lösung eines gordischen Knotens gleich als lediglich einer Frage mit welchen Arrangements man den Erhitzungsgrad in erträglichen Maßen halten kann.

Aber kommen wir zurück zu Jens Jessens Hauptsätzen der Familiendynamik: Der Zweite Hauptsatz der Familiendyanmik - das sogenannte Gesetz der typischen Eskalation - markiert bezogen auf das Weihnachtsfest den Mittelwert der Selbstverwirklichung in Raum und Zeit. Und hier kann ich nun beginnen meine Rolle als Laborleiter - vulgo Vater -, wie Jens Jessen meint, einmal kritisch zu hinterfragen.

Dazu benötigen wir allerdings einen Miniexkurs, denn ich begreife mich als einen Anhänger der Theorie des blinden Flecks. Die lehrt uns nämlich zu sehen, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann. Dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann, ist aber die Definition des blinden Flecks. Wir sind hier natürlich wieder bei Niklas Luhmann und der von ihm vertretenen Idee der Selbstreferentialität: Danach ist - wie sein Schüler Dieter Lenzen meint - jede Form der Repräsentation von Außenwelt immer eine bestimmte Form der Selbstrepräsentation; etwas schlichter formuliert: Aus meinem Munde nichts Objektives über die Welt und was mit ihr bzw. in ihr geschieht bzw. geschehen ist.

Die Großfamilie hat sich am 2. Advent zu ihrer weihnachtlichen Zusammenkunft versammelt, vor fast einem Monat. Da wir nach Koblenz-Güls eingeladen hatten, war ich als Gastgeber - zumindest wenn man es wie Jens Jessen sieht - auch der Laborleiter. Und in der Tat: Ich bin Vater, ich bin Onkel. Neben meiner Schwester bin ich der Älteste und über mir gibt es nur noch meine Schwiegermutter. Bei einigen der Gäste habe ich mich ausdrücklich entschuldigt für meinen übergriffigen Auftritt an diesem 2. Advent. Ich war überfordert. Jens Jessen beschreibt und spricht süffisant von der Selbstanlieferung der Verwandten. Bei uns ist das nicht ganz so wild. Alle Verwandten (incl. Beifang) bewegen sich bezogen auf den Ort der Feier innerhalb eines Radius von 50km. Aber im Verbund mit dem Fahrplanwechsel der Deutschen Bundesbahn und ihrer Unzuverlässigkeit - selbst im ÖPNV - geriet auch unser Fest in eine logistische Schieflage. Es gibt da jemanden, der konsequent autofrei lebt und auch Familienfeste ebenso konsequent mit Bahn und Bus besucht. Als ich um 12 Uhr mittags dann endlich vermelden konnte/wollte, dass nun alle da seien, waren andere schon wieder weg. Ein wenig konsterniert habe ich die Fassung verloren und dann mich selbst; eine neue Ebene der Selbsterfahrung. Vermutlich hat niemand ein so extrem verstelltes Selbstbild wie der Laborleiter, vor allem dann, wenn er im Harmoniesuff versucht die Welt zu zwingen.  So fährt das eigene Konto weit ins Minus, häuft eine Menge Schulden an und die schwarze Null rückt in galaktische Ferne. In diesem Jahr werde ich das besser machen(:-)

Da kann man - inzwischen wieder gefasst - mit Jens Jessen nur zu der Einsicht gelangen:

"Ja. Weihnachten ist kein besinnliches Fest - jedenfalls nicht, wenn es gesellig im Schoße der Familie begangen wird. Es ist das ganz große Unterhaltungsprogramm, und zu diesem gehören die komödiantischen Einlagen ebenso wie der Psychothriller."

Mir stellt sich abschließend die Frage, wer denn bei uns eigentlich der Onkel Erich sein könnte, über den auf einmal alle entsetzt sind. Jens Jessen schildert ihn so: "Onkel Erich, der ein halbes Leben lang geschwiegen hat, öffnet plötzlich den Mund und erklärt: 'Das hab ich dir nie verziehen'." Jessen meint dazu lapidar: "Das Entsetzen wird eines Tages der Einsicht weichen, dass damit nur dem Anekdotenschatz der Familie eine weitere kostbare Erzählung hinzugefügt worden ist; ein weiterer Beleg für Glück und Unglück der Kommunikation in Familien. Und bezogen auf das Glück und Unglück der Kommunikation in Familien bleibt dann nur noch die Feststellung: Besser Arm dran, als arm dran. Wahrhaft arm dran sind nach Jessens Ausführungen jene Familien, in denen die Hauptsätze der Familiendynamik nicht mehr anwendbar sind und aller Energiefluss bzw.-austausch zum erliegen kommt; da sucht man dann auch vergeblich nach einem lebendigen Anekdotenschatz, mit dessen Hilfe man sich trefflich amüsieren, streiten und vor allem erinnern kann. Wenn ich mir unser Zusammentreffen nüchtern betrachte und nicht schön trinke, dann müssen wir uns durchaus sorgen machen. Zur Welt kommen - zur Sprache kommen, das ist kein Selbstläufer, in Zeiten von Facebook, Twitter und Instagramm alle Mal nicht!

Eine allerletzte Bemerkung im Sinne eines tief empfundenen: mea culpa, mea maxima culpa mit Blick auf die, die wissen, dass sie gemeint sind: Jessen meint, es könne schon vorkommen,

"dass die am weitesten entfernten und am wenigsten involvierten, wirklich nur als Beifang ins Netz gelangten Gäste zu den Opfern werden - still und blass, wie sie sind, fromm die Hände im Schoß gefaltet, sehen sich plötzlich von weit aufgerissenen Mündern, von wütenden Fratzen umstellt... Alle haben sich gnädig ihrer gnädig verhüllenden Mullbinden entledigt und stehen mit blutenden Wunden im Raum."

Ich bin mir sicher - aber was heißt das schon -, ganz so schlimm war es bei uns nicht, und wir sehen uns in diesem Jahr - so etwa in 11 Monaten und x Tagen hoffentlich alle gesund und munter wieder. Und es könnte ja sogar sein, dass wir uns nicht nur wiedersehen, sondern sogar wi(e)dersprechen(:-))

Euer Jupp

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund