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Was ist falsch an der Weihnachtsgeschichte? Eine kleine Skizze

und obendrüber, da schneit es!

Heute ist der 25.12.2017, der erste Weihnachtstag – der Geburtstag Jesu. Im Halbdusel – noch im Bett – habe ich in einer Art Faktencheck Petra Gersters Auseinandersetzung mit der historischen Haltbarkeit der Weihnachtsgeschichte verfolgt; der Geschichte von der Werner Siefer (ZEIT, 52/2015, S. 43) behauptet, sie sei in der Wiedergabe des Evangelisten Lukas „eine richtig gut Story“.

  • Ich höre im „Faktencheck“ Petra Gersters zum einen, dass es bereits die harte Qualität eines Übersetzungsfehlers annehme, wenn immer von der „Jungfrau“ Maria die Rede sei. Vielmehr handele es sich um eine „junge Frau“, die halt eben, wie es im Orient üblich gewesen sei, im Altern von 14 bis 15 Jahren (vielleicht ungewollt) schwanger geworden sei.
  • Ich horche auf, als ich die Ambivalenz der historischen Figur Josefs gewärtig werde. Da gibt es eben zwei überzeugende Alternativen: den starken Josef, der Maria schützt und der gegen die moralischen Vorbehalte auch seiner Zeit zu ihr steht. Und es gibt den schwachen Josef, der hinter all den Ereignissen unkenntlich wird und eine Randfigur bleibt.

Wenn ich mich nun frage, was möglicherweise falsch ist – grundlegend falsch ist – an der Weihnachtsgeschichte, dann offenbart sich dies in aller Totalität in der Figur Jesu selbst. Alttestamentarisch gibt es zwar das Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren! Mir bleibt bis heute – nun bin ich 65 Jahre alt – unerfindlich, wo der mit 33 Jahren gekreuzigte Jesus diesem Gebot wirklich folgt. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Aber was ich hier andeuten möchte, setzt schlicht eine Etage tiefer an: Dies setzt voraus, dass Josef allein deshalb schon eher schwach erscheint, weil er als Vaterfigur von Anfang an in die Defensive gerät. Wenn Jesus tatsächlich Gottes Sohn ist – geworden ist durch einen Gott, der durch den Heiligen Geist gewissermaßen das Mysterium der „unbefleckten Empfängnis“ bewahrt, dann ist Josef – ganz gleich, ob er nun der biologisch-genetische Vater Jesu ist oder nicht – aus dem Spiel. Die Hybris Jesu, Gottes Sohn zu sein, sein zu wollen, sein zu müssen, lässt in der Figur Josef zum ersten Mal manifest werden, was es bedeutet, als Vater vom Sohn weder anerkannt noch genommen zu werden; einmal ganz abgesehen davon, dass auch Maria in der Konsequenz eher als das Opfer eines Missbrauchs dasteht, denn als jemand, zu dem das Kind aufschaut und ihm dankt, indem er zum Beispiel das „Gebet am Morgen des Lebens“ spricht:

 

„Liebe Mama

Ich nehme von Dir alles, das Ganze

mit allem Drum und Dran,

und ich nehme es zum vollen Preis, den es Dich gekostet hat

und den es mich kostet.

Ich mache was daraus, Dir zur Freude

(und zum Andenken).

Es soll nicht umsonst gewesen sein.

Ich halte es fest und in Ehren,

und wenn ich darf, gebe ich es weiter, so wie Du.

Ich nehme Dich als meine Mutter,

und Du darfst mich haben als Dein Kind.

Du bist für mich die Richtige, und ich bin Dein richtiges Kind.

Du bist die Große, ich der/die Kleine.

Du gibst, ich nehme.

Liebe Mama!

Ich freue mich, dass Du den Papa genommen hast.

Ihr beide seid für mich die Richtigen. Nur ihr!

(Es folgt das gleiche in bezug auf den Vater.)

 

Das Morgengebet habe ich Gunthard Webers „Zweierlei Glück“ entnommen (9. Auflage, Heidelberg 1999) und natürlich dürft ihr mich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe??? Aber zu Beginn der 90er Jahre, als Gunthard Weber die Arbeit Bert Hellingers beobachtete und protokollierte, war der wohl noch zurechnungsfähig, hatte selbst noch alle Tassen im Schrank und hat Zusammenhänge (Systemisches) auf eine so schlichte Weise benannt, dass der Gram, die vertikale Spannung, die Verrücktheit, die uns heute – wie je – umgibt bzw. charakterisiert, sowohl unmittelbar als auch in ihrer historischen Bedingtheit uns allen in die Augen springt. Aber – ich gebe zu –, auch diese Einsichten sind nicht voraussetzungslos. Vielleicht kann man folgendes festhalten:

  • Der Mensch ist das einzige Wesen mit Geschichte – mit Geschichten. Wir können – bei aller Beschränktheit – etwas wissen über unsere Herkunft. Wir können uns Fragen stellen. Wir sind begabt zur (Selbst-)reflexion. Diese Begabungen bedeuten im Zusammenhang, dass wir auch die großen Geschichten hinterfragen können – so auch die Weihnachtsgeschichte.
  • Im Ringen um Fragen unserer Existenz, unserer Herkunft und unseres Behagens genauso wie unseres Unbehagens können wir auf einen großen Schatz gemeinsamer Erfahrungen zurückgreifen. Sie lassen sich vielleicht verdichten zu solch fundamentalen Einsichten, dass der Mensch angewiesen ist – und dies von Anfang an: auf Zuwendung und Fürsorge, eingebettet und aufgehoben am besten in einer liebevollen Zugewandtheit der bedeutsamen Anderen – vulgo Mutter und Vater, Großmutter und Großvater. Daraus folgt – und da kann der Mensch sich drehen und wenden, wie er will –, dass wir uns verdanken und dass sich im Nehmen dieser Gaben genauso wie im Dank für diese Gaben, der menschlichste aller menschlichen Grundzüge ausformt.

Was nun ist falsch an der Weihnachtsgeschichte?

Jesus wuchs hinein in die Hybris Gottes Sohn zu sein – der Erlöser der Menschheit. Der Zimmermann aus Nazareth und das junge, gefallene Mädchen verblassen hinter dieser galaktischen Selbstüberhebung und das Morgengebet eines Kindes an seine Eltern muss ins Leere gehen. Zumindest für uns gewöhnliche Menschenkinder liegt es auf der Hand und in so unendlich vielen Geschichten geborgen, dass ein jeder und eine jede sich überhebt, wenn er in Hybris lebt. Gunthard Weber protokolliert in schlichter Sprache, um welche Zusammenhänge es hier geht:

„Weit verbreitet ist die Haltung, dass Eltern es sich erst verdienen müssen, dass die Kinder sie nehmen und ankerkennen. Sie werden wie vor ein Tribunal zitiert, und das Kind schaut sich die Eltern dann an und sagt: ‚Das mag ich nicht an dir, deshalb bist du nicht mein Vater‘, oder: ‚Du verdienst es nicht meine Mutter zu sein.‘ … Sie rechtfertigen das Nichtnehmen mit Fehlern des Gebers und machen es von gewissen Qualitäten er Eltern abhängig, ob sie die Eltern sein dürfen, ersetzen also das Nehmen durch Fordern und die Achtung durch Vorwurf… Es ist verrückt und eine völlige Verkehrung der Wirklichkeit. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Die Kinder bleiben untätig und fühlen sich leer.“ (Weber, 62)

Jesus mag ich das nicht unterstellen. Allerdings ist das, was ich das Verblassen von Maria und Josef nenne, allein schon der Hybris jemandes geschuldet, der sich tatsächlich als Gottes Sohn stilisiert – und dem bzw. dessen unsäglichen Statthaltern es gelingt, eine große Erzählung geschichtsmächtig werden zu lassen, indem sie die Menschheit, das heißt jeden Einzelnen

„in jener orthopädischen Katastrophe fixieren, die ihn unfähig macht, sich zu entkrümmen und aus eigenen Kräften den abgebrochenen Kontakt mit dem guten Ganzen und seinem personalen Prinzip, dem brüskierten Gott, wiederherzustellen; sie … hängen folglich ganz von dem Entgegenkommen der anderen Seite ab. Dieses Entgegenkommen stellt sich ein Weltalter lang unter dem Titel der Gnade vor (Peter Sloterdijk, 2010, S. 111f.).“

Ich habe von Peter Sloterdijk hier unter anderem das Bild von der „orthopädischen Katastrophe“ übernommen, weil Körper und Seele gleichermaßen gesehen werden können als Ausdruck in einem nicht abschließbaren Prozess des Erwachsenwerdens; einer wohlverstandenen Emanzipation zu jener Individualität, die sich gleichermaßen begreift als Synthese aus dem was wir sind, durch Zeugung und Geburt einerseits, und dem, was wir hinzufügen andererseits. Das eine ist ohne das andere nicht zu denken – schlicht nicht vorstellbar.

Wie sehr dieser Gedanke sich selbst noch in Hellingers Betrachtung enthüllt, zeigt sich, wenn er meint:

„Was die Eltern am Anfang machen, zählt mehr, als was sie später machen. Das Wesentliche, das von den Eltern kommt, kommt durch die Zeugung und durch die Geburt. Alles, was dann folgt, ist Zugabe und kann auch von jemand anderem übernommen werden.“ (Weber, 63)

Bedienen wir uns noch einmal der Terminologie Peter Sloterdijks möchte man anmerken, dass die „Zugaben“ – von wem sie auch immer gewährleistet werden mögen – von jener Qualität sein müssten, die von der Bindungsforschung mit urvertraulicher Geborgenheit in der Gestalt möglichst liebevoller Zuwendung beschrieben wird: Zumindest dann, wenn wir die Erwartung hegen,

dass „ein korrekt funktionierender Referenz-Oszillator, sagen wir ein Bewusstsein menschlicher Qualität, sich weder ganz an die Welt als den Fremdreferenzpol verliert, noch ganz in sich selbst als den Selbstreferenzpol versinkt.“ (Sloterdijk, 131)

Der Sprung zurück zu Hellingers Einsichten findet hier durchaus eine (psycho-)logische Entsprechung:

„Ein Kind kann nur dann mit sich selbst im reinen sein und seine Identität finden, wenn es mit beiden Eltern im reinen ist. Das heißt, dass es beide nimmt, wie sie sind, und sie anerkennt, wie sie sind. Wenn einer der Eltern ausgeklammert ist, ist das Kind halb und leer, und es spürt den Mangel, und das ist die Grundlage der Depression. Die Heilung der Depression ist, dass der ausgeklammerte Elternteil hereingenommen wird und seinen Platz bekommt und seine Würde.“ (Weber, 63)

Ich möchte Psychologie gewiss nicht zu einer Psychomechanik verkürzen. Aber es gibt – zumindest für diejenigen unter uns, die selber Kinder haben, einen untrüglichen Selbsttest: Die Beziehung zu den eigenen Eltern – mit all ihren Stärken und Schwächen, mit all ihren Vorbehalten und Zurückweisungen, mit all den vermeintlichen und faktischen Kränkungen – spiegelt sich in der Beziehung zu den eigenen Kindern; in der Regel zunehmend und mit zunehmend markanter Ausprägung. Denn eines sollten wir nie vergessen. Die Individuation der eigenen Kinder ist und bleibt unvermeidbarer Weise ein Prozess mit und gegen die bedeutsamen Anderen (Helm Stierlin). Schauen wir unseren Kindern in die Augen und beantworten wir uns die Frage, ob wir zur jesuitischen Hybris neigen oder ob wir begreifen, dass wir uns verdanken, so wie sich unsere Eltern gleichermaßen wie unsere Kinder verdanken - in einem unaufhebbaren, unauflösbaren systemischen Zusammenhang. Mit dieser Einsicht lässt sich kraftvoll und selbstbewusst ins Leben gehen – auch in ein Leben, in dem wir erfahren werden, ob unsere Kinder uns als hilfreich erleben oder als strukturelle Behinderer.

Wer bis hierher gelesen hat, wird vielleicht - wie ich selber - noch den Fingerzeig zur richtigen Weihnachtsgeschichte vermissen. Den hat mir soeben Gregor Thaler alias Wotan Wilke Möhring in seiner Weihnachtspredigt als Münchner Pfarrer in dem Film: "Obendrüber, da schneit es" vermittelt. Wenn schon nichts so bleibt, wie es ist, dann muss auch nichts so bleiben wie es ist, wenngleich es das Zentrum unserer Sehnsüchte ist, dass doch wenigstens all das so bleiben möge, wie es ist, weil es gut ist, so wie es ist, und weil es die Kraft hat uns zu versöhnen mit unseren Sehnsüchten.

Und so komme ich zurück auf das, was das kostbarste Juwel unserer menschengemachten Welt bleibt: die liebevolle Zugewandtheit in all ihren Färbungen - vom tiefsten, glühenden Rot leidenschaftlicher Liebe, dem Eros gehorchend (zugegeben - dies sprengt das, was wir unter liebevoller Zugewandtheit verstehen, vollkommen. Es ist zugleich so viel mehr und so viel weniger!). Natürlich ist im Kern die feine, beständige Glut gemeint, an der sich jedes Feuer (wieder) entzünden lässt. Es ist die Wärme gemeint, die alles gedeihen und alles gedeihlich erscheinen lässt, die Zugehörigkeit und Geborgenheit ineins setzt. Dass wir im Eros zuweilen auch zu verglühen drohen, sollten die meisten von uns überstehen.

Dass Menschen allerdings erfrieren am kalten Herz genauso wie an kalten Füßen - dies zu verhindern, obliegt unserer unreigensten Verantwortung. Es gibt dabei kein ursprünglicheres und nachhaltigeres Feld menschlicher Begegnung als die zwischen Eltern und Kindern - eingedenk der Tatsache, dass der starting point im besten Fall der Glut leidenschaftlicher, erotischer Begegnung, ja Verschmelzung entspringt. Gleichwohl und trotz allem, sind Kinder in der Welt, beginnt ein neues Spiel. Wir begegnen uns selbst in all unserer Liebesfülle, in all unserer Beschränktheit, in all unserer Garstigkeit, in all unserer Fehlbarkeit. Aber selbst, wenn wir gefehlt haben, und wenn wir anderen unterstellen gefehlt zu haben: Nichts muss so bleiben, wie es ist oder wie es scheint. Wir haben die Kraft zur Versöhnung und die Begabung zum Ausgleich. In uns allein wird Gott Mensch und der Mensch allein lässt Göttliches erahnen.

Wenn Dietrich Bonhoeffer betet:

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem Tag!

dann ist gewiss, dass der Mensch mit Gott ist. Zu Bonhoeffers Zeit waren wenige Menschen mit Gott. Aber woran sollten wir unsere Hoffnungen knüpfen, wenn es sie nicht gegeben hätte und wenn es sie nicht heute noch gäbe?

 

Quellen:

Gunthard Weber: Zweierlei Glück, 9. Auflage, Heidelberg 1999

Peter Sloterdijk: Luhmann, Anwalt des Teufels, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010

 

Der vollständige Text Dietrich Bonhoeffers:

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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