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Der letzte schöne Tag - Impressionen und ein Legitimationsversuch

Der letzte schöne Tag von Johannes Fabrick mit Wotan Wilke Möhring, Matilda Merkel, Nick Julius Schuck und Julia Koschitz ist ein Spielfilm auf der Grundlage des Drehbuchs von Dorothee Schön. Zu diesem Film habe ich mich im Januar 2015 bereits geäußert (siehe vorstehenden Link). Inzwischen habe ich ihn zum siebten Mal im Rahmen meines Seminars Grenzsituationen gezeigt. Es sind Seminararbeiten und eine Bachelorarbeit entstanden. Nach wie vor bin ich der Auffassung, dass die von Herbert Gudjons 1996 vertretene These vom "Verlust des Todes in der modernen Gesellschaft" im Kontext dieses Films - eingebettet - in die Seminarstruktur erstens überzeugend illustriert und zweitens durchaus gehaltvoll aufgearbeitet und diskutiert werden kann.

Der heutige Beitrag verdankt sich einem weiteren Motiv, dass mit meiner eigenen Lebens- und Familiengeschichte zusammenhängt. Im Hintergrund spielt die Frage eine Rolle, warum ich mich selbst so intensiv mit diesem Themenkomplex auseinandersetze, und ob es nicht irgendwann einmal genug sei; eine Frage, die durchaus im (erweiterten) Familienkontext gestellt wird.

Aphorismen - oder noch prägnanter Trinksprüche - verdichten und reduzieren Erfahrungen im besten Fall auf Wesentliches. So eröffnet der geschätzte Kollege Reinhard Voß ein geselliges Miteinander häufig, indem er dazu ermuntert auf das Leben, die Liebe und den Wahnsinn anzustoßen. Ich erinnere dies hier insbesondere, weil in meinem Blog die Liebe - und nicht der Tod - mit Abstand die größte Aufmerksamkeit beansprucht. Die Liebe in all ihren Spielarten - grenzt immer auch an den Wahnsinn. Der Wahnsinn wird häufig dadurch befeuert, das Verliebte alle Endlichkeitsvorstellungen - zumindest zeitweise - wahnhaft ausblenden. Andererseits wird uns allen unsere Sterblichkeit mit der rituellen Beschwörungsformel: Bis dass der Tod euch scheidet von Anfang an ins Bewusstsein eingeschrieben.

Dennoch überzeugen sowohl die These Herbert Gudjons' vom Verlust des Todes in der modernen Gesellschaft als auch seine Einsicht, erst unmittelbare Betroffenheit führe - wenn überhaupt - zu einer Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer.

Ein Jahr - oder zwei Semester - vor meiner Versetzung in den Ruhestand erscheint mir dies so überaus plausibel, weil die Grenzsituationen auch auf der Grundlage einer curricularen Legitimation, nämlich mit Studierenden Kommunikation in spezifischen Unterrichtssituationen zu erörtern, unter genau diesem Kontingezvorbehalt betrachtet werden kann.

Steht mein Seminarangebot zu Grenzsituationen im schulischen Kontext schon unter besagtem Vorbehalt, so zwingt uns Der letzte schöne Tag dazu, genau dieser Kontingenz gewahr zu werden; philosophisch gewendet lässt sich dies trefflich mit Odo Marquardts These erörten, wir alle seien weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl.

Meine persönliche Betroffenheit hängt mit dem Unfalltod meines Bruders zusammen. Im Zuge meiner Aufarbeitung des Vorlesers von Bernhard Schlink stieß ich auf eine Textstelle, die mir dies wieder blitzartig ins Bewusstsein hämmerte:

"Wenn bei Flugzeugen die Motoren ausfallen, ist das nicht das Ende des Flugs. Die Flugzeuge fallen nicht wie Steine vom Himmel. Sie gleiten weiter, die riesengroßen, mehrstrahligen Passagierflugzeuge ein halbe bis Dreiviertelstunde lang, um dann beim Versuch des Landens zu zerschellen."

Das Flugzeug, in dem mein Bruder saß, war ein viersitziges, einmotoriges kleines Fluggerät - auf dem Ozean würde man von einer Nussschale sprechen - das entgegen der Schilderungen von Bernhard Schlink wie ein Stein vom Himmel fiel, weil der Pilot im Gleitflug durch eine Kurskorrektur einen sogenannten Strömungsabriss riskierte und letztendlich auch auslöste. Das ist mehr als 22 Jahre her. Seine Großfamilie und seine Wahlverwandtschaft hielt den Atem an. In seiner Kleinfamilie fehlte fortan der Ehemann und der Vater - die Töchter acht und fünf Jahre alt. Neben all den mehr oder weniger Betroffenen erfuhren vier Lebensläufe im Sinne Niklas Luhmanns einen (in einem Falle finalen) Wendepunkt, an dem etwas geschehen war, was nicht hätte geschehen müssen.

Das Kontingenzauslösende und -bestätigende Geschehen verführt bis zum heutigen Tag zu Grübeleien darüber, warum der Pilot nicht den erforderlichen und zwingend vorgeschriebenen Check des Logbuchs vorgenommen hat und die abends zuvor noch bewegte Machine vollgetankt hatte; warum er in der Nähe von Landhut bei Kaiserwetter die Maschine nicht auf flachem Feld zur Notlandung brachte? Und der Gipfel solcher Grübeleien hängt mit der Frage zusammen, ob bei dieser Entscheidung womöglich vollkommen sachfremde Motive eine Rolle gespielt haben mögen - zum Beispiel die Tatsache, dass jemand, der eine Lizenz als Fluglehrer beantragt hatte, um jeden Preis der Rechtfertigung entgehen wollte, eine irreguläre NotLandung begründen und rechtfertigen zu müssen. Der Nachweis oben angedeuteter Versäumnisse hätte zwangsläufig zur Folge gehabt, niemals mehr in den Besitz einer solchen Lizenz zu gelangen. Und schon sind wir inmitten eines Versuchs, die heil- und letztlich sinnlosen Konsequenzen des Geschehens ungeschehen machen zu wollen.

Immerhin hat mich Karl Otto Hondrich für die feine Unterscheidung sensibilsiert, die er darin sieht, jemanden in seinen Lebenslauf zu integrieren, der tot ist - ihn womöglich in in einer Haltung der Wertschätzung zu ehren und sich eine Erinnerung zu bewahren, in der der Vater ein geschätzter Vater bleiben kann. Eben so ganz anders als jemand, der zum Beispiel im Prozess der Trennung/Scheidung nicht davor zurückschreckt, die eigenen Kinder zu instrumentalisieren und in ihnen den einstmals geliebten Partner abzuwerten, gar (sozial) zu vernichten, so dass die Betroffenen Kinder - je jünger sie sind - um so mehr Mühe haben für sich selbst halbwegs ganz und rund zu werden!

Eines der Schlüsselmotive im letzten schönen Tag resultiert aus der Unterscheidung von Unfalltod und Suizid: Lars Langhoff, der Ehemann von Sybille, meint, es entstehe immer ein Bruch "zwischen dem Leben davor und danach". Aber während bei einem plötzlichen Unfalltod möglicherweise "davor alles okay war", werde einem bei einem Suizid selbst diese tröstliche Perspektive genommen:

"Die Zukunft, wie ich sie mir vorgestellt habe, ist nicht mehr - und die Vergangenheit auch nicht. Bei einem Selbstmord ist plötzlich nicht nur das Leben danach, sondern auch davor nicht mehr okay... Wer war Sybille eigentlich? Habe ich sie eigentlich wirklich gekannt? Ich hab kein Vertrauen mehr... nicht in andere und vor allem nicht mehr in mich selbst."

Das mag nur eine Nuance sein, und auch nach einem plötzlichen Unfalltod mag man sich fragen, wer der andere eigentlich war. Der Spontanreflex von Lars Langhoff - unterstützt durch seine Schwester Ruth - läuft aber unmittelbar darauf hinaus, die Kinder doppelt zu schützen:

"Am besten läuft alles so normal wir möglich. Schule, Sport - die Kinder dürfen jetzt auf keinen Fall das Gefühl haben, dass alles auseinanderbricht."

Dass dieser Schutzreflex ins Leere läuft, hängt letztlich damit zusammen, dass jeder Suizid eine besondere Ausgangslage schafft. Im Gespräch mit dem Pfarrer, der die Beisetzung vornehmen soll, wird dies besonders klar:

Pfarrer: Herr Langhoff, nicht das sie denken ich will ihre Frau nicht beerdigen. Die Zeiten, in denen die Kirche Selbstmörder verdammt hat sind vorbei. Trotzdem glaube ich, dass es Gründe gibt, warum der Selbstmord ein gesellschaftliches Tabu ist und auch bleiben muss. Leidtragende sind doch die Hinterbliebenen. Sie und Ihre Kinder. Ich habe es immer wieder erlebt, was für ein verhängnisvoller Sog so ein Suizid für die Familien bedeutet. Das machen sich die Leute überhaupt nicht klar, die sich für die aktive Sterbehilfe einsetzen.  
Lars: Wie, wie meinen Sie das?  Pfarrer: Durch so eine Tat wird eine Tür geöffnet und die kriegen sie nicht wieder zu. So kann ein Selbstmord den nächsten nach sich ziehen und ich glaube nicht, dass die Gene daran schuld sind. Das ist der Tabubruch der da wirkt."

In einer Zusammenfassung empirischer Studien zur Bedeutung von Elternverlusten in der Kindheit bei depressiven und suizidalen Patienten kommt Bernhard Bron bereits 1991 zu dem Ergebnis, dass "der pathogene Einfluss des Suizids eines Elternteils im Unterschied zu Elternverlust durch Krankheit oder Unfall besonders hoch einzuschätzen ist." (Bernhard Bron, in: Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat., 40/1991, S. 322-327) Bron zieht aus der Analyse vorliegender Studien die Schlussfolgerung, dass aus Verlusterfahrungen resultierende Belastungen um so weniger gravierend sind als Unterstützung durch Freunde, Lehrer und durch liebende und/oder kompetente Erwachsene in oder außerhalb der Familie erfolgt.

In der ersten kurzen Aufarbeitung des letzten schönen Tags habe ich meine Begeisterung über die Leistung des Schauspielerensembles geäußert. Wenn die Prozesse um die Phänome Tod, Trauer und Sterben in der modernen Gesellschaft - wie Gudjons behaupetet - mehr und mehr der unmittelbaren individuellen Wahrnehmung entzogen werden, dann lassen wir uns vielleicht umso mehr beeindrucken von der gelungenen Inszenierung entsprechender Spielhandlungen. Wir erleben dann vielleicht - abhängig von unserem eigenen Erfahrungshintergrund - das uns eine gewisse innere Bewegung erreicht, die uns möglicherweise fremd ist oder für die uns die unmittelbare eigene Erfahrung fehlt. Empathie und Perspektivenübernahme ermöglichen im besten Fall eine nachhaltige und konstruktive Auseinandersetzung. Andererseits mögen solche Inszenierungen aber auch zu befremden, wenn uns entsprechende Zugänge fehlen. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit dem emotionalen Zusammenbruch des von Wotan Wilke Möhring verkörperten Lars Langhoff. Möhring führt dazu selbst aus:

"Es ist tatsächlich ein völliger Zusammenbruch. Ich denke in solchen Situationen nicht mehr darüber nach, wo die Kamera steht, wie es aussehen könnte, ob es vielleicht over the top ist - das ist mir in diesem Moment alles egal. Da bahnt sich dieser aufgestaute Schmerz seinen Weg. Es ist alles echt, nur ohne die Konsequenzen. Und deswegen kann ich darüber gar nicht groß reflektieren, es passiert."

Johannes Fabrick, der Regisseur kommentiert die Szene als außenstehender, gleichwohl professioneller Beobachter, nüchtern und in wertschätzender Haltung folgendermaßen:

"Wir haben diese Szene mit mehreren Kameras und nur einmal gedreht. So was ist nur echt, wenn der Schauspieler tatsächlich als Mensch tief in den Schmerz geht und dann versucht, ihn zu unterdrücken - bis es eben nicht mehr geht. Wotan versteht das, und er hat die menschliche Größe, sich darauf einzulassen [...] Der schlechte Schauspieler versucht möglichst emotional zu sein. Was dabei herauskommt, ist meist melodramatisch und kitschig. Dem echten Menschen kommen seine Gefühle ja meistens in die Quere. Er will funktionieren und nicht emotional sein, doch in manchen Situationen scheitert er. Nicht er hat dann Gefühle, die Gefühle haben ihn. Und genau so muss es Filmfiguren gehen. Dann verkörpern sie echte Menschen."

Zweifellos thematisiert der Film auf besondere Weise und zugespitzt all die Phänomene, die wir theoretisch und fallbezogen erörtert haben:

  • In der Figur des Lars Langhoff den um Kontrolle, Fürsorge und liebevolle Zuwendung bemühten Vater, der kurzfristig verzweifelt an den komplexen, letztlich nicht mehr händelbaren Anforderungen: beruflich zu funktionieren, den Erhalt der Familie zu garantieren, den Kindern ein guter, liebevoller, fürsorglicher Vater zu sein - und bei alledem den völlig veränderten, auf den Kopf gestellten Alltag (inklusive der bevorstehenden Beerdigung) zu managen.
  • In der Figur der Sybille Langhoff die an Depressionen leidende Mutter und Ehefrau, die gleichzeitig um ihre berufliche Existenz kämpft. Dabei erleidet sie offenkundig das Schicksal vieler unter Depressionen leidender Menschen, nämlich dies einerseits - um ihrer beruflichen Reputation willen - verheimlichen zu müssen. Andererseits leidet sie selbst, so wie ihr Ehemann und die Kinder in einer Atmosphäre des Schweigens unter den innerfamiliären Auswirkungen dieser Krankheitsgeschichte. Der Ausbruch von Lars Langhoff steht stellvertretend für die recht ausweglos erscheinende Krise des Paares und die Auswirkungen auf die innerfamiliären Beziehungen insgesamt.
  • Wir gewinnen einen Eindruck von den unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken und den jeweiligen Möglichkeiten der Auseinandersetzungen mit Verlusterfahrungen, wie sie für Kinder (Piet) und Jugendliche (Maike) mehr oder weniger typisch sind.
  • Der "Leichenschmaus" kolportiert auf eindrucksvolle Weise das gesamte Spektrum der Stereotype und Vorurteile, deren filmische Inszenierung uns vertraut und befremdlich zugleich vorkommt. Dass damit Sozialisationswirkungen verbunden sind, die sich schließlich habitualisieren, zeigt sich an den lapidaren und wie selbstverständlich daher kommenden Äußerungen von Johanna, Maikes bester Freundin, die als Vierzehnjährige bereits in der Lage ist, Maike zu erklären, wie Beerdigungsrituale funktionieren, aber auch, dass ein mögliches Doppelleben von Maikes Vater nichts Ungewöhnliches sein müsse, sondern durchaus gesellschaftlichen Konventionen entspreche.

Ein meinerseits schon mehrfach betonter Konstruktionsfehler des Films beruht auf dem Eindruck, dass er zuviel will: Das Zeitfenster (die erzählte Zeit) ist auf eine knappe Woche begrenzt - von der Entdeckung des Suizids (montags) bis zur Beisetzung (samstags). In diesem ultrakompakten Zeitabschnitt werden nicht nur die Ereignisse - je aus den individuellen Perspektiven der Hauptakteure - erzählt, sondern Dorothee Schön und Johannes Fabrick suggerieren mit ihrem Plot einen Spannungsbogen, der tatsächlich unmittebar nach der Beerdigung den Neubeginn schon inszeniert. Dies ist aus meiner Sicht einer unbotmäßige Vorwegnahme - sozusagen die Beschleunigung eines Prozesses -, der ungleich mehr Zeit beansprucht (siehe Thomas Janssen-Hochmuth oder auch die Protagonisten aus Trauerland).

Gleichwohl - und dies wäre hier zu diskutieren - halte ich den Film für überaus geeignet, all die angesprochenen Fragen gehaltvoll zu diskutieren; nicht zuletzt die Frage zu erörtern, ob es zur Vorgehensweise von Lars Langhoff und Frau Dubischeck, der Klassenlehrerin von Piet, Alternativen gibt.

 

 

 

 

 

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund