Das Herz (der Verstand) hat seine Gründe, welcher der Verstand (das Herz) nicht kennt (5)
Wer an dieser Maxime Pascals bislang gezweifelt hat, wird sicher über die vorstehenden Schilderungen ins Nachdenken geraten sein. Ja, in der Tat sind es nicht Gründe, die das Herz bevölkern. Wie George Steiner meint „sind es Notwendigkeiten gänzlich anderen Ursprungs. Jenseits der Vernunft, jenseits von Gut und Böse, „jenseits der Sexualität, die selbst auf dem Höhepunkt der Ekstase ein so unbedeutender und flüchtiger Akt ist.“
Der weiter oben geschilderte Husarenritt des Chronisten im aufbrechenden Frühjahr 1979 ist nichts anderes als ein gewaltiges Zeugnis für die Steinersche Hypothese. Der gewaltsame Einbruch in die Wohnung Claudias markiert eine folgenreiche Zäsur. Sie zeigt einen verrückten und liebesblöden Kerl, dessen Handeln sich nicht mehr um moralische Kategorien schert. Gut und Böse als mögliche Imperative bzw. Regulative werden von pragmatischen, zielorientierten Überlegungen mehr und mehr relativiert. Immer noch gebieten Scham und Respekt, den (die) Namen derer, die in den nunmehr zu schildernden unleugbaren Vabanque-Spielen nolens-volens – häufig unfreiwillige – Mitakteure waren, nur in Abkürzung bzw. Verfremdung anzudeuten. Die epochemachende – wenn auch heute umstrittene – von Alexander und Margarete Mitscherlich in den sechziger Jahren veröffentlichte Schrift „Die Unfähigkeit zu trauern“ (zuerst München 1967) bezieht sich zwar auf die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Dritten Reich. In ihrer zentralen These geht sie von der Weigerung aus, die Vergangenheit wahrzunehmen und zu verarbeiten, das heißt, Trauerarbeit zu leisten. Der Begriff der Trauerarbeit ist umstritten. Was hingegen im vorliegenden Zusammenhang damit angesprochen wird, nämlich die Weigerung eigene schuldhafte Verstrickung überhaupt einräumen zu können, gilt – cum grano salis – in allen Lebenszusammenhängen.
Der Schreiber bewegte sich vom März 1979 an in einer radikalen Haltung der Verweigerung, weil das Trennungsgeschehen, das er initiierte, für ihn einerseits alternativlos war, andererseits in seinen einzelnen Handlungen, Versäumnissen und Geschehnissen aber auch all die Verstrickungen offenbarte, die ein solches Trennungsgeschehen manchmal begleiten. Dazu wusste sich der Chronist dieser Geschehnisse nicht zu verhalten. In Briefen und auch in seinen mündlichen Verteidigungsreden beharrte er entschieden darauf, dass Trennungen eben vorkommen, dass sie – und seien sie noch so schmerzhaft und belastend – zum normalen Weltgeschehen dazu gehören. Und ganz gewiss hätte er damit auch uneingeschränkt Recht behalten, wäre seine Lebensgefährtin – immerhin über sieben Jahre – in der Dynamik dieses Trennungsgeschehens nicht lebensbedrohlich erkrankt. Schon im Mai 1979 wurde eine Krebserkrankung diagnostiziert, die zu einer Notoperation führte. Hier muss die Umkehrung der Maxime Blaise Pascals herhalten, um deutlich zu machen, dass allein der Verstand Gründe in Fülle hat, die dem Herzen fremd bleiben und ihm jeden machtvollen Einfluss verwehren.
(Das Leben ist voller Rätsel: Was ist Liebe? Was ist Verstand? Was ist Leben? Was ist Existenz? Was ist Schuld? Wie entstehen diese? Wo kommen sie her? Was ist unsere Seele? Die tiefgründigsten Geheimnisse sind jene, die wir am besten kennen, weil wir sie in unseren jungen Jahren kennenlernen und für den Rest unseres Lebens als selbstverständlich angesehen haben. Wir begegnen ihnen täglich, doch wir vermögen sie nicht zu enträtseln oder mit unserem Wahrnehmungsvermögen zu erfassen – kabbalistische Weisheiten – Kabbala als die Lehre des Geheimen)
Es soll an anderer Stelle berichtet werden, dass diese Klemme – sich zu den Geschehnissen der Trennung von meiner damaligen Lebensgefährtin nicht angemessen zu verhalten – über zwei Jahrzehnte Bestand hatte, und welch simple Veränderungen dazu beitrugen, ihre Auflösung zu befördern.
Wenn wir nun schon an der biografischen Weggabelung angekommen sind, an der sich einerseits moralische Kategorien relativierten, so bedeutet das andererseits keineswegs, dass sie sich auflösten. Die Klemme im Frühjahr 1979 bestand vor allem darin, aufzubrechen in eine neue Welt und gleichzeitig die Frage zu beantworten, wie man die neu entstehende Bindungsdynamik beherrschen oder doch zumindest bezähmen könnte. Eine Vorwegnahme sei gestattet und drängt sich ja selbstredend auch auf, weil schon die Rede war vom bevorstehenden Fürsorglichen Finale. Das Frühjahr 1979 war also der Auftakt zu einem gemeinsamen Aufbruch, dem im Juni 2021 die Rubinhochzeit winkt. Und kurz vor dem Siebzigsten erfindet sich niemand mehr neu. Er hat vielmehr Mühe – wenn er sich schon der Mühe unterzieht Geschichten aufzuschreiben –, nicht in verlockenden Inkonsistenzbereinigungsprogrammen heillos unterzugehen, sondern letzte Reste von Glaubwürdigkeit und Authentizität zu retten. In einem ersten Gespräch über diese Aufzeichnungen mit einem langjährigen Freund, kamen wir auf die Schwierigkeiten zu sprechen, erstens die Frage redlich zu beantworten, wen all dies hier überhaupt interessieren könnte? Zweitens, wen es überhaupt etwas anginge? Und drittens, ob man nicht um des lieben Friedens willen sowieso den Blick viel besser nach vorne richten, und die Vergangenheit (endlich) auch Vergangenheit sein lassen sollte! Und mehr noch stellt die Frage, ob genau diese letzte Empfehlung nicht so etwas sei, wie die Überlebensgarantie für so viele, die beim Betrachten ihrer Vergangenheit ohnehin zu Totstellreflexen neigen (müssten)! Die heute alltäglichen Konstellationen von Familiengeschichten enthalten zuhauf jene Zutaten, die sich auch rückblickend nicht mehr zur Zubereitung eines schmackhaften Menüs oder auch nur einer Notspeisung eignen. Und der ein oder andere mag dann vielleicht ins Grübeln geraten:
So vielen bist Du gleichgültig, und so viele sind Dir gleichgültig geworden. Beziehungen sind flüchtig, waren immer nur Episoden und dort, wo sie Generativität nicht verhindern konnten, hast Du Deine Kinder aus den Augen verloren; Du bist ihnen fremd, und sie sind Dir fremd. Deine Enkel beginnen irgendwann zu fragen: wer sind wir, wo kommen wir her, wer ist uns vorausgegangen? – manchmal zu spät. Den Aspekt der Flüchtigkeit hat kaum jemand eindrücklicher auf den Punkt gebracht als Botho Strauß – hier ohne generative Relevanz, was die ganze Sache auf lange Sicht – auf die lange Sicht des Botho Strauß erträglicher macht: "Ich sah aus dem Auto in einer Passantenschar, die, die Kreuzung überquerte, die geliebte N., mit der ich - einst! seinerzeit! damals! - gut drei Jahre lang die gemeinsamen Wege ging, sah sie über die Fahrbahn schreiten und auf irgendeine Kneipe zuhalten. Ihr Kopf, ihr braunes gescheiteltes Kraushaar. Und das ist diesselbe, die ich im Tal von Pefkos auf Rhodos, als wir von verschiedenen Enden des Weges über die Felshügel einander entgegengingen, so bang erwartet habe, in Sorge es könne sie jemand vom Wegrand her angefallen und belästigt haben, da sie nicht und nicht erschien am Horizont. Das ist dieselbe Geliebte. Im halben Profil flüchtig erblickt, indem sie dahinging und ich vorbeifuhr. Mir ein unfaßliches Gesetz, das so Vertraute wieder in Fremde verwandelt. Verfluchte Passanten-Welt!"
Botho Strauß verflucht die Passanten-Welt. Er war – als er dies schrieb – noch ein relativ junger Mann. Blickt man als alter Mann zurück, ist man weniger versucht – oder auch nur geneigt – die Passanten-Welt zu verfluchen. Sieht man doch eindrücklicher und nachhaltiger die eigene Rolle in der Passantenschar. Und so mag es eben vorkommen, dass eine Schülerliebe all die Verheißungen nicht erfüllen konnte, die man sich im Aufbruch ausgemalt hatte. Der Verschleiß, der da früh einsetzt, ist dann gleichermaßen den eigenen Illusionen wie den eigenen Unfähigkeiten geschuldet. Früh schon bemerkt der Schreiber, dass er sich wieder einmal in die Gefahr begibt, das Erzählen weitgehend zu verfehlen; aus purer Angst und aus ehrlichem Respekt gegenüber den Beteiligten. So bleiben die Schilderungen Andeutungen, die aber aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hineinreichen in die Gegenwart. Sie erinnern erstens an die Altlasten einer verfehlten Erziehung und vor allem an einen Zeitgeist jenseits von Aufklärung, Emanzipation und sexueller Befreiung. Und sie erinnern bis heute an die ungelösten Herausforderungen, die Susanne Gaschke um die Jahrtausendwende folgendermaßen umschrieb:
„Auch die Familien der Zukunft werden drei traditionelle Probleme bewältigen müssen: Es sind dies die verlässliche Regelung der Kindererziehung, die Fürsorge für alte Eltern und die bis heute ungelöste Frage, wie mit der Eintönigkeit exklusiver Bindungen einerseits und der Eifersucht andererseits umzugehen sei.“
Dass die Welt in Bad Neuenahr relativ heil geblieben war – mit Blick auf die von Susanne Gaschke angesprochenen zu bewältigenden traditionellen Probleme – verdankte sich schlicht einer Reihe von Zufällen. Für die in den zwanziger Jahren auf dem Land Geborenen stellten sich die Rollenzuweisungen weder im familialen und noch viel weniger im Zusammenhang mit einer sexuellen Identitätsbildung als irgendwie optional dar. Und ich schreibe es dem Zufall zu, dass die Fürsorge für alte Eltern bei uns nur noch gegenüber den Eltern der Mutter erforderlich war. Und es war Zufall, dass Vater und Mutter schon als Kinder Hausbacke an Hausbacke in der Kreuzstraße wohnten, so dass Fürsorge und Pflege perfekt zu organisieren waren. Und auch die Rollenverteilung ergab sich – gewissermaßen wie von selbst –, da Hilde die ältere der beiden Töchter war. Meine Oma starb 1968 und mein Opa 1970 – jeweils nach etwa halbjähriger Pflege bis zum Tode und vor allem zu Hause. Mein Vater hatte die Hosen an, und meine Mutter trug die Röcke, die dem Vater genehm waren, womit keineswegs gesagt ist, dass im ehelichen Zusammenspiel die Hosenrollen auch immer nach diesem Muster vergeben waren.
Eine kleine Reminiszenz soll hier verdeutlichen, wie ein Jota Veränderung in der familialen Ausgangskonstellation in dramatischster Weise zu spannungsreichen Verschiebungen und unversöhnlichen Konflikten führen kann. Kaum lässt sich auch nur ahnen, wie sehr das Handeln und die Grundorientierung der Akteure vom Zeitgeist bestimmt wurden:
Von 1971 bis 1978 wuchs mir eine zweite Familie zu, die leicht auch zu meiner Schwieger-Familie hätte werden können. Dort, an der Mittelmosel, in einem traditionellen und konservativen Milieu, zeigte sich die strukturelle Gewalt, die aus festgeschriebenen Rollenzuweisungen entspringen kann, in aller Härte und Gnadenlosigkeit. Hier hatte das – meiner Erinnerung nach 1926 geborene – Familienoberhaupt nie einen Zweifel daran gelassen, dass er, der zur Waffen-SS gezogen worden und in französische Kriegsgefangenschaft geraten war, dort, in Frankreich, heimisch geworden war und nur zurückkam an die Mittelmosel, weil er sich seiner Mutter verpflichtet fühlte. Wie die Ehe zustande gekommen war, aus der eine zuerst eine Tochter und dann ein Sohn hervorging, entzieht sich meiner Kenntnis, die sich fast ausschließlich aus den Erzählungen des Vaters und eigenen Beobachtungen nährt. Was mir damals als recht brutale Haltung eines Patriarchen begegnete, erklärt sich vermutlich nur aufgrund des erwähnten Jotas Unterschied. Denn hier gab es nur noch die Mutter des Vaters, die Schwiegermutter der Mutter, die Mitte der siebziger Jahre ihren bis dahin selbstständig geführten Hausstand auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgeben musste und ein Zimmer im großen Haus des Sohnes zugewiesen bekam. Schwiegertochter und Schwiegermutter verstanden sich nicht, und die Mutter des vermutlich einzigen Sohnes, legte es immer wieder auf Machtkämpfe an, die zuletzt absolut unter dem lagen, was wir als Gürtellinie bezeichnen. In all diesen sieben Jahren haben die Eheleute einen einzigen gemeinsamen Urlaub in Langenargen am Bodensee verbracht. Für diese 14 Tage hatte die (Schwieger-)Mutter einen Platz in einem Altenstift des Nachbarortes. Das Ansinnen seitens der Ehefrau, dies sei doch vielleicht auch eine akzeptable Dauerlösung, führte zu einem erbitterten innerfamiliären Konflikt, bei dem sich die Tochter auf die Seite der Mutter stellte. Niemals zuvor und niemals danach habe ich ein einseitigeres Konfliktmanagment erlebt mit einer brachial durchgesetzten einseitigen Lösung. Die (Schwieger-)Mutter blieb in Abwendung einer unzulässigen Schande, die sich mit einer Heimunterbringung aus der Sicht des Vaters ergeben hätte, in der Familie. Enttäuschung, Wut, Hass, Machlosigkeit, Hilflosigkeit – all diese Empfindungen und Haltungen spiegeln die Ablehnung der Mutter wieder. Machtgebaren und Sturheit bis zur Bösartigkeit beschreiben die väterliche Demonstration von Deutungs- und Entscheidungshoheit. Mit Wut und Bitterkeit beantwortete die Tochter in dieser Phase die brachiale Machtdemonstration des Vaters. Meine eigene Verbindung zu dieser Familie endet 1978. Es mag wiederum der pure Zufall sein, dass meine damalige Lebensgefährtin sich entschloss, in dem Ort, in dem ich seit 1980 lebe, ein Haus zu kaufen. Ihre Mutter ist einige Jahre vor ihrem Vater verstorben, und die letzten Monate seines Lebens, der Pflege und Betreuung bedürfend, hat der Vater im Hause seiner Tochter verlebt. An solchen extremen Beispielen lassen sich die Bedeutung und die Eigendynamik von (innerfamiliär relevanten) Kategorien, wie Zeitgeist, Tradition, Konflikt, Ohnmacht, Geborgenheit, Bindung und Zugehörigkeit recht authentisch diskutieren.
Es gibt viele Mosaiksteine in meinem eigenen Leben, die dazu beigetragen haben, hinsichtlich der von Susanne Gaschke definierten drei Kardinalprobleme eine konservative Haltung einzunehmen. Aber vor allem auch die erinnerten, soeben geschilderten Konflikte haben sich tief in mich eingeschrieben und zeitlebens daran gehindert, in der Fürsorge sowohl für die Jungen als auch die Alten nur ein Jota Verantwortung zu delegieren. So werden viele der hier aufgeschriebenen Geschichten die Langeweile in der langen Weile widerspiegeln, einzig lesenswert vielleicht durch die mehr oder weniger gelungene Art des Erzählens.
Kehren wir zurück in den Frühling 1979 – die Zeit des Aufbruchs und des Niedergangs. Dass eine neue Liebe wie ein neues Leben sei, diese massenwirksame Kollektivhypnose verfing auch zu Zeiten des geschilderten Wahns Ende der siebziger Jahre nicht mehr wirklich. Vier Männer (in mir) – dieses Gedicht ist zwar erst gut 20 Jahre später in mir gewachsen. Die zeitliche Differenz signalisiert denn auch eher die Tatsache, dass es Abstand braucht, um die Zusammenhänge trennschärfer wahrnehmen und einordnen zu können. Im Alter von Mitte vierzig zeigen sich denn auch die illusionsgeschuldeten Verirrungen im Selbstbild auf brutale Weise. Sie springen einem nicht nur schreiend ins Gesicht, sondern sie sind vielmehr einer Lebenspraxis geschuldet, die mit Feuer und Schwert den Schwachsinn der frühen Jahre beiseite fegt. Und auch wenn das Gedicht in seiner Sprache um Kultivierung bemüht ist und eine gewisse Verklärung der Zusammenhänge nicht leugnen kann, offenbart es doch, dass die Ereignisse im Frühjahre 1979 in ein Vorher und ein Nachher eingebettet sind: