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Kann man noch verrückter sein als Walter Kempowski? Der Visionär aus Nartum

Nein, kann man nicht! (Vielleicht kann man doch, wenn man Sascha Lobo heißt und gerade eben bemerkt, dass Visionäre in der Regel auf dem Holzweg wandeln). Aber Walter Kempowski würde sich sicherlich freuen, wenn er sehen könnte, was ich hier mache! Volker Hage erinnerte an den "Visionär aus Nartum" vergangenes Jahr im SPIEGEL (14/2014, S. 110-111) anlässlich des Erscheinens von "Plankton. Ein kollektives Gedächtnis" (Knaus Verlag München; 832 Seiten; 49,99 Euro). Hage kannte Kempowski wohl persönlich:

"Er saß vor dem Monitor mit der Wachheit eines Fluglosten, der eine Maschine zur Landung dirigiert. Walter Kempowski war fasziniert von den Möglichkeiten, die sich für seine Arbeit mit dem Computer eröffneten."

Was würde der 2007 verstorbene Kempowski wohl zu den sich rasant erweiternden Speicher-, - Zugriffs- und Vernetzungsmöglichkeiten sagen, die sich heute mit erschwinglichen Kosten für jedermann und jedefrau beherrschen lassen?

"Der erste Computer - ein Olivetti ETV 260 - wurde im Mai 1987 angeschafft. Zuerst musste man lernen, mit dem Gerät umzugehen. Dann wurden damit Archivtexte für das spätere 'Echolot' erfasst, und erst nach und nach wurden auch andere Texte, etwa die 'Plankton'-Notizen, eingegeben, schätzungsweise ab 1988. So etwas machten wir immer zwischendurch, wenn Zeit war."

Kempowski hat - Volker Hage nach - begonnen mit dem zentralen Motiv "einer rein privaten Familienchronik". Selten zuvor habe sich ein Schriftsteller dermaßen intensiv auf Fotos, Briefe und Aufzeichnungen von Verwandten und Bekannten gestützt, auf Befragungen und Recherchen - vor allem über die für Kempowski nicht mehr erreichbare Heimatstadt Rostock. Walter Kempowski siedelte nach jahrelanger Inhaftierung im Zuchthaus Bautzen 1956 in die Bundesrepublik über. Das mit enormem Fleiß zusammengetragene Material - Kempowski setzte seine Mutter vor ein Tonbandgerät und ließ sie erzählen - füllte schließlich 45 gebundene Hefte, in die er - neben den Transkripten - Dokumente einmontierte; insgesamt nahezu 3000 Seiten, die heute im Kempowski-Archiv in Berlin aufbewahrt werden. Nach seiner ersten Veröffentlichung "Im Block" - eine Aufarbeitung seiner Bautzener Inhaftierung - folgten insgesamt sechs Romane seiner sogenannten "Deutschen Chronik" (u.a. "Tadellöser & Wolff"). "Haben Sie Hitler gesehen" (Befragungen von 300 Deutschen zu ihrem Hitlerbild) oder "Haben Sie davon gewusst" (Erinnerungen von Zeitzeugen an ihre Kenntnisse zur Judenverfolgung und zur Existenz von Vernichtungslagern) machten auch international Furore. Dabei arbeitete Kempowski hauptberuflich als Lehrer ("Immer so durchgemogelt").

Für mich persönlich von besonderer Bedeutung bleibt das "Echolot". Volker Hage nennt es das "Weltkriegs-Memorial aus Tausenden autobiografischer Zeugnisse". Und schließlich begann parallel jener Prozess, den Kempowski selbst als "Plankton fischen" bezeichnet hat; Antworten auf scheinbar triviale Fragen, die der Schriftsteller seit Anfang der sechziger Jahre Freunden, Gästen und Zufallsbekanntschaften gestellt hatte. Mit mehr als 800 Seiten liegt nun das aus dem Nachlass herausgegebene Ergebnis dieser Jahrzehnte umfassenden Befragungen vor. Kempowski selbst hat diesen Kraftakt in seinem Tagebuch auf eine überaus bemerkenswerte Weise kommentiert. Er gibt mir - als 63jährigem - ein ähnliches, ungleich bescheideneres Projekt verfolgend, noch einmal Klarheit über Motive und Grenzen solcher Bemühungen, hier in der Paraphrase von Volker Hage wiedergegeben:

"Kempowski notierte damals in seinem Tagebuch, es sei so, als ob mit seinem 'Echolot', der 'Bloomsday'-Collage und schließlich dem 'Plankton'-Projekt, 'die Literatur an eine Grenze gerät, von der aus oder an der sie umkehrt, zurückkehrt zum Geraune der Menschen am Feuer'."

Mit seinen letzten Visionen markierte Kempowski zugleich die Grenzen, die (s)einem Leben in seiner Endlichkeit gesetzt sind/waren. Seine visonären Phantasien fasste er unter dem Begriff der "Ortslinien" zusammen: "Seine Idee war, den Zeitraum von 1850 bis 2000 in einem Netz von Zitaten und Zeugnissen zu erfassen: mit Links, wie man heute sagen würde, zu historischen Ereignissen, Fotos, Filmen und Musikstücken."

Ja, mit links! Walter Kempowski - wäre er heute so alt wie ich - würde sein Vorhaben realisieren; mit den oben schon erwähnten sich galaktisch ausdehnenden technischen Möglichkeiten. Mir gibt dies zu denken. Ich will mich ungleich bescheidener definieren und verstehen; vor allem auch um jeglichen Schaffensdruck von mir zu nehmen. Vom Autor des "Bloomsday" (James Joyce) gleichermaßen inspiriert, ist es mindestens so spannend - wenn nicht faszinierender - die Introspektion voranzutreiben und so nicht die vielen Lebensläufe auszuloten, sondern der Vernetztheit Spuren zu entringen. Spuren, die sich als gewaltiges Oszillationsgeschehen zwischen Selbst- und Fremdpol offenbaren. Vielleicht hab ich ja noch ein paar Jahre!?

Über VERBOTENES - das BLOGGEN an sich - sowie über die veraltete Idee des Büchermachens - viel Spaß wünschen Adrian und Josef!

Und Walter Kempowski: "Mein Vater hat […] nie viel über seine Familie erzählt. Aber meine Mutter war dafür als Zeugin umso ergiebiger. Schon in Göttingen 1959 habe ich all ihre Geschichten auf Tonband genommen […]. Es ist unglaublich, wie eindringlich und farbig sie erzählte, sprachlich immer in Form. Wenn auch im Hinblick auf die Schwiegermutter vielleicht nicht immer ganz sachlich. Ihre Erzählungen waren besonders wichtig für meine Romane. Ich hätte sie ohne sie gar nicht schreiben können."
Jahre des Lebens [unveröffentlichtes Manuskript]

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund