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Freundschaft III - Ein Plädoyer gegen die Liebe?

Rudi und der Kehrbruderschaft gewidmet

 Den folgenden Anknüpfungspunkt kann man nur verstehen und einordnen, wenn man zuvor Freundschaft I und Freundschaft II gelesen hat. Vor wenigen Tagen bekam ich von Rudi einen Texthinweis, den er selbst offensichtlich der sporadischen Lektüre der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung verdankt: http://www.faz.net/-gun-7tw7r "Egoistische Zweisamkeit - Warum der Mythos der Liebe eine Lüge ist - Ein Plädoyer gegen die Liebe" (von Markus Günther). Rudi hat mir diesen Beitrag zukommen lassen zur "Vervollständigung meiner Textsammlung". Dafür danke ich ihm natürlich und nutze die Gelegenheit, einige offene Fragen aus Freundschaft I und II wieder aufzunehmen:

Aus Freundschaft II:

"'Das gemeinsame Essen ist Inbegriff des Zusammenlebens. Das Essen, Trinken und Zusammen-Reden mit dem Freund/den Freunden ist ein besonders vergnügliches Sichverständigen. Feste können die kultischen Höhepunkte der Freundschaft und gleichzeitiger Ausdruck gelingender selbstzwecklicher, zuverlässiger und beständiger Freundschaften sein (Arnold Retzer)." Die Kehrbruderschaft (die einen festen Orts- und Zeitrahmen setzt - immer wieder mittwochs -) pendelt hier zwischen summa cum laude und rite! Rudi erhält nur eine eingeschränkte TÜV-Plakette, weil er uns immer wieder nachhaltig davon überzeugt, dass Freundschaft auch bis ins hohe Alter von der Urgewalt des Eros verdrängt wird: Danach sind wir Männer in den erotischen Gravitationsfeldern nur Kometen, die ihren Kurs nicht selbst bestimmen können, sondern von der majestätischen Strahlkraft der tausend Sonnen bereits im Nanofeld auf kleinste Schwankungen im weiblichen Schwerkraftfeld hilflos nur reagieren (graduell sicherlich unterschiedlich ausgeprägt, gemessen an der als Absolutum geltenden nach oben offenen Rudi-Skala - eine Veröffentlichung der diesbezüglichen Parametrisierung in Nature ist in Vorbereitung). Deshalb vor allem gibt es die Kehrbruderschaft, damit Rudi, Hans, Frank I (zuweilen Frank II), Herbert und so manches kooptierte Mitglied (Ex-Schwager Ernst, Reinhard und fernere Planeten) ab und zu wieder Justierung erfahren in der wilden und mächtigen Schwerkraftwelt der Frauen."

Hier klingt einerseits ein gerütteltes Maß an Ironie - vielleicht sogar Sarkasmus - an. Es scheint so, als hätten wir Rudi an die Frauen verloren und als sei Rudi verloren unter Frauen. Rudi folgt - nach eigenen Aussagen und Einschätzungen - starken "genetischen" (väterlichen) Spuren, möglicherweise Zwängen, die ihn dazu veranlassen, sich in mehr oder weniger ausgeprägten Zeitrhythmen immer wieder neu zu erfinden. Alte Freundschaftsbeziehungen gehen dabei verloren, indem das Magnetfeld von Frauen übermächtig und Freundschaft beliebig wird. Rudi hat mich eingeladen, diese "Beobachtungen" mit den Thesen von Markus Günther auf den Prüfstand zu stellen.

Vorweg sei gesagt, dass der Beitrag von Markus Günther - wie er selbst andeutet - nicht "sine ira et studio" geschrieben worden ist, sondern ihn dazu veranlasst, dem Verdacht zu entgehen, dies sei möglicherweise den Umständen eigener, verglühender Liebesträume geschuldet:

"Wer den Liebeskult kritisiert, gilt entweder als herzloser Technokrat, unromantisch und gefühlskalt, oder man mutmaßt, dass er selbst wohl nicht die Richtige gefunden hat und deshalb anderen ihre glückliche Beziehung neidet. Wer darauf hinweist, dass Liebe eigentlich etwas ganz anderes ist, als die schrille, immer leicht überdrehte Liebe unserer Populärkultur, wer von caritas et amor spricht oder gar von Nächstenliebe, steht als Moralapostel und Wichtigtuer da. Oder er wird mit der Gretchenfrage der Moderne konfrontiert: 'Glauben Sie etwa nicht an die große Liebe?' Es ist also doch eine Glaubensfrage."

Ich möchte weder Rudi noch Markus Günther zu nahe treten. Aber mit Verlaub gesagt: Die hier thematisierten Zusammenhänge werden seit Jahrzehnten - wenn auch etwas verschämt - in sozialwissenschaftlichen Kontexten diskutiert. Für uns gehören sie unter die Rubrik: "Was man weiß - Was man wissen könnte". Der Diskurs tritt im Rahmen dieses BLOGS in breiter und differenzierter Form in Erscheinung und ist entsprechend dokumentiert. Der oben zitierte Abschlussgedanke von Markus Günther steht im Zentrum der Überlegungen von Julia Onken. Und die Dekonstruktion des Liebesmythos ist ein alter Hut, den sich - neben Eva Illouz (zuletzt) - vor Jahrzehnten schon Roland Barthes, Niklas Luhmann, Peter Fuchs und - massenmedial aufbereitet - Susanne Gaschke aufgesetzt haben. Sei's drum - versuchen wir es erneut mit Markus Günther:

  • Markus Günther rügt zu Recht ein Defizit schulpädagogisch schon lange im Raum stehender Erziehungs(an)gebote: 1993 formulierte Wolfgang Klafki bei einem seiner letzten Versuche "Allgemeinbildung heute" zu umreißen als eines der sieben Schlüsselprobleme, an denen sich die Schulpädagogik abzuarbeiten habe, die "Ich-Du-Beziehungen". Um normativ halbwegs verbindliche Orientierungsgrundlagen wird bis heute vergeblich gerungen - sicherlich zu Recht: Wie sollte eine multikulturelle Gesellschaft, die über keinen "Ort" - und erst Recht kein Zentrum - der Selbstrepräsentation oder Selbstvergewisserung mehr verfügen kann, verbindliche Hinweise (z.B. in der Schule über Unterricht) darüber vermitteln, wie das Feld der Intimität (die "Ich-Du-Beziehungen") zu gestalten sei: Früher oder später - so Markus Günther - würden die meisten Kinder in den Schulen über Ersatzreligionen aufgeklärt. "Das soll ihnen helfen, die Welt und die unsichtbaren Mächte, die in ihr wirken, besser zu verstehen. Und es soll ihre Widerstandskraft gegen gefährliche Heilslehren stärken. Sie lernen dann, dass man Stars nicht vergöttern soll und erst recht keine politischen Führer, dass ihre Begeisterung für den Fußball religiöse Züge annehmen kann, aber auch die für Geld, Karriere oder die eigene Fitness. Schade nur, dass die mächstigste Ersatzreligion, die wenig später im Leben dieser Kinder verhängnissvoll wirken wird, von den Lehrern mit keinem Wort erwähnt und vermutlich nur von den wenigsten Menschen überhaupt durchschaut wird: die Liebe. Genauer gesagt: jene Art von Liebe, ohne die kein Popsong und kein Film auskommt, diese eine große, wahnsinnig romantische Liebe, bei der zwei Menschen sich unsterblich ineinander verlieben, vor Lust und Freude fast den Verstand verlieren, wie im Rausch übereinander herfallen und ab dann einfach nur noch glücklich, glücklich, glücklich sind. Yeah!!!"
  • Alle, die den Zustand einer romantischen Verliebtheit erinnern bzw. gerade eben erleben, werden die folgenden, relativ nüchtern gehaltenen Beschreibungen erinnern bzw. nachvollziehen können (siehe dazu die an Arnold Retzer angelehnten Ausführungen in Freundschaft I):

    • Die Kommunikation in Liebesbeziehungen erscheint insofern höchstpersönlich, als alles, was einen der Verliebten/Liebenden betrifft, auch in der Kommunikation Berücksichtigung finden kann;
    • Eine Selektion findet nicht statt und Geheimhaltung ist nicht erlaubt, was aber – so Retzer – nicht heiße, dass sie nicht praktiziert werden kann und praktiziert wird. Selbst das, was nur vermutet werden könne, sei prinzipiell der Kommunikation zugänglich bzw. kommunikationswürdig;
    • Hemmung und Auswahl von kommunikationsfähigen Beiträgen sei minimalisiert. Die enge Koppelung von Erleben und Erzählen könne Phantasien beflügeln, die bis zur Vorstellung der Auflösung der trennenden Grenze zwischen Erleben und Erzählen gehe: Das Liebespaar komme sich vor wie ein Herz und eine Seele. Die Trennung zwischen Innen (dem Erleben) und Außen (der Kommunikation) scheine aufgehoben.

    Danach stellt das Liebespaar die höchstmögliche Steigerungsform persönlicher Kommunikation dar. Der Liebende könne dort erwarten, für alles, was ihn selbst betreffe, ein Ohr zu finden. Umgekehrt werde von ihm erwartet, für alles, was den Geliebten betreffe, ein offenes Ohr zu haben. Peter Fuchs (Ders.: Liebe, Sex und solche Sachen: Zur Konstruktion moderner Intimsysteme, Konstanz 1999) hat die binäre Ausgangslage WIR-ZWEI/REST-DER-WELT in der abstrakten, aber ungemein treffenden Formulierung einer „wechselseitigen Komplettberücksichtigung im Modus der Höchstrelevanz“ auf den Punkt gebracht.

    Im Gegensatz dazu würden in allen anderen Funktionssystemen mit gesellschaftlichen Aufgaben (incl. der Familie) nicht ganze Personen zum Gegenstand von Kommunikation, sondern jeweils nur spezifizierte Teilaspekte, meist bestimmte, für das jeweilige Funktionssystem brauchbare: In Funktionssystemen würden daher die prinzipiellen Möglichkeiten von Kommunikation nicht ausgeschöpft. Die Gesamtperson – so Retzer – nehme dort nicht an der Kommunikation teil. Während man sich in Liebesbeziehungen verpflichtet fühle, alle Möglichkeiten zu nutzen, sei man in Funktionssystemen dagegen verpflichtet, dies gerade nicht zu tun. Darin liegt wohl die tiefere Begründung für die Feststellung von Markus Günther, dass kein Gott und kein Himmel unsere Gegenwart so sehr überstrahle, wie der Mythos dieser Liebe. Seine Charakterisierung der moderenen Gesellschaft nimmt an dieser Stelle allerdings eine bemerkenswerte Wende. Er geht davon aus, dass dem immer wieder behaupteten Individualismus ein global uniformierter Lebensentwurf gegenüberstehe: "Der Weg zum Glück ist die leidenschaftliche Zweisamkeit, das einzige Ziel des Lebens ist es, Mr. oder Mrs. Right zu finden, und dann wird alles gut (und wenn nicht, fängt einfach wieder alles von vorne an - auch gut)."

  • "Und wenn nicht, fängt einfach wieder alles von vorne an - auch gut." Ja, auch gut! Oder nicht? Ja, was denn nun? Hat der Markus Günther diesen Beitrag nur verfasst, damit er Rudis Aufmerksamkeit erregt, und er sodann - sich meiner Obsession erinnernd - diesen Beitrag an mich weiterleitet, um ihn seinerseits dann auf diese Weise zurückzubekommen? Nun gut: Mit Markus Günther stelle ich dann eine letzte Frage, die mich selbst allerdings dazu anregen wird, meinerseits den Ansatz von Markus Günther gründlich zu hinterfragen: "Ist der Mythos der Liebe nicht wenigstens dazu gut, den Menschen aus seinem Egoismus herauszuführen? Ist die Sehnsucht nach Partnerschaft nicht immer noch besser als die Selbstsucht? Die Antwort lautet: Diese Art der Liebe ist nur scheinbar eine Überwindung der eigenen Grenzen: In Wahrheit handelt es sich um eine Fortsetzung der Ich-Bezogenheit mit anderen Mitteln, denn die Triebkraft, die wirkt, ist ja, wenn man ehrlich ist, gar nicht der Wunsch zu lieben, sondern der geliebt zu werden." Markus Günther fährt wahrlich mächtige Geschütze und Gewährsleute auf, "um die erotische Liebe als die trügerischste Form der Liebe zu entlarven: "Diese Art der Liebe ist in Wirklichkeit ein Egoismus zu zweit (Erich Fromm)." Die wichtigste Voraussetzung, einen anderen Menschen lieben zu können, meine Fromm, werde so gerade nicht geschaffen: die Überwindung des eigenen Narzissmus.

Mir geht die - im Kontext der FAS - nachvollziehbare normativ-moralisch orientierte Haltung von Markus Günther zu weit  - zumal sie perspektivisch in der Luft hängt. Es muss doch Rudi - wie allen anderen 3 x 6 alten  -und darüber hinaus - Erwachsenen - überlassen bleiben, ob sie einem romantischen Liebeskonzept auch noch bis ins hohe Alter folgen - vor allem wenn sie unter der Rubrik: "Was man weiß, was man wissen könnte" gut aufgestellt sind. Zugegebenermaßen ist dies bei ganz jungen Menschen nicht der Fall. Stärker als Popsongs wirken allerdings - hinsichtlich der habituellen Prägung - die beziehungsstiftenden Mustervorgaben im sozialen und vor allem im engeren familialen Kontext. Genau hier ist einer der ausgeprägten blinden Flecke in Markus Günthers Argumentation: Immerhin zitiert er die Philosophin Katharina Ohana:

"Es wird abgeblendet, bevor die Geschichten mit den Problemkindern, den sterbenden Eltern, dem eigenen Verfall und Verlust, der Arbeitslosigkeit, den Falten und Oberschenkeldellen kommen. Und unser Leben besteht - besonders ab 40 - zum großen Teil aus diesen Themen. Da wird es plötzlich ziemlich egal, was man für ein schickes Brautkleid getragen hat."

Ja, in der Tat. Es reicht nicht - lieber Markus Günther - alleine den starting point so vieler Beziehungen zu desavouieren und mies zu reden. Vielmehr kommt es darauf an, den Aufklärungsimpetus in einer Perspektive zu entfalten, wie es meinetwegenKarl Otto Hondrich und Arnold Retzer getan haben. Und überhaupt: Die romantische Liebe ist sicherlich eines der wenigen Phänomene, die sich tatsächlich nur erfahrungsabhängig und -gebunden erschließen. Kaum irgendwo anders gilt das Wort, dass der Blinde nur unzureichend über die Farben und der Taube nur bedingt über Wohl- und Missklang der Töne zu reden vermag. Aber ich unterstelle einfach den legitimen Urimpuls, davor warnen zu wollen sich in der romantischen Liebe zu verlieren und in ihr sozusagen ein sinnerfüllendes Lebensziel zu sehen.

Vielleicht lässt Markus Günther seinem Beitrag ja einen zweiten folgen, in dem er Katharina Ohana weiter folgt und vielleicht mit Arnold Retzer die Idee auslotet, wie sich über eine sich einstellende "resignativen Reife" sogar eine im Modus der "romantischen Verliebtheit" gestartete Liebesbeziehung zu einer gediegenen "Partnerschaft" oder vielleicht zu einer "Liebesfreundschaft" entwickelt bzw. aufschwingt. Susanne Gaschke hat bereits 1999 ausgelotet, ob und wie "arrangierte Beziehungen" vielleicht die besseren Aussichten hätten sowohl ein wenig wechselseitige Komplettberücksichtung als auch die Verantwortung und Sorge für die eigenen Kinder und (alten) Eltern auf Dauer zu stellen. Markus Günther müsste mir schließlich noch die Frage beantworten, wie Kinder denn überhaupt noch in die (post-)moderne Welt kommen, in der sie dann aufgeklärt werden müssen über die Versuchungen und Verlockungen der romantischen Liebe. Denn der Weg zurück in frühe Menschheitskulturen, in denen Männer und Frauen noch in getrennten "Dörfern" wohnten und nur zuweilen und zu Vermehrungszwecken zusammenfanden (Peter Fuchs), scheint uns einstweilen verstellt.

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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