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Heinrich August Winkler: Warum es so gekommen ist - Erinnerungen eines Historikers

2025 veröffentlicht Heinrich August Winkler eine tour de force - anders kann ich es nicht nennen -, die in vielfacher Hinsicht überaus aufschlussreich ist (Warum es so gekommen ist - Erinnerungen eines Historikers, C.H. Beck, München 2025). Ich beginne heute mit dem, was für Lebensläufe fundamental ist. Heirich August Winkler, der am 19. Dezember 1938 das Licht der Welt erblickt (er ist damit ein Jahr jünger als mein in diesem Jahr verstorbener Ex-Schwager Ernst Josten*), legt allergrößten Wert darauf, seine Bildungsbiografie sowohl in ihren schicksalszufälligen als auch in ihre bebliebigkeitszufälligen Aspekten herauszuheben. Daher einführend eine lange Passage zur - im hohen Alter von fast 87 Jahren - bemerkenswerten erinnerungsträchtigen Einordnung des bildungsbezogenen starting point zu seinem Lebenslauf. Ein Lebenslauf der - wie oben bemerkt - in einer tour de force enthüllt, wie ein in Königsberg auf dem Höhepunkt des tausendjährigen Reiches geborener Ostpreuße seinen "langen Weg nach Westen" nimmt.

*das referenzmäßig gedachte Paralleluniversum, einer sich generativ auf Augenhöhe ereignenden (Bildungs-)Biografie meines Ex-Schwagers (oder meinetwegen auch meiner Schwester) wird hier deshalb bemüht, weil Heinrich August Winkler selbst den Anstoß gibt zur Wahrnehmung sozial begründeter Unterschiede und Benachteiligungen. Der Diskurs um damit sichtbar werdende fundamentale Differenzen und Benachteiligungen war immer auch Bestandteil vieler Gespräche mit meinem Neffen. Er - so wie ich - sind (in unserer Familie) die klassischen Beispiele dafür, wie die Zugänge zu (höherer) Bildung nicht nur Bildungsbiografien entscheidend beeinflussen und prägen. Heinrich August Winkler wird nun - gerade durch seine Biografie und die sich darin offenbarenden Haltungen - zu jemandem, der (auch in seiner langen Mitgliedschaft in der SPD) für die außerordentliche Verantwortung des Bildungsbürgertums exemplarisch in Erscheinung tritt!

Heinrich August Winkler vermerkt auf den Seiten 67f.:

"Was mir meine Schulzeit an Bildung vermittelte, erfüllt mich noch heute mit Dankbarkeit. Ich war mir bewusst, dass meine Erziehung an einem humanistischen Gymnasium, ja überhaupt der Besuch einer höheren Schule ein gesellschaftliches Privileg war. Auf der Volksschule in Klingenstein hatte ich 1948 zwar gute, aber keine herausragenden Noten erhalten. Viel besser waren die meiner Klassenkameradin Lucie D., die aber, ander als ich, trotz des nachdrücklichen Drängens unserer Lehrerin Pia Mangold, nicht die Aufnahmeprüfung in Ulm ablegen durfte. Ihr Vater, ein Industriearbeiter, setzte sich mit seiner Forderung durch, sie solle auf der Volksschule bleiben und dann so schnell wie möglich Geld verdienen. Lucie war die sprichwörtliche, benachteiligte >katholische Arbeitertochter vom Lande<, die in der Bildungsreformdebatte der sechziger Jahre von Soziologen und Pädagogen immer wieder bemüht wurde, um die ungleiche Verteilung der Bildungschancen in der Bundesrepublik deutlich zu machen. Dass ich eine höhere Schule besuchen durfte, verdankt sich nicht einer von mir erbrachten Leistung, sondern der bildungsbürgerlichen Familientradition. Zu ihr gehörten frühe Theater-, Opern- und Konzertbesuche, beginnend mit Aufführungen von >Peterchens Mondfahrt< und Humperdincks >Hänsel und Gretel< noch in Königsberg, und eine eher beiläufige erste Einführung in die Welt der klassischen Literatur und Musik. Die weiteren Etappen des bürgelichen Bildungsprozesses waren damit vorgezeichnet.
Es gab freilich auch eine andere Seiter dieser Erziehung: ihre apologetische, nationalkonservative Prägung. Vom Anteil des deutschnationalen Bildungsbürgertums and er Zerstörung der Weimarer Republik und seinem Beitrag zum Aufstieg und zur Machtbehauptung des Nationalsozialismus war weder in meinem familiären Umfeld noch am Ulmer Humboldt-Gymnasium die Rede: ein Mangel der mir erst bewusst wurde, aös doe Schulzeit bereits hinter mir lag."

Einen recht präzisen Eindruck von der Bedeutung des Zugangs zu (höherer) Bildung gewinnt man bezogen auf meinen Lebensweg, wenn man in diesem hier verlinkten Beitrag weiter unten die rot unterlegte Passage liest. Hier bestätigen sich die von Heinrich August Winkler angedeuteten Zusammenhänge von Bildungsungleichheit, wie sie früh von Kölner Soziologen (Erwin K. Scheuch) belegt wurden, und die dann von Picht u.a. den Ausgangspunkt zur (i.e.L. von der Sozialdemokratie initiierten) Bildungsoffensive bildeten.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund