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Andreas Kirchner: Das Ende als Anfang? (II) - hier geht es zu: Andreas Kirchner I

Von den ergänzenden Perspektiven, die Andreas Kirchner aufzeigt, hin zu der Frage: Was hat die Wissenschaft uns anzubieten? Andreas Kirchner weist einleitend darauf hin, dass auf das Thema Trennungen auch heute noch zumeist defizitorientiert, das bedeute, aus einer wertenden Perspektive geblickt werde, die das Scheitern von Beziehungen in der Vordergrund rücke: Oft gehe es um Scheidung und die damit verbundenen ökonomischen, finanziellen, rechtlichen, gesundheitlichen und psychischen Folgern, vor allem für Kinder und Frauen, um Leiden und Zerbrechen. Kirchner nimmt sich vor eine differenziertere Perspektive auf Trennungen anzubieten:

"Dazu werde ich die ontologische Bedeutung von Trennung als Wert und als existenzielles Geschehen im Leben erläutern, um die Perspektive auf Trennung als Defizit, Verlust, Schmerz, Tod, Ende, Negation bzw. negative Folie oder Problem zu ergänzen."

Er richtet den Blick auf Befunde zur Trennungsforschung und wendet sich zunächst der sogenannten Hetherington-Wallerstein-Debatte zu: Einerseits bezieht er sich auf die psychoanalytisch orientierte Psychologin Judith S. Wallerstein, die aus ihren Befunden eher die alarmierenden bzw. schwerwiegenden Folgen von Scheidungen - v.a. für involvierte Kinder - herausgehoben habe. Andererseits wendet er sich den Forschungsbefunden der Entwicklungspsychologin E. Mavis Hetherington zu, die sich um differenziertere, Komplexität und Limitationen betonenende Deutungen ihrer Forschungsergebnisse bemüht habe. Ich hebe im Folgenden nur die grundlegenden Unterschiede hervor. Beide Forschungsteams leiten ihre Schlussfolgerungen aus Longitudinalstudien ab, die ihre ProbandInnen ca. 25 Jahre begleitet haben:

  • "Hetherington relativiert keineswegs mögliche negative Trennungseffekte, kontextualisiert diesen nur eben zugleich und fokussiert dabei immer wieder auf unterstützende Faktoren in der Trennungswirklichkeit."
  • "Der grundskeptische Ton von Wallersteins Ergebnisschlüssen bedarf selbst der Einordnung: Ihre Ergebnisse zeigen v.a., was Trennung unter schwierigen, von anhaltenden Konflikten und fehlenden Kompromussen begleiteten Bedingungen bedeuten und an nachwirkenden Verheerungen anrichten kann.
  • "Kirchner ordnet die Kontroverse im Folgenden so ein, dass er betont, Wallerstein leite aus ihrer Studie vergleichsweise pauschale Schlussfolgerungen ab, so etwa in Bezug auf Kinder in >unglücklichen Ehen<. Dabei vertritt sie sogar die These, dass Kinder auch in >unglücklichen Ehen< vergleichsweise zufrieden seien: "Den Kindern ist es egal, ob Mama und Papa in getrennten Betten schlafen, solange die Familie beisammen ist." Dazu passt die generalisierende Schlussfolgerung, das Kinder in Nachscheidungsfamilien generell nicht glücklicher, gesünder oder besser angepasst" seien.
  • Hetherington hingegen betont, dass die meisten Kinder sich innerhalb von zwei Jahren der Situation nach der Scheidung anpassten und eine Stabilisierung erreichten. Aber auch sie räumt ein, dass etwa 20% bis 25% der Kinder und Jugendlichen längerfristige Schwierigkeiten erlebten, die auch im Erwachsenenleben fortbestehen könnten.

Andreas Kirchner kommt zu dem Befund, dass - gleich welche Bezugsstudie man zugrunde legt - dem elterlichen Verhalten und den familiären Dynamiken für die Anpassung der Kinder und Jugendlichen die entscheidende Bedeutung zukomme:

"Faktoren, die die Anpassung der Kinder unterstützen oder behindern können, sind beispielsweise die Qualität der Beziehung zwischen denEltern, der Grad elterlicher Konflikte, die finanzielle Situation der Familie und das Vorhandensein sozialer Unterstützung. So zeigt sich, dass weniger die Trennung bzw. Scheidung der Eltern an sich als vielmehr der Grad des Konflikterlebens relevant ist."

Ich füge ein Originalzitat aus der 2003 im Beltz-Verlag erschienenen Studie: Scheidung: Die Perspektiven der Kinder an:

"Nach vierzig Jahren Forschung hege ich keinen Zweifel über das zerstörerische Potential einer Scheidung. Sie kann das Leben von Menschen zerstören und tut es auch. [...] Doch dessen ungeachtet glaube ich dennoch, dass das meiste, was heutzutage über Scheidungen geschrieben wird - sowohl in Publikums- wie in wissenschaftlichen Medien -, die negativen Wirkungen übertreibt un die manchmal beträchtlichen positiven Folgen unterschlägt. Fraglos hat die Scheidung viele Erwachsene und Kinder vor den Schrecken familiären Missbrauchs gerettet. Aber sie ist nicht nur eine präventive Maßnahme. Ich habe erlebt, dass sie vielen Frauen und besonders Mädchen die Chance zu einem bemerkenswerten persönlichen Wachstum eröffnete [...] ." (Hetherington, 2003, S. 16)

Andreas Kirchner wendet sich gegen jede Funktionalisierung wissenschaftlicher Befunde. Er plädiert für differenziertes Hinschauen und warnt vor voreiligen Schlussfolgerungen. Allein sein folgender Hinweis mag man als Appell verstehen, sich um das zu bemühen, was ein komplettes, wohlwollendes soziales Unterstützungsfeld zu leisten vermag - von den Eltern, den Verwandten und Verschwägerten im familialen Umfeld bis hin zu intakten, wohlwollenden, unterstützenden Freundeskreisen:

"Wie sehr auch eine nicht-getrennte Familie dysfunktional und also nicht intakt sein kann, während manche Trennungsfamilien beispielsweise gerade durch die Trennung Funktionalität sichern oder ermöglichen, bleibt [in vielen Auseinandersetzungen und Lösungsversuchen] unbeachtet."

Es gibt aus alledem gewiss nur eine vertretbare Schlussfolgerung: Welche Lösung man in konflikthaften Familien (mit Kindern) auch anstrebt, das Wohlergehen der involvierten Kinder und Jugendlichen wird immer entscheidend beeinflusst werden

  • 1. vom Umgang der (Trennung anstrebenden oder eher ausschließenden) Elternteile miteinander und
  • 2. von einem wohlwollenden und intakten (erweiterten) sozialen Umfeld, zu dem die Verwandten und die Verschwägerten gleichermaßen gehören und  zu dem wahlverwandtschaftlich begründete Freundeskreise einen erheblichen Beitrag leisten können.

Wer in solchen komplexen Prozessen Frontlinien aufbaut, Herabsetzung, Abwertung, Missachtung und Ausgrenzung befeuert, wird Verlierer produzieren; Verlierer auf allen Seiten und vor allem mit Blick auf involvierte Kinder.

Daher auch hier noch einmal die Hellingersche Formel, die einerseits gewiss Größe und Haltung der Beteiligten voraussetzt; die andererseits aber dafür zu sorgen vermag, dass auch in schwierigen und schwierigsten Ausgangslagen Wege gefunden werden. Manachmal soll es sogar hilfreich sein, sich der Gründungsmythen zu erinnern, die einst - inzwischen voneinander Entfremdete - in seliger, zumindest in beflügelnder Zweisamkeit sah. Das mag vor allem dann auch hilfreich sein, wenn man auf die blickt, die aus einer solchen Verbindung hervorgegangen sind. Auf sie trifft umfassende Unschuld zu. Sie sollten niemals zu denjenigen werden, die die Zeche abzahlen, die Schulden tilgen, die ihre Eltern aus Unvermögen und möglicherweise aus (unverschuldeter) Unreife aufhäufen. Es gibt kein Menschenrecht auf Nicht-Überforderung - sieht man einmal von Kindern ab.

 

Hellinger (in der Wiedergabe durch Gunthard Weber: Zweierlei Glück, Heidelberg 1997, S. 142f.) weist darauf hin:

"Wer in einer wesentlichen Paarbeziehung war (mit sexuellem Vollzug), ist gebunden und kann nicht mehr raus ohne Schmerz und ohne Schuld [...] Die Lösung ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann könnten sie nachher gut miteinander reden, und alles was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen.

Dann muss der eine dem anderen sagen: >Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, hab ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden.< Dann können beide auseinandergehen."

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund