Mach dich STARK! Was hilft, wenn Eltern sich trennen?
Laura Bieg, Carmen Pfänder und Miriam Rassenhofer erörtern in der aktuellen Familiendynamik Bedarf und Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche aus Trennungsfamilien (Familiendynamik 50/2025, Seite 326-333)
Im familialen Kontext bin ich zuletzt etwas kritisch wahrgenommen worden, weil ich Karl Otto Hondrichs Appell: Rauft euch zusammen! wieder einmal im Rahmen des Blogs prominent platziert hatte. Hondrichs Appell hat mir ganz persönlich geholfen, meine Situation und die Situation meiner Familie und meiner Kinder mit Abstand noch einmal reflektieren zu können. Karl Otto Hondrich seines Zeichens war ja ein weltweit anerkannter Soziologe, und nichts lag ihm ferner, als dass man ihn wahrnehme als jemand, der ohnehin belasteten Akteuren im familialen Alltag mit einer Moralkeule begegnet. In: Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft (Suhrkam-Verlag, Frankfurt 2004) spürt er den eigenen familialen Dynamiken nach. Er erörtert dabei die Bedeutung von Begriffen wie: Zugehörigkeit, Bindung, Geborgenheit und Entschiedenheit - immer auch mit einer soziologisch ambitionierten Brille.
Moralische Maßstäbe liegen den oben angeführten Autorinnen gleichermaßen fern, die – wie ich es wahrnehme – an keiner Stelle entsprechende Bewertungsmaßstäbe anlegen, um das Verhalten von Eltern im Trennungsgeschehen zu kommentieren. Ich zeichne im Folgenden die Erkenntnisse und den Blick auf Unterstützungsmöglichkeiten nach, wie sie von Laura Brieg, Carmen Pfänder und Miriam Rassenhofer zusammengetragen werden:
Einleitung – Wie Kinder und Jugendliche die Trennung ihrer Eltern erleben
Der Konjunktiv überwiegt – es werden keine indikativisch festgemauerten Aussagen getroffen:
„Die elterliche Trennung k a n n tiefe Spuren in der eigenen Lebensgeschichte hinterlassen.“ Ungünstige Konstellationen könnten dazu führen, dass es „zu einer höheren Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung psychischer oder körperlicher Folgeerkrankungen bis ins hohe Erwachsenenalter hinein“ komme:
„Mögliche kurz- bis mittelfristige Folgen einer elterlichen Trennung sind eine allgemeine Beeinträchtigung der Entwicklung (u.a. auch des Bildungsverlaufs der Kinder), eine Verringerung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit sowie negative Auswirkungen auf soziale Beziehungen …]. Mittelfristig kann die elterliche Trennung die Entstehung psychischer oder körperlicher Beeinträchtigungen bei Kindern begünstigen oder bereits bestehende Probleme verstärken. Langfristig können sich die negativen Folgen kumulierender Erfahrungen durch die Scheidung der Eltern im Erwachsenenalter sogar noch verstärken.“
Einleitend weisen die Autorinnen nun darauf hin, dass vorhandene, v.a. innerfamiliäre Schutzfaktoren die kindliche Resilienz stärken und möglicherweise verhindern könnten, dass nicht jegliche Belastungserscheinung im Nachgang einer elterlichen Trennung die Schwelle einer psychischen Erkrankung erreiche.
Teilhabemöglichkeiten und Bedarf von Kindern und Jugendlichen
Programmatisch – ja geradezu typisch – für das Selbstverständnis der Familiendynamik und die in ihr publizierten Ergebnisse/Befunde systemischer Praxis und Forschung ist das Beharren auf die Verbreitung lösungsrelevanter und erfahrungsvalidierter Ansätze. So greifen die Autorinnen zunächst einmal auf eine seit hundert Jahren vertretene Auffassung zurück, die sodann grundlegend die unterbreiteten Lösungsvorschläge begleiten:
„Wie bereits Janusz Korczak 1929 in seinem Buch >Das Recht des Kindes auf Achtung< formulierte, werden Kinder nicht erst zu Menschen, sondern sie sind bereits welche.
Erst im 21. Jahrhundert beginne sich diese Auffassung durchzusetzen, dass nämlich Kindern nicht nur als Schutzobjekte zu sehen seien, sondern auch als eigenständige Wesen bzw. als aktive Rechtsträger mit Rechten der Beteiligung, Autonomie und Mitsprache. Die Ausgangslage für Kinder wird in den vorliegenden Forschungsbefunden damit auf den Punkt gebracht, dass Kinder und Jugendliche bei vorgenommenen Befragungen Wissenslücken in Bezug auf das Thema Trennung der Eltern angeben:
„Es wird berichtet, dass sie häufig nur unzureichende Informationen über die Trennungsgründe der Eltern oder über ihre eigenen Rechte erhalten, etwa im Hinblick auf Umgang. […] Die Gefahr ist, dass Wissenlücken durch dysfunktionale Glaubenssätze oder Fehlinformationen geschlossen werden.“
Eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen berichteten davon, dass sie sich verantwortlich fühlten für die Trennung der Eltern und Angst hätten, den Kontakt zu einem Elternteil zu verlieren:
„Kinder und Jugendliche bemühen sich daher oft darum, ein faires Miteinander zwischen ihren Eltern zu schaffen.“
Zu den emotional belasteten Grauzonen gehört der Befund, dass nur etwa die Hälfte aller befragten Kinder danach gefragt wurden, wo sie nach der Trennung der Eltern leben wollen würden. Frage man Kinder und Jugendliche, plädierten die (verständlicherweise) häufig für eine „konsensuale Lösung“, die gemeinsam als Familie getroffen werden sollte:
„Dieser Lösungsprozess würde Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, ihre Sichtweise und ihre Gefühle über die konkret betreffenden Themen zu äußern.“ Wichtig und unerlässlich ist heute der Hinweis, dass Trennungsberatung ein fester Bestandteil der Unterstützungsleistungen für Familien nach SGB VIII (§17) ist.
Bieg/Pfänder/Rassenhofer weisen darauf hin, sollte der Weg für die betroffenen Kinder und Jugendlichen in die Beratung über die Eltern unterbunden oder erschwert werden, dass Kinder laut dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG, 2021) Anspruch auf die Beratung durch eine erfahrene Fachkraft ohne Wissen oder Zustimmung der Eltern haben.
Ich frage einmal ganz vorsichtig nach: Welche Eltern (und welches Umfeld) haben denn darüber Kenntnisse? Wie holprig mag wohl der Weg für Kinder und Jugendliche sein, wenn Eltern – möglicherweise im Geschehen einer belastenden Trennung – für solche Möglichkeiten und Angebote weder Aufmerksamkeit noch konstruktive Fürsorglichkeit aufbringen?
Die Autorinnen vermerken denn auch nur: „Zudem müssten Kinder und Jugendliche den Weg in eine Beratungsstelle selbstständig finden und dort einen Termin wahrnehmen.“ Je jünger Kinder sind, desto unwahrscheinlicher erscheint die Inanspruchnahme solcher Angebote!
Die Autorinnen stellen in der Folge ein „praxisnahes Beispiel für ein digitales Informationsangebot vor: STARK – Streit und Trennung meistern: Alltagshilfe, Rat & Konfliktlösung – die Webseite www.stark-familie.info ziele mit ihrem umfassenden Informations- und Beratungsangebot darauf ab, Paare, Eltern sowie Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung von Beziehungskrisen, Trennung und Scheidung zu unterstützen – man müsste wohl mal reinschauen.
Ich beschränke mich in der Folge auf die Skizze eines Fallbeispiels:
Es geht um den Fall von Daria (14): Ihre Eltern sind seit vier Jahren geschieden. Der Vater wohnt seit einigen Jahren 600 Kilometer entfernt. Sie treffe den Vater zwei bis drei Mal im Jahr in den Ferien. In der restlichen Zeit gebe es telefonischen Kontakt. Daria selbst bezeichnet sich als >Papakind<. Unter der Trennung ihrer Eltern habe sie stark gelitten, insbesondere als der Vater weit weg gezogen sei. Der Vater hat seit kurzem eine neue Lebenspartnerin. Daria äußert, dass sie sich grundsätzlich darüber freue. Sie habe aber das Gefühl, dass darunter der Kontakt zu ihr leide. Er rufe nicht mehr so häufig an und sei oftmals kurz angebunden. Sie wünscht sich einen regelmäßigen und intensiveren Austausch.
Validierung der Gefühle, Herausarbeitung von Bedürfnissen und Wünschen:
- Daria berichtet, dass sie die aktuelle Situation sehr traurig mache und sie sich abgewiesen fühle.
- Es wird herausgearbeitet, dass das Gefühl der Traurigkeit ihr signalisieren könnte, wie wichtig ihr Vater für sie sei und wie sehr sie ihn vermisse. Daria erkennt, dass sie das Bedürfnis nach Bindung hat.
- Konkret wünscht sie sich Kontakt, Austausch und Zuwendung von ihrem Vater – dies könnte aus ihrer Sicht erreicht werden durch regelmäßige Kontakte.
- Sie erkennt gleichermaßen, dass diese Bedürfnisse aktuell nicht ausreichend erfüllt sind und daher zu den unangenehmen Gefühlen beitragen.
Normalisierung und Akzeptanz:
- Vor der Entwicklung weiterer Lösungsschritte steht das bewusste Annehmen und Akzeptieren des Gefühls im Vordergrund. Wegweisend erscheint nun der Hinweis, dass Daria dadurch die Möglichkeit gegeben werde, ihre Gefühle in dieser Situation als angemessen und hilfreich zu erleben. Daria entdeckt dabei ihre Befindlichkeit als von Unterschieden geprägt: „Sie berichtet, das Gefühl ja auch nicht die ganze Zeit da sei, oder dass es ihr sogar dabei helfe, kurz zu weinen bzw. dem Vater zu schreiben.
Steigerung der Partizipationsfähigkeit:
- Es geht nun um Lösungsstrategien. Daria hat unterschiedliche Ideen und entscheidet sich letztendlich dafür, dem Vater einen Brief zu schreiben, „um ihn auf ihre Gefühle und Bedürfnisse aufmerksam zu machen und mögliche Wünsche zu formulieren“.
- Mithilfe des Arbeitsblattes >Das Wunschrezept (STARKes Handeln: Dein Wunschkonzert; basierend auf Wenn-Dann-Plänen und Gewaltfreier Kommunikation) wird Daria eingeladen, einen ersten Entwurf zum Ausdruck ihrer Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche zu formulieren. Sie formuliert den Brief zu Hause und liest ihn in der nächsten Sitzung vor.
- Daria berichtet, es habe ihr geholfen, über ihre Gefühle zu sprechen und diese auch festzuhalten. Sie habe gelernt, dass andere Personen wissen müssen, was in ihr vorgehe, damit sie zur Lösung beitragen oder ihr Verhalten anpassen können.
Die Autorinnen ziehen folgendes Fazit:
„Das Ziel der Beratung war es, die Selbstwirksamkeit zu stärken und die innere Haltung zu fördern, die es ermöglicht, für die eigenen Bedürfnisse und Gefühle einzustehen. Dazu zählt, Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen gegenüber den Eltern auszudrücken sowie selbstbestimmt und bedürfnisorientiert zu handeln.“
Nun ja, und wieder einmal frage ich mich: Wovon träumen denn die Autorinnen denn nachts? Diese Frage wiederum mag primär damit zusammenhängen, dass der eigene familiäre Kontext kein Diskursraum sein kann. Dies bedeutet in erster Linie, danach zu fragen, was denn (immer noch) die eigene Aufmerksamkeit für solche Themen triggert? Darauf habe ich meine Antworten gefunden und gegeben – in: Die Mohnfrau, Seite 25-46 – und noch sehr viel prägnanter in: Kurz vor Schluss II - immer eingedenk der nicht einvernehmbaren blinden Flecken, mit denen wir unterweg sind. Aber ich konnte diese Antworten erst mit großem Abstand finden - und vor allem ihnen in meinem eigenen Sprach- und Verstehenshorizont eine mitteilungsfähige Gestalt geben. Wie zutreffend bemerkt doch Karl Otto Hondrich in seinem programmatischen, einführenden Beitrag: Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft, Seite 13:
"Während sich die westlichen Gesellschaften in der Sphäre ihrer Produktion höchster Rationalität verschrieben haben, geben sie ihre Reproduktion ganz der Emotionalität anheim. Welcher Teufel reitet sie, ihre Familien, von deren Leistungen doch der Fortbestand des sozialen Lebens abhängt, auf die flüchtigsten Gefühle, das Beständigste auf das Vergänglichste, das Alltägliche auf das Außeralltägliche, das Reale auf das Romantische zu bauen? Liegt hier ein grundlegender Konstruktionsfehler moderner Gesellschaft vor, oder hat die Sache einen noch unerkannten Sinn?"
Ich vermute einmal: Kinder und Jugendliche sind vermutlich am wenigsten dazu in der Lage Hondrichs Frage zu beantworten. Sie sind und bleiben Seismographen für die Erschütterungen, die sich aus den von Hondrich aufgezeigten Widersprüchen und Spannungsräumen ergeben. Die Kinder und Jugendlichen müssen also erst erwachsen werden, um mehr zu begründen als die so fundamental berechtigte Forderung, man möge doch zuvorderst die Gefühle, Bedürfnisse und Wünsche der Schwächsten in diesem Spannungsfeld Familie in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken.