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Alexander Mitscherlich: Vaterlos - das Los des Vaters

(über die Vaterlose Gesellschaft an dieser verlinkten Stelle mehr)

Eine einzige Geste eines anderen, in seinem Gemüt gespeichert, kann ihn ein Leben lang mit Eifersucht oder Hass oder Hypochondrie erfüllen, ein einziges Wort ihn mit Sehnsucht oder Heilsgewissheit oder Verblendung schlagen. Der Mensch hat aus diesem Grund als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung.“

Die erste Schlussfolgerung: Die Herren Putin, Xi Jinping, Kim Jong-un, Trump sind jene Akteure, die ihre Gegner nicht nur mit Gesten, sondern mit roher Gewalt traktieren - sie sind Repräsentanten des Unmenschentums bar jeglicher Bildung!

Diese beiden Sätze sind zu lesen in Hartmut von Hentigs opus magnum mit dem schlichten Titel Bildung (Hanser Verlag, München 1996, S. 16)

Wer sich öffentlich äußert, muss damit rechnen, dass ihn die eigene Melodie bis ins höchste Alter und darüber hinaus begleitet. Dies trifft auf jeden von uns zu. Es trifft freilich in besonderer Weise zu auf opinion-leader, wie Hartmut von Hentig und Alexander Mitscherlich. Hartmut von Hentig schrieb den einleitend zitierten Satz im Nachgang zu jener Zeit, als sein Intimus Gerold Becker als Leiter der Odenwald-Schule mitten in seiner kriminellen Karriere als einer der vier Haupttäter hinsichtlich der „sexuellen Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010“ stand.

Einleitende Passage zu Gerold Beckers Wikipedia-Eintrag:
Gerold Ummo Becker - einleitende Passage:
 (* 12. April 1936 in Stettin; † 7. Juli 2010 in Berlin) war ein deutscher Pädagoge und Pädokrimineller. Er war von 1972 bis 1985 Leiter der reformpädagogisch orientierten Odenwaldschule im Heppenheimer Stadtteil Ober-Hambach.[1] Laut unabhängigem Abschlussbericht über die „sexuelle Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010“ war er einer der vier Haupttäter.[2][3
Weiter unten ist zu lesen:
Becker war langjährig eng mit Hentig befreundet. Über die Art und Nähe ihres Verhältnisses wurde spekuliert, ohne dass es wirklich überprüfbare Aussagen gab. Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers vermutet „eine lebenslange Abhängigkeit“, über die sich mehr kaum sagen lasse. Zu Beckers Lebzeiten sei einfach eine Paarbeziehung zwischen den Männern sichtbar geworden, da beide als homosexuell galten.[11] Hentig widmete Becker sein Buch Die Schule neu denken (1993).[12] Im dritten Band seiner Memoiren berichtet Hentig 2016, Becker sei die Liebesbeziehung mit ihm zwecks Überwindung seiner Pädosexualität eingegangen:

„Gerold hat mich gesucht, um sich aus der Abhängigkeit von den Jungen zu lösen. Seine Liebe zu mir – ich glaube fest, dass es Liebe war – sollte ihn von den eigenen Abgründen retten. Sie hat es nicht.“[13]

Alexander Mitscherlich hat mit diesen Vorgängen um Gerold Becker und Hartmut von Hentig nichts zu tun. Die Einleitung soll lediglich eine Verbindung herstellen zwischen der fundamental gedachten These Hartmut von Hentigs und den Erfahrungen, die Alexander Mitscherlich in seiner Veröffentlichung: Ein Leben für die Psychoanalyse, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1980 publiziert. Er bemerkt auf Seite 41ff. seiner Erinnerungen:

"Einsamkeit entsteht [auch] in Familien. Ich kann nicht vergessen, daß mein Vater einmal über mich ein in meinen Ohren schrecklich klingendes Wort äußerte: >Du mit deinem geistigen Buckel<. Heinrich Heine hat einmal gesagt: >Ich habe nie eine Beleidigung auf dieser Welt verziehen<." Alexander Mitscherlich greift diese Bemerkung auf und schreibt: "Ich habe viel vergessen, wenn auch vielleicht nicht verziehen. Nach einer gewissen Latenzzeit ist dieses väterliche Wort jedenfalls zum gravierenden Stück neurotischer Kommunikation herangewachsen, es hat mich so schmerzlich getroffen, weil es mein Vater war, nicht irgend jemand, der das gesagt hat."

Ich greife - auch die im Fortgang geäußerten Vorbehalte gegenüber der Familie auf, weil sie mir auch vertraut erscheinen im unmittelbaren familiären Umfeld. Sie sind wohl eher typisch, markieren weniger Ausnahmen als strukturelle Gegebenheiten in eher destruktiv wirkenden familiären Dynamiken:

Mitscherlich bemerkt dazu:

"Ich habe darauf im Laufe der Zeit die wichtige Einsicht gewonnen, daß in der Familie Schmerzen zugefügt werden, über deren Zustandekommen die Beteiligten sich überhaupt nicht klar sind. [...] Ist die Familie tatsächlich nicht mehr als ein Fechtboden, auf dem ein Kampf mit allen möglichen Mitteln vor sich geht und auf dem man sehr verletzt werden, aber auch sehr verletzten kann?." Und weiter - dann eher in der Haltung therapeutischer Sorge: "Die Tatsache, daß über die Familie so zweiflerisch gedacht wird und daß Versuche im Gange sind, sie durch Formen vielleicht besserer Kommunikation zu entwickeln, zeigt, daß die Familie gegenwärtig außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt ist."

Mitscherlich publiziert dies - wie oben bemerkt - im Jahre 1980 - vor Beginn der Innovationen, die im therapeutischen Raum dann erfolgten: Vor allem mit der Begründung einer systemischen (Familien-)Therapie in Deutschland durch Helm Stierlin. Dies alles wäre vermutlich nicht weiter erwähnenswert, wenn Alexander Mitscherlich aus folgender - eher resignativ daherkommernder Bemerkung - nicht eine (auch heute) diskussionswürdige Schlussfolgerung ziehen würde. Zunächst bemerkt er:

"Wieder einmal in der Weltgeschichte kündigt sich ein neues Hoffen an, alte, eingefahrene Verhaltensweisen aufbrechen zu können. Wieder einmal sind wir nur allzu bereit, einer Sehnsucht nach heiterer, weniger beschwerter, aufrichtiger Lebensweise zu folgen, und wieder einmal werden sich die Hoffnungen so einfach nicht erfüllen - wer immer auch für die Vereitelung als verantwortlich erklärt werden mag." (Seite 49)

Er wendet und präzisiert diese pessimistische Perspektive dann auf eine Weise, dass ein Zusammenhang entsteht zwischen den großen, weltweit zu beobachtenden Krisen und Konflikten auf der Makroebene und den Verhaltenspathologien auf der Mikroebene - eben vor allem mit Blick auf familiäre Dynamiken:

"Wenn man auf die immer häufiger werdenden Kriege und Gewalttaten blickt, bestätigt sich leider unser Pessismismus in dieser Richtung. In der Familie, sagten wir, wird ein solches Verhalten vorbereitet, indem viel Verlogenheit die mitmenschlichen Beziehungen stört. Trotz aller Hoffnung, mit Hilfe weiterer psychologischer Aufklärung zu einer einfühlenden Erziehung des Kindes und damit zu einer Abnahme von Aggression zu kommen, wurden wir immer wieder enttäuscht. Denn allzuoft sind wir nach wie vor auch in der Familie mit einer Mentalität untergründiger Grausamkeit und Tücke konfrontiert, die ungestraft sich formt, weil sie den meisten verborgen bleibt." (Seite 50)

Was sich nun ereignet, verleitet wahrlich nicht zu einem Optimismus! Alexander Mitscherlich bekennt, dass es diese (geschilderten) Erfahrungen gewesen seien, die ihn dazu veranlasst hätten, über die Entstehung von Aggression zu arbeiten und zu publizieren. Immer neue Kriege zeigten seiner Auffassung nach, wie schwach die konkurrierenden Ansätze einer global phantasierten Friedensordnung geblieben seien. Und wenn wir dann folgende Passagen wiederlesen, bleibt uns dann nichts anderes, als vor dem Pessimismus Alexander Mitscherlichs einzuknicken?

"Gibt es das überhaupat, einen >gerechten< oder sogar >heilig< erachteten Krieg? Oder ist nicht jeder Krieg unheilig und verdankt seine Existenz dem menschlichen Zerstörungsbedürfnis? Niemand kann leugnen, daß ununterbrochen, gleichsam in Schüben, solche destruktiven Entladungen bald hier, bald dort, fast überall stattfinden. Kann man überhaupt, wenn man Entfremdung bekämpfen will, >nationale< Kriege entschuldigen? Meist kommen ja, kaum ist er ausgebrochen, bereits die Entschuldiger solcher nationaler Missetat und stellen der eigenen Grausamkeit das Unschuldszeugnis aus. Es ist unfaßlich, daß solche Argumentation durch Jahrtausende unverändert bleibt und wirkt." (Seite 51)

Diese Feststellung - so Mitscherlich - führe uns an den Anfang der Überlegungen zurück. In Familien, Sippen, Clans werde Generation nach Generation dadurch auf Kriege vorbereitet, dass man nationalistische oder sonstige gesellschaftliche Vorurteile an seine Kinder weitergebe oder durch fehlende Einfühlungen in ihnen Aggressionen erwecke oder auch geweckte Aggressionen auf Gegner projiziere. Und leider (lieber Herbert) gelangt Mitscherlich vor mehr als 45 Jahren zu der bitteren Erkenntnis, dass sich das, was hier an Lebenserfahrung übermittelt werde, "so fest in den Charakteren zur Masse verbackener Individuen niederzuschlagen" scheine, "daß spätere Korrekturen diese Grundmodells menschlicher Aggression fast unmöglich erscheinen". (Vgl. ebd.) 

"Es hat mich tief beeindruckt, daß die Theorie von der angeborenen menschlichen Grausamkeit, bemäntelt als notwendig für das Überleben, auch dann nicht aufgegeben wurde, als sich der jahrtausdendealte Kampf ums Dasein grundsätzlich geändert hatte. Aber statt des heute möglichen weltweiten, friedlichen Austauschs von Gütern und Gedanken hat sich dennoch in unserer Zeit eine erschreckende Verstärkung der Bereitschaft zur Destruktion ereignet." Mitscherlich räumt ein, es könne sein, dass die destruktive Aggression nicht angeschwollen sei, unbezweifelbar sei jedoch, "daß die Zahl der Menschen ungeheuer angeschwollen ist und daß sich damit Aggressionen zwangsläufgi im selben Maß verstärken. Denn in unserer Massengesellschaft findet der einzelne kaum noch das Interesse und die Einfühlung, die er brauchen würde, um zu sich selbst und zu anderen ein einigermaßen freundliches und beruhigtes Verhältnis zu finden." (Seite 52)

Zugegeben: Die Frage, wer denn den Herren Putin, Xi, Trump - oder den Mullhas täglich ins Gehirn scheißt, zeugt ja nur von Ratlosigkeit und Unvermögen, Lösungen anzubieten, die die Massen davon überzeugen, dass sie einerseits - wo sie die Chance noch haben - ihre Despoten in die Zustimmungswüste zu schicken - sie legal zu entmachten; oder aber Mittel und Wege zu finden - wenn nötig über den Tyrannen-Mord - mit Gewalt Frieden zu schaffen. Ach, du lieber Himmel, wie paradox und wiederum hilflos kommt denn Solches rüber. Andererseits: Baschar al-Assad ist wenigsten einmal ein Beispiel dafür, das Letzteres nicht gänzlich aussichtslos ist. Nur mit dem Frieden schaffen bleibt es so eine Sache.

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund