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Ein paartherapeutisches Husarenstück - Zwischen Durchreise und Landnahme (20a)

„Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen (Detlef Klöckner, Phasen der Leidenschaft – Emotionale Entwicklungen in Paarbeziehungen, Stuttgart 2007, S. 214).“

Als meine Mutter am 27. Juli 2003 starb, bewegte sich mein Schwiegervater zunächst behutsam, dann mit zunehmender Dynamik in die Demenz. Von 2006 an wurde er zuletzt – immerhin drei Jahre andauernd – zum bettlägerigen Schwerstpflegefall. Im März 2010 wurde er von seinen Leiden erlöst. Meine persönliche Lebensführung und –planung war umfassend an diese Entwicklungen gekoppelt; Dirk Baeckers Leitkriterium „das ist nahe genug“ schrumpfte auf ein Minimum an Abstand, weil ich es so – genauso – wollte. Was ich meinem Schwiegervater – meinen Schwiegereltern – verdanke, ist in den vorgeschalteten Aufzeichnungen ansatzweise angedeutet worden. Eine materiell begründete Asymmetrie habe ich im Modus der Dankbarkeit in eine emotional-fürsorgliche Komplementärhaltung übersetzt, die es mir erlaubte, von dem, was sie mir zugedacht haben, etwas zurückzugeben. Der 19. April 2007, von dem im nächsten Abschnitt die Rede ist, bedeutete in mehrfacher Hinsicht in gewisser Weise so etwas wie einen Wendepunkt im System Rothmund – in meinem Tagebuch findet sich unter dem 19.4.07 folgender Eintrag:

„Die Urinflasche nimmt Leo (mein Schwiegervater) nicht an, und seine nächtlichen Eskapaden führen langsam aber sicher zur völligen Auszehrung und Überforderung meiner Schwiegermutter. In der Nacht von Sonntag auf Montag kam eine Eskalationsstufe hinzu, die größten Anlass zur Sorge gibt: Lisa, meine Schwiegermutter, fühlte sich von Leo bedroht. Zum ersten Mal in all den Monaten rief sie mitten in der Nacht – um 2.45 Uhr – an mit einem dringenden Hilferuf. Ich war zehn Minuten später auf dem Heyerberg – einen Schlüssel hatte ich vorsorglich schon seit Monaten. Als ich aufschloss und eintrat, sah ich Leo in der Schlafzimmertüre stehen; meine Schwiegermutter war nicht zu sehen. Offenkundig erkannte er mich sofort. Ich ging auf ihn zu und beruhigte ihn durch beharrliches Zureden. Wir gingen gemeinsam ins Esszimmer und setzten uns dort an den Tisch. Leo versuchte mir zu vermitteln, dass er sich gegen böse Menschen zur Wehr setzen müsse. Erst zehn Minuten später kam Lisa – noch immer blass und zittrig – hinzu. Sie hatte ihren Mann ausgetrickst, ihn ins Wohnzimmer gelockt und dort das Licht ausgelöscht. Geistesgegenwärtig hatte sie das Telefon gegriffen und hatte sich dann über die Küche und die Diele in das rettende, abschließbare Gäste-WC geflüchtet. Anscheinend war Leo aus einem Traum erwacht, aber dabei nicht wirklich wach geworden. Er begann Lisa zu beschimpfen und handgreiflich zu werden: ‚Mach, dass du rauskommst, du dreckiges Luder!‘ Jedenfalls habe ich dann die restliche Nacht auf dem Heyerberg verbracht, meine Schwiegermutter zum Schlafen ins Bett geschickt und mit Leo die Zeit vertrieben. Zum Schluss lagen wir beide in den Liegesesseln im Wohnzimmer und haben die Dämmerung und den Sonnenaufgang über der Karthause erlebt – zeitweise selbst im Dämmerzustand.“

Im Frühjahr 2007 – an diesem 19.  April 2007 – erreichte mich eine e-mail, mit der ein alter Freund aus längst vergangenen Zeiten den Kontakt suchte. Eigentlich hätte die mail an Claudia gerichtet sein müssen, da es sich um ihren ersten langjährigen Freund – ich nenne ihn Freund – handelte. Der Freund – gut zwei Jahre jünger als ich – bewegte sich seinerzeit auf dem Höhepunkt jener Krisendynamik, die als Krise in der Lebensmitte in der Regel nicht eine Individualkrise bleibt, sondern auch in der Paarbeziehung und in der Familie für Turbulenzen sorgt. Wir hatten uns als Familien gegenseitig jeweils einmal besucht in den letzten 25 Jahren. Dass zwei Menschen eklatant ungeeignet füreinander sein können, stand bei den beiden immer außer Zweifel, zumal der Freund diese Lesart selbst bevorzugte und die Heirat erklärte aus einer frühen ungeplanten Elternschaft. Die kleine Familie lebte zunächst am Studienort des Freundes. Die Hochzeit selbst wurde seinerzeit bereits von den Eltern des Freundes boykottiert, weil sie aus ihrer Sicht nicht standesgemäß erschien. Der ältere von zwei Söhnen hatte eigentlich das Zeug dazu, elterliche Erwartungen zu erfüllen. Er schloss sein Studium mit einer Promotion ab und arbeitete zur Zeit unserer Kontaktaufnahme bei einem Global-Player im Management. In einem aufstrebenden Rheinstädtchen hatte man eine alte Villa gekauft und so renoviert, dass sich die Familie – mit inzwischen drei Kindern – ein standesgemäßes Refugium geschaffen hatte. Der Freund hatte auf dem ersten Höhepunkt der manifesten Krise keinen anderen Weg gesehen, als sich eine eigene, kleine Wohnung zu nehmen, um mit Abstand herauszufinden, wohin die Reise gehen könnte. Seine Wurzeln lagen in Neuwied, wo seine Eltern und sein Bruder mit Familie aktuell auch noch lebten. Die Eltern hatten es mit einem gediegenen Bimshandel zu Vermögen gebracht, begannen aber nun – ähnlich wie Claudias Vater – zu kränkeln und waren mit der Organisation des Alltags zunehmend überfordert. Hinzu kam die lebensbedrohliche Krebserkrankung des jüngeren Bruders, dessen berufliche und familiäre Probleme die elterliche Aufmerksamkeit und Fürsorge nahezu vollständig beanspruchten.

So stand der Freund eines Tages im Frühjahr 2007 vor unserer Haustüre. Es beginnt nun eine wunderschöne, über die Maßen romantikträchtige Geschichte, deren Verlauf – eingeschlossen das Handeln der Hauptakteure – nur verständlich wird, indem ich mir gestatte gewissermaßen rückwärts zu erzählen und das Pferd von hinten aufzuzäumen. Denn viele haben mich für verrückt erklärt – oder doch zumindest meine Rolle in diesem Stück nicht verstehen können, weil diese Geschichte nur mit meinem Zutun und gewissermaßen mit meiner Duldung sich so und nicht anders vollziehen konnte. Es ist gewiss ein glücklicher Zufall, dass 2007 Detlef Klöckners „Phasen der Leidenschaft“ (Stuttgart 2007) erschien. Seine Hinweise wirken wie eine Blaupause der Geschehnisse. Er schreibt:

„Die Einhaltung der Treueregel ist oft genug ein Pyrrhussieg der Liebe über die Leidenschaft …] Verlangt ist ein Aufeinander-Eingehen, das Einhaltungen anstrebt und Ausnahmen lösungsorientiert kommuniziert, das sich als Paar fördert, ohne sich persönlich zu vernachlässigen. Das ist einfacher ausgesprochen als getan. Manche Paare versuchen ein gutes Klima herzustellen, indem sie eine ungemütliche Unterscheidung bemühen. Sie differenzieren zwischen Situationen, die passieren, also gleichsam körperlicher Untreue und dem übergeordneten Versprechen, im Zweifelsfall zum bisherigen Partner zu stehen. Die bestehende Beziehung hat auf einer höheren Ebene uneingeschränkte Priorität, und vorübergehende Sekundärpartner erhalten den Stempel von Durchreisenden. Darin steckt durchaus eine Lösung zum Erhalt einer vitalen Beziehungskultur, die aber ein enormes Selbstbewusstsein und viel Vergebungswillen erfordert (S. 216).“

Bei unserer ersten Begegnung hatte von uns dreien keiner eine Ahnung, was das nächste Dreivierteljahr uns bescheren würde. Dass wir alle reich beschenkt worden sind, kann sozusagen als Prämisse vorweggenommen werden. Auch fast vierzehn Jahre später begegnen wir uns freundschaftlich, weil wir alle miteinander unsere Lektionen gelernt haben. Ich teile die Auffassung Detlef Klöckners im Hinblick auf den Vergebungswillen vollständig. Dass wir unter dem Strich und auf lange Sicht miteinander eine win-win-win-Bilanz erreicht haben, mag eine gewagte Behauptung sein – und in einzelnen Nuancen von den Beteiligten auch unterschiedlich bewertet werden. Zu verstehen ist meine Annahme nur unter zwei Maßgaben: Erstens beruhte mein Vergebungswille auf einer Vergangenheit, die mich heilsökonomisch – so würde Peter Sloterdijk es ausdrücken – ins Defizit gebracht hatte und zwar in einem so gewaltigen Umfang und aussichtsloser Überziehung aller Konten, dass ich selbst ohne eine Schuldenerlass-Aktion seitens der Gläubigerinstanz nie mehr aus meiner Schuldenfalle heraus hätte gelangen können. Zugegeben, dies ist meine ganz und gar subjektive Sichtweise – nicht jeder würde sie uneingeschränkt teilen –, aber meinem Lebens- und Schuldgefühl entsprach sie zur Gänze. Dies ist im Übrigen der Grund, warum ich so sehr darauf aus bin, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Zweitens bin ich der Auffassung, dass die Lernkurven, die wir genommen haben, insgesamt im Saldo einen außerordentlichen Reifeschub ausgelöst haben. Gewiss sind die Kurvenverläufe unterschiedlich steil. Ich hatte schlicht einen unlauteren Vorsprung, so dass ich schon intensiv im Lerngeschehen war, als die beiden anderen noch träumten.

Es ging alles sehr schnell – vielleicht zu schnell, so dass wir denkenden, fühlenden, kommunizierenden Menschlein gar nicht hinterherkamen: Denkwürdig das Pfingstwochenende Ende Mai 2007. Ich notierte in meinem Tagebuch:

„Ein intensives (verlängertes) Pfingstwochenende – zum dritten Mal innerhalb von vier Wochen besucht uns der Freund; Samstag, Sonntag, Montag. Am Samstagabend gemeinsames Essen mit Rudi, sonntags bei angenehmem Wetter (obligatorische) Wanderung nach Winningen mit traditioneller Rast an unserem Lieblingsplatz und Einkehr in der „Hoffnung“; montags bei Regenwetter immerhin Hundespaziergang bis zum Ausblick „Überm Rath“ hoch über der Mosel. Der Ertrag? Enorm und exorbitant!!! Warum? Es sind Orgien der Selbstvergewisserung in schwierigem Gelände. Der Freund befindet sich auf dem Weg aus der Familie – am 27.6. wird er eine eigene Wohnung beziehen. Er sucht die räumliche Distanz und will versuchen in Verantwortung für die Familie Haus und Lebensstandard zu erhalten bzw. zu garantieren. Er reduziert sich auf gut 50qm. Das hat Rudi vor Jahren bereits realisiert. Er ist ein excellenter Gesprächspartner. Da stimmte die Chemie buchstäblich ohne Fremdeln. Er ist darüber hinaus geübt in der Praxis von Dreiecksbeziehungen. Und wir? Nun, bezogen auf das vergangene Wochenende ist Ergebnis und Befund nahezu eindeutig: Mosaikstein 1 – die Konstellation beflügelt uns! Mosaikstein 2 – In der Nacht von Sonntag auf Montag, nach einem schönen Abend im Landgasthaus Höreth in Kobern gehe ich müde und zufrieden gegen 0.30 Uhr ins Bett. Claudia und der Freund verkosten bis 4.00 Uhr in der Frühe Rieslinge. Sonntags in der Frühe, während ich zum Fußball gehe, absolvieren Claudia und der Freund ihre Einheiten im Kieserstudio. Das finde ich angenehm. Ich finde es entlastend – frage mich immer, wie exklusiv sind da meine Vorstellungen, insbesondere auch bezogen auf die von mir selbst beanspruchten Freiräume? Mosaikstein 3 – Angenehm, von viel Zustimmung getragen, die ‚Männergespräche‘ mit dem Freund; weitgehende Übereinstimmung in Fragen, unter welchen Bedingungen denn Beziehungen überhaupt ‚funktionieren‘ können. Mosaikstein 4 – Recht angenehm, jetzt schon ritualisiert die Vierer-Konstellation unter Einschluss von Rudi: erlaubt das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen und Vertrautheit bei gleichzeitiger Desillusionierung.“

Mitte Juni bricht der Freund einen geschäftlichen Aufenthalt in Dubai vorzeitig ab, weil sein Bruder nach einer OP das Krankenhaus nicht mehr verlässt und innerhalb weniger Tage verstirbt. Die Eltern sind überfordert. Der Freund kümmert sich und bittet uns um Asyl, weil er sich unter den gegebenen Umständen im Elternhaus unwohl fühlt. Die Mail-Kontakte zeugen schon nach wenigen Wochen von einer außerordentlichen Vertrautheit. Es ist ein Schweinsgalopp, der da einsetzt. Der Freund bedankt sich überschwänglich für die gemeinsamen Unternehmungen und ist vor allem gewillt, die Energie und die Erkenntnisse aus unseren nächtelangen Gesprächen in die Reparatur des familiären Desasters einzubringen. Legendär eine der ersten Mails mit dem Auftakt: „Ich bin gegen 16.00 Uhr mit wenig Stau um Köln – die geile Mucke von Van Morrison hat mich da entschädigt – und kleinem Umweg – musste mich zunächst beim Kieser entspannen, bevor ich in die ‚Höhle der Löwin‘ bin.“ Der Tenor ist positiv und zukunftsoffen.

Schon im Juni erreicht mich eine erste mail, mit der die Frau des Freundes das Feld sondiert und in Erwägung zieht, dass es vielleicht wirklich das beste sei, wenn man sich räumlich trenne, um mal Abstand und Ruhe zu bekommen. Aber es wird auch deutlich, warum es zwischen unseren Familien nicht funktionieren konnte. Seine Frau schrieb Ende Juni:

„Schön ist, dass er in euch zwei gute Freunde gefunden hat. Was mich nur an der ganzen Sache ziemlich schmerzt ist, dass er in Claudia eine besonders gute Freundin gefunden hat. Er hat mir jedes Mal, wenn sie anrief, und ich ein großes Unwohlsein vom Bauch her hatte, gesagt, das ist eine gute Freundin. Da ist nichts. Er hat mich die ganze Zeit angelogen, womit ich im Moment furchtbar zu kämpfen habe… Ich muss gestehen, ich habe sein Tagebuch gefunden und darin gelesen. Ich weiß, das tut man nicht, aber ich war so in Brass, da ist es eben passiert.“

Wenn ich die Schlüsselpassage meiner Antwort lese, ist mir sofort klar, dass dies für mein Gegenüber den Eindruck erweckt haben muss, ich sei komplett übergeschnappt. Ich habe aus Susanne Gaschkes ZEIT-Artikel zur Begrüßung eines neuen Jahrtausends der Paarkultur zitiert unter anderem, dass es verboten wäre, dass Partner sich gegenseitig ihr Privatleben aufdrängten, um sich moralisch zu entlasten, und ebenso verboten sei natürlich das Kreuzverhör – einmal ganz zu schweigen davon, dass es ein absolutes No-go sei, das Tagebuch des Partners zu lesen. Und zum Schluss der Totschlaghammer:

„Ich weiß, das ist starker Tobak. Der zwingt uns, dass wir uns unserer Eifersucht und unserem Besitzdenken stellen. Mit einer ausgeprägten Haltung der Kontrolle und des Misstrauens gibt es keinen Weg zurück. Wir sind zwar verheiratet, aber wir sind nicht das Eigentum unseres Partners.“ Das simple Geheimnis unseres Neubeginns liege in einer völlig neuen Bedeutung der Verantwortung, die wir jeweils für uns selbst tragen. Sie solle weder Mut noch Geduld verlieren! Ich wünschte ihnen beiden, dass sie im Gespräch miteinander blieben.

So gänzlich ist mir nicht klar, ob hier ein absolut cooler – und vielleicht auch unterkühlter – Stratege schon akribisch Regie führte, oder ob nicht doch irgendeine Art von Hybris dafür sorgte, dass hier zwar jemand intuitiv, aber doch auch ziemlich unberechenbar an Fäden zog, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wie die Akteure im einzelnen (re-)agieren würden. Schon am 15. Juli unterbreitete der Freund Claudia das Angebot ein kombiniertes Köln-Düsseldorfer Kulturpaket zu buchen. Wenn sie wolle, könne sie bei ihm („ich nehm die Matratze im Wohnzimmer) oder auch sonstwo übernachten: „Ist das ein Angebot?“ Sie solle doch einmal mit mir darüber sprechen. Kurzum: Claudia nahm das Angebot an. Am Horizont winkte in der Tat die von Detlef Klöckner avisierte „lustbetonte und verantwortungsfreie Zeit – frei von aktuellen Belastungen“. Schon am 20. Juli signalisierte der Freund Schlagseite. „Nach zwei für mich wertvollen Tagen mit Claudia ist sie inzwischen wieder wohlbehalten nach Koblenz zurückgekehrt. Darüber bin ich froh.“

Ich war auch froh und wurde Zeuge einer zarten, aber sehr konsequenten Annäherung. Ich erfuhr das außerordentliche Privileg, meine Frau durch die Augen unseres Freundes sehen zu dürfen:

„Du hast eine Frau, die mich fasziniert – wohlmöglich heute mehr als früher. Mir scheint, sie ist wie ein guter Wein, wird mit zunehmender Reife immer noch attraktiver. Aber was erzähle ich Dir? Du weißt das alles selbst, hast mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht, was Claudia Dir bedeutet. Ich mache das an dieser Stelle genauso und kann nur sagen, ich empfinde mehr als Freundschaft, wenn ich mir ihr korrespondiere, telefoniere oder wenn wir zusammen sind.“

Zieht man an dieser Stelle bereits die Reißleine? Nichts lag mir ferner! Nun dachte ich zwar nicht primär an das weiter oben erwähnte heilsökonomische Defizit. Gleichwohl war mit latent permanent gegenwärtig, hier lauere eine Chance aus meiner Schuldenfalle herauszugelangen. Mit Interesse und Faszination las ich das vorläufige Resümee des Freundes:

„Ihr Interesse an meiner Person empfinde ich als sehr angenehm und aufbauend. Nach Paracelsus macht die Dosis die Wirkung. Ich frage mich inzwischen, ob ich nicht schon anfange unter den Folgen einer Überdosis zu leiden, denn nach zwei Tagen Claudia geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Das ist der Grund, wenn ich Dir jetzt sage, ich werde am Wochenende nicht nach Güls kommen, die Quadriga muss ohne mich starten. Ich will meine Entwicklung weiter so positiv fortsetzen und habe das Gefühl, ich muss dazu wieder mehr Wasser unter den Kiel bekommen, brauche Abstand zu Claudia. Ich weiß, was jetzt kommt, Abstand erzeugt Nähe… wirst Du denken. Ich habe aber kein Rezept, als die Droge abzusetzen. Mit allen Nebenwirkungen …] Noch einmal, ich würde liebend gerne kommen, mag Euch alle – Claudia im Moment etwas zu sehr. Jetzt muss ich den Kopf wieder frei bekommen. Da kann es nur gut sein, wenn wir uns am Wochenende nicht sehen.“

Die coole Socke ist hin und weg und zieht selbstverständlich nicht die Reißleine – seine Reißleine. Er schreibt dem Freund, wie gut es ihm geht, seit er sich von der buddhistischen Haltung eines Wu-Wei – eines Handelns durch nicht Handeln inspirieren lasse. Ich signalisierte ihm, dass mir die Geschenke des Lebens – seit ich diese Haltung in mir kultiviere – nur so zuflössen. Reicher sei mein Leben nie gewesen als in den letzten Jahren, woran auch er einen Anteil habe. Ich betonte meine Hoffnung, dass die „offenkundigen bzw. die bekannten Veränderungen dies nicht wirklich in Frage stellen“ sollten. Das war wohl irgendwie ein bisschen eindeutig, andererseits aber nebulös genug, dass der Freund nun vollends auf eine gediegene Sandbank auflief und den letzten Tropfen Wasser unter dem Kiel verlor.

„Der Freund kommt heute (doch). Doch? Ja! Claudia ist eine Naive mit einem kleinen Anteil ‚femme fatale‘. Sie fährt zwei Tage nach Düsseldorf und verbringt zwei Tage bzw. zwei Nächte mit dem Freund und verdreht ihm den Kopf. Es gibt ein Spiel, das nur zu zweit geht. Claudia hat aber mit alldem ‚nichts‘ zu tun. Das heißt schlicht, sie genießt die ihr zukommende Aufmerksamkeit und Wertschätzung, die ‚Nebeneffekte‘ sind ihr unangenehm. Sie möchte, dass es ‚so schön‘ bleibt, wie es war. Der Freund kann/muss noch viel lernen. Warum die Offenbarung. Verfolgt er mehr, sollte er es diskret tun. Will er es ‚beherrschen‘, rationalisieren, sollte er eh schweigen. Zumindest wird es spannend.“

Am 21.7.07 habe ich diese Eintragung in mein Tagebuch vorgenommen. Wer im Erotop wandert und bereit ist, sich die Segel von den erotischen Übertragungsenergien blähen zu lassen, muss zuweilen auch mit stürmischer See rechnen. Adam Phillips kommentiert lapidar: Monogamie, aber drei sind ein Paar (siehe: FJWR: Kopfschmerzen und Herzflimmern, Koblenz 2005). Nach Peter Sloterdijk gehört zur Anthroposphäre prägend das Erototop. Es organisiert die Gruppe als einen Ort der primären erotischen Übertragungsenergien und setzt sie als Eifersuchtsfeld unter Stress. Es markiert Eifersuchtsfelder und Stufen des Begehrens. Sloterdijk meint, das erotische Feld werde unter Spannung gesetzt, indem die Gruppenmitglieder durch eine Art von begehrlich-argwöhnischer Aufmerksamkeit ein Eifersuchtsfluidum entstehen ließen, das durch prüfende Blicke, humoristische Kommentare, herabsetzende Nachreden und ritualisierte Konkurrenzspiele in Zirkulation gehalten werde:

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt (umso mehr), sobald ich annehmen darf, dass ein anderer dich liebt und deine schöne Gestalt ihn genügend reizt, um dich in Besitz nehmen zu wollen.“ Zur Gruppenweisheit – so Sloterdijk – gehöre ein Eifersuchtsmanagement, das die Selbstirritationen in einem lebbaren Tonus halte.

Ich hatte sozusagen in dieser Disziplin 2005 mit Kopfschmerzen und Herzflimmern habilitiert. Die von mir zusammengetragenen Theoriebausteine traten nunmehr ihre ultimative Bewährungsprobe an. Mir war klar, dass ich mich in dem von Sloterdijk reklamierten Eifersuchtsmanagement zu bewähren hatte. Bis zur Verteidigung meiner Theorie sollte ich noch ziemlich genau ein halbes Jahr Zeit haben; Zeit, in der ich aus der (vermeintlich) komfortablen Position eines Beobachters zweiter Ordnung den Sturmlauf eines liebestrunkenen und liebesblöden Hasardeurs vor Augen geführt bekam; im Übrigen eine Rolle, die mir bestens vertraut war (siehe erstes Kapitel dieser Aufzeichznungen). Nur dass das Objekt der Begierde meine Frau war. Ich erinnerte mich der Analysen Sloterdijks. Seine Annahme, dass je ruhiger der Besitz gepflegt werde, desto eher die Eskalation verhindert werde, war zu überprüfen. Denn im Verbot mache sich bereits die Anwesenheit des Dritten bemerkbar,

„der bereits zwischen Mich und Dich getreten ist […] Da aber weder Verbote noch Tabus die schielende Aufmerksamkeit auf das fremde Gut neutralisieren können, sondern eher zur Fokussierung der Begehrens auf das Entzogene beitragen, müssen fortgeschrittene Kulturen zu einer aktiven Desinteressierung der Menschen gegenüber den Objekten ihrer Eifersucht übergehen.“

Soweit der gute Peter Sloterdijk. Schon am 31. Juli (2007) kann ich in meinem Tagebuch nachvollziehen, wohin die Reise gehen sollte: Claudia und der Freund haben sich schon vor vielen Wochen in die Hand versprochen, gemeinsam Ski zu laufen. Und ich mag kaum glauben, dass ich in Sloterdijkscher Bierruhe notiert habe:

„Claudia begibt sich nach der Liebeserklärung des Freundes (die natürlich auch seiner Frau gegenüber alte Vorurteile und Einschätzungen bestätigt) in eine Situation, in der sie genau weiß, dass sie mehr ist als nur eine gute Freundin. Und eine solche Ausgangslage in einer Umgebung, die Claudia (die leidenschaftlichste Ski-Läuferin, die ich kenne) vermutlich erst so ganz und gar zu sich kommen lässt (in einer nicht vermeidbaren Zweisamkeit) - die halte ich für brisant und prickelnd. Sie unterscheidet sich auch von der Düsseldorfer Exkursion, insofern sie – Claudia – jetzt weiß, was sie vorher nur vermuten konnte! Das heißt, auch Claudia wird sich weiteren Entwicklungsschritten und Anforderungen stellen müssen, ob sie will oder nicht (da sollte man vermutlich schon eher wollen).“

Nun ja, sieben Wochen später hatten wir uns in einem stabilen Dreieck eingependelt; daneben war Rudi oft mit von der Partie. Zum 51sten Geburtstag von Claudia gab es Rosen über Rosen – die meisten und die schönsten von unserem Freund. Auch die alten Griechen wussten schon, worauf es ankam; Epicharmos (550 v.Chr. – 460 v.Chr.) wird der Aphorismus zugeschrieben: „Ein weiser Mann scheut das Bereuen, er überlegt seine Handlung vorher.“ Auch die alte Sloterdijksche Definition von Diskretion lässt sich hier bemühen, wonach diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll. Die gemeinsamen Ski-Exkursionen standen schon in Aussicht, als ich für mich vermerkte – am 20.09.2007:

„Das Wochenende naht. Erstmals seit langer, langer Zeit begibt Claudia sich auf eine Fortbildung – von Freitag bis Sonntag; erstmals seit längerer Zeit ist dies ganz sicher auch ein Wochenende ohne den Freund. Auch er hat seinen Anteil daran, dass Claudia nun konsequenter erste eigene Schritte macht. Immerhin verbringt sie drei Tage an der Nahe mit Menschen, die sie allesamt nicht kennt. Ich freue mich darüber.“

Erst vier Jahre später - ich bearbeite die Steuererklärungen (auch für 2007) stelle ich fest, dass der gute Freund mit Claudia gemeinsam teilgenommen hat an diesem Zeichenkurs. Er hat sich im Übrigen auch schriftlich bei Claudia für diesen Zeichenkurs bedankt. Claudia hatte eine ursprünglich für Laura reservierte Buchung (nach deren Abspringen) für den guten Freund umgewidmet und auch buchungstechnisch beide Rechnungen beglichen. Es gehört mit zu meinem ungestillten Bedürfnis nach Schuldenerlass diese nun auch diskreten Strategien nüchtern einzuordnen – gewissermaßen als Auftakt zur Wiedergeburt des guten Freundes dort, wo vor 35 Jahren alles begonnen hatte. Die erste Woche der Herbstferien im Oktober war der Auftakt zu einer Reihe von Schi-Exkursionen, in deren Verlauf sich vielleicht auch erstmals die Frage stellte: Wer ist das Paar – wer und was passt hier zusammen. Die zweite Exkursion über den Nikolaustag hinweg nahm Claudia als Geschenk an und schrieb der Restfamilie:

„Ihr Lieben, finde es wirklich gut, dass Ihr mich bei meinen Ski-Touren unterstützt. Ich weiß genau, dass ohne Euch, ich diese Fahrten nicht machen könnte – allein schon wegen des Heyerbergs; habe außerdem den besten und tolerantesten Mann geheiratet, den man sich nur wünschen kann. Hoffe, Ihr habt einen schönen Nikolausabend, entspannte Tage ohne Mama/Moselperle. Hab Euch sehr lieb!!! Lasst die Bude stehen und sorgt für Biene!

Wahre Toleranz hat gewiss etwas von Selbstlosigkeit/Altruismus; man schreibt diese Haltung eher Engeln und anderen Außerirdischen zu. Es zeigt sich an meinem Tagebucheintrag vom 10.12.2007, dass ich zwar ein wenig weltentrückt erscheine, dabei aber ganz weit weg von der Haltung eines selbstlosen Menschenfreundes:

„Du kannst den Zauber nur selber nehmen; den Zauber und die Gelassenheit einer fragilen Situation, die nur Leichtes, Beglückendes und Positives für alle Beteiligten enthält. Du musst nur beginnen darüber zu reden und Eindrücke erwecken, die unangemessen sind. Das ist ein ausgeklügeltes, fragiles Gebilde, in dem der Freund und ich genau wissen, was wir zu tun und zu lassen haben. Nichts von alledem bedroht irgendwen, nichts von dem nimmt irgendwem irgendetwas – alle gewinnen …] Wäre es anders, würde all das, was uns gegenwärtig beschwingt und beglückt, vielleicht unwiederbringlich zerstört, zumindest irritiert. Ich weiß das, und ich lebe danach. Zum ersten Mal in all den Jahren herrscht diese unbedingte Entschiedenheit vor, von der Karl Otto Hondrich spricht, kein Taktieren, keine Unklarheiten, keine Rückfälle in alte Welten mehr. Von Anfang an habe ich die einmalige Chance begriffen und sie auch ergriffen, die in des Freundes Avancen und in seiner Offenbarung begründet liegen – ohne Angst; die habe ich auch nicht mehr vor mir selbst. Diese Haltung gibt mir Kraft und Sicherheit. Sie erlaubt mir ganz und gar zuerst bei mir selbst zu bleiben, ansonsten gäbe es den Freund in meinem Leben schon lange nicht mehr, womöglich keinen Heyerberg und auch keine Claudia mehr. Das alles ist so fundamental anders als noch vor zehn Jahren.“

Zukunft braucht Herkunft sagt Odo Marquard. Für die Zukunft erhoffe ich ein Fürsorgliches Finale! Wir schreiben inzwischen immerhin das Jahr 2021! Dass diese Hoffnung überhaupt im Raum steht, verdankt sich entscheidend der Tatsache im beginnenden Jahr 2008 nicht die Nerven verloren zu haben. Selbst diejenigen, die im Rückblick pauschal davon ausgehen, irgendwie im Leben klargekommen zu sein, werden unruhig, wenn sie sich nicht nur pauschal, sondern noch einmal en detail einlassen sollen auf das, was seinerzeit ihre Lebenswirklichkeit ausgemacht hat. Nun ist das zweifellos mit der Wirklichkeit so eine Sache. Ich will sie nicht überstrapazieren, sondern werde nun nach einem langen Auftakt den Zusammenhang zwischen Durchreise und Landnahme sehr kompakt wiedergeben:

Claudia und der Freund beschlossen – innerhalb eines Vierteljahres – über die Karnevalstage die dritte Ski-Exkursion – dieses Mal ins Montafon, das uns aus langjährigen eigenen Ski-Unternehmungen vertraut war. Mit zunehmendem Alter – und je nach Charaktertyp, Prägungen und Grundeinstellungen – schätzen Menschen den Zustand der Äquilibration. Damit beschreibt Jean Piaget einen Zustand, der uns nahelegt – geknüpft an ein authentisches Erleben – alles sei im Lot, in einem stabilen Gleichgewicht. In der Regel beruht diese Wahrnehmung auf einer (Auto-)Suggestion und verdeckt die Tatsache, dass wir ständig zwischen Assimilation, die uns leicht(er) leben lässt und Akkomodation hin- und herpendeln. Ständig sind wir gefordert zu prüfen, ob Geschehnisse, Anforderungen, Zumutungen eher mühelos in bestehende Problemlösungs- und Bewältigungsmuster zu integrieren sind, oder ob sie uns zu einer Erweiterung der gewohnten Muster veranlassen. Manchmal reicht der Hinweis: „Bring das in Ordnung, und wir reden nie wieder darüber!“ Manchmal reicht dieser Appell jedoch nicht hin. Mir lag ein solcher Kurzschluss ohnehin fern. Immer noch überwogen die Motive zu einem gediegenen Kontenausgleich.

Ein merkwürdiger Zufall fügt es, dass kein Geringerer als Bernhard Schlink in seinen 2020 veröffentlichen Abschiedsfarben in der von ihm konstruierten Dreiecksgeschichte den männlichen Hauptprotagonisten, Bastian, so agieren lässt, dass es zu einem Wochenendtripp  ins Montafon kommt. Von Seite 139 an beschreibt er die Fahrt – hoch in Gargellener Tal: „Dann kamen die Kurven, in denen sich die Straße zum Tal hochwand, dann das Tal, schneeweiß, sonnenbeschienen. Schon von weitem sah er die Pisten und die Lifte und die Skifahrer und Skifahrerinnen, zum Glück nicht viele …] Sie fuhren Ski, bis die Lifte abgestellt wurden. Sie lieferten sich kleine Rennen, überraschten einander mit plötzlichem Abschweifen von der Piste, fuhren vor- und hinter- und nebeneinander, als sei’s ein Tanz, saßen schwatzend und lachend im Lift. Als sie sich nach Sauna und Dusche zum Abendessen trafen, waren sie von schwereloser, beschwingter Müdigkeit…“

Claudia liebt genau diese beschwingende Atmosphäre, die tiefverschneiten Alpentäler – tagsüber bei strahlendem Sonnenschein und gegen Abend, mit einsetzender Dämmerung begleitet von leichtem Schneefall, der anderntags die Pisten bestens präpariert und die Welt einmal mehr in zauberhaftem Glanz erstrahlen lässt. Es fällt mir sogar leicht, zu begreifen, dass kaum eine eindrücklichere Wahrnehmung, kaum ein authentischeres Erleben vorstellbar ist, dass uns gleichzeitig unserer Endlichkeit vergewissert; ein memento mori der zuckersüßen wie der bitteren Art. Im Rückblick wissen wir – Beteiligten – alle miteinander, dass dieser Urlaub für den Freund den point of no return ausgelöst hat. Von nun an galt die Devise: Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Alle Schranken und jede durch Loyalitätsimpulse begleitete Selbstdisziplinierung wurden orkanartig hinweggeweht. Auch wenn der reale, meteorologisch dokumentierte Orkan Emma erst am Tag des Showdowns – an einem Tag den es eigentlich nicht gibt, am 29. Februar – die Bühne weltuntergangsverheißend betrat, bewegten wir uns nach den Gargellener Tagen in stürmischer See. Der Freund bekundete seine feste Absicht künftig in Bigamie zu leben und machte meiner Frau einen Heiratsantrag und ließ keinen Zweifel mehr daran, dass Claudia die Frau seines Lebens sei.               

Ein kleiner Rückblick in das Jahr 1978:

Wie schreibt Detlef Köckner so verheißungsvoll: „Manchmal sehnt man sich auch nach der guten alten Zeit zurück. Was läge näher als Verflossene und Vergessene auferstehen zu lassen, die mit lustbetonten und verantwortungsfreien Zeiten assoziiert sind, die genügend anders sind, um sich mit ihnen in den Zustand der Zeitlosigkeit zurückzuversetzen, in einer Atmosphäre zu wiegen, die frei ist von aktuellen Belastungen.“ Der Freund knüpfte an alte Zeiten an. Er war Claudias erster Freund. Die familiäre Enge und die Bedrängnisse beider schweißten sie zu einer Liebes- und Leidensgemeinschaft zusammen. In Briefen tauschten sie sich über ihre Nöte aus und fanden Trost in Gemeinsamkeit – in gemeinsamen Unternehmungen auf Augenhöhe; beide sind excellente Ski-Läufer. Das Fluidum dieser frühen Gemeinsamkeit erschloss sich in der gemeinsamen Lektüre dieser Briefe, die der Freund sorgfältig gehütet hatte, wie auf wundersame Weise, Vergangenheit und Gegenwart zerflossen in sich wechselseitig durchdringenden Interferenzen.

Aber kehren wir noch einmal kurz zurück in den Dezember 1978 – als mir Claudia bereits die Sinne vernebelte und mich wenige Wochen später zu semi-kriminellen Handlungen motivieren sollte. Kurz vor Weihnachten kam es zu einer amüsanten Begegnung in der seinerzeit einzigen Studentenkneipe, die Koblenz aufzuweisen hatte. Gemeinsam mit einem Wohngemeinschaftskumpel, meinem Bruder und dem verrückten Jopa (das ist der Meisterfotograf, der unsere Kindheit in ikonografisch so beeindruckender Weise verewigt hat – jenes Foto, das mich als einzigen Überlebenden der K9-Gang zeigt) waren wir zu einer Kneipentour aufgebrochen, ohne Frauen, die schmollend zu Hause saßen. Im Armen Josef kam es dann zu einer Zufallsbegegnung mit einer anderen – allerdings gemischten – Viererbande. Claudia war mit dem weiter oben bereits erwähnten R. – Claudias dritter, ohrfeigenerprobter Lebensgefährte –, einer Freundin und eben jenem besagten Freund, der in diesem Kapitel die Hauptrolle spielt, gleichermaßen auf einer Kneipentour. Es kam an diesem Abend im Armen Josef nur zu einem kurzen smalltalk. Jahre später erinnerten wir uns gemeinsam der durchaus delikaten Hintergründe, so dass ich heute die Kontinuitätsgedanken – man könnte auch von Vorhersehung sprechen – des guten Freundes durchaus nachvollziehen kann. So ziemlich genau dreißig Jahre später sollte die Vorsehung endlich zu ihrem Recht kommen. Es galt eben nur noch Claudia davon zu überzeugen.

Ich habe am 26.2.2008 um 4.10 Uhr folgende Eintragung im meinem Tagebuch vorgenommen – keine Bange: Alle Wiedergaben sind hygienezertifiziert und jungendfrei; dabei wird es auch im Fortgang meiner Erzählungen bleiben, deren einziges Motiv darin besteht, dem Unglauben und er Dankbarkeit eine Sprache zu geben, dass Claudia und ich uns heute tatsächlich auf ein gemeinsames fürsorgliches Finale einrichten!

„Fünf Tage nach meinem Geburtstag scheint sich etwas anzudeuten, wie eine Zeitenwende – ein Datum, das Vorher und Nachher deutlich voneinander scheidet. Über das schimmernde Glück, über das unbeschwerte einer silber geadelten Ehe scheint sich nun doch der Schatten einer beschwerten und von den Dynamiken des Eros beflügelten Zukunft zu senken. Des Freundes Mail vom Juli 2007, mit der er mir gegenüber seine Liebe – damals vielleicht noch seine Verliebtheit -  offenbart, hat Ende Februar eine Dimension erreicht, die uns alle einer nunmehr doch nicht mehr so ohne weiteres steuer- und kontrollierbaren Dynamik aussetzt: Der Freund ist am Samstag auf meine Einladung hin unser Gast gewesen. Nach einem schönen Samstag in seiner inzwischen ritualisierten Form (Wanderung nach Winningen – Abendessen in der Hoffnung – anschließend Wolf Maahn im Café Hahn) haben Claudia und der Freund ihr eigenes Ritual (Trinken bis in die frühen Morgenstunden) gepflegt. Wie will man mit der Frau seines Lebens leben?“

Es deutete sich ein Dilemma an, das wir wohl alle miteinander unterschätzten; selbst ich geriet jetzt in eine Situation, die durch ein Handeln im Sinne eines Nicht-Handelns, wohl kaum noch zu händeln war. Hier spielte nun Vieles ineinander, was einer schnellen Lösung des Dilemmas Vorschub leistete und einen weiteren Handlungsstau nicht zuließ. Eigentlich war das Ende einer Haltung markiert, die – wie man so treffend bemerkt – als Gestalt gewordene Inkonsequenz irgendwann nicht mehr trägt: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ führt schließlich zu einem Realitätsverlust, man könnte auch sagen zu einem Hitzestau, der nach Lüftung giert. Dass die Triebabfuhr nun mit Emma zu einem aufgewachsenen Orkan geraten musste, war letztlich auch nicht mein Wunschtraum. Im gediegenen Rückblick nach immerhin inzwischen mehr als 13 Jahren liest sich der letzte Akt dann auch wie das Drehbuch zu unserer Lieblingsserie – Claudia und ich lassen keine Folge des Bergdoktors aus (und wenn wir tatsächlich einen aktuellen Sendeplatz verpasst haben, muss das über die Mediathek nachgeholt werden).

Wir handelten das Drehbuch gemeinsam aus – unter Beteiligung aller drei Protagonisten (sollte mich der Mut nicht gänzlich verlassen, werde ich der Geschichte irgendwann auch einmal den ihr gebührenden literarischen Rang verleihen). Hier sei nur so viel angedeutet, dass ich so tapfer war, Claudia zu begleiten an den Koblenzer Hauptbahnhof. Dort ist sie in den Zug nach Düsseldorf gestiegen und am 29. Februar – das ist der Tag, den es nicht gibt – mit dem Freund wieder nach Koblenz zurückgekehrt. Emma erreichte in der Nacht vom 28. auf den 29. Februar Spitzengeschwindigkeiten bis zu 150km/h. Ich verbrachte diese Nacht alleine – wachend und schreibend; anders hätte ich nicht standgehalten:

Ich danke Euch für diese Nacht

Es ist ein Sturm in dieser Nacht.
Er tobt wie ein Orkan in meinem Herzen,
Hat mich um meine Seelenruh gebracht,
Gebar die Mutter aller Schmerzen.

Das Wüten der ganzen Welt in meiner Seele,
Doch mein Verstand bleibt kühl und klar:

Von nun an können alle sehen
Und müssen sich und andre überstehen.
Ein Sturm zieht über's Land,
Regiert gebieterisch mit harter Hand.

Und was uns ankommt hart und süß zugleich,
Das macht uns arm und reich zugleich.
Dionysos regiert in dieser Welt,
In der kein Stein den andern hält.

Er lässt die alte Welt vergehen,
Und eine neue wird entstehen!

Dionysos, der Gott des Leidens und des Sterbens
Treibt die Veränderung und drängt das Leben.
Der Eros ist die Sprache allen Werbens
Und lässt die Seelen ungleich beben.

So lad ich uns nun alle ein
Den Weg zu gehen - gemeinsam und allein!

Wie sehr liebst Du - mein lieber Freund - dies einzigartig Weib,
Nimmst einen Ehegatten gar in Kauf?
Ich liebe diese Frau, bei der ich bleib
Seit vielen Tagen schon, in denen Du bestimmst der Welten Lauf,

Ich liebe sie und kann's ertragen
Und will den Weg in die ménage à trois gar wagen;
Wohlwissend das an den Tag da drängt,
Was alte Ehen treibt und engt!

Doch bleibt Dein Weg ein Weg zu Dir;
Er führt Dich hin zu ihr und ihr!
Und Freundschaft mag uns zeigen,
Wohin sich unsre Herzen neigen.

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund