Ich schreibe, also bin ich! (19)
Und nun stellt sich die Frage erneut: Welche Welt tritt da zutage zwischen Wahlmöglichkeiten, Festlegungen, zwischen Nähe und Ferne, zwischen Symmetrie und Asymmetrie?
Die letzten 25 Jahre habe ich darüber geschrieben, dass ich nichts anderes konnte als Achterbahnfahren – eine sanfte Achterbahn im Großen und Ganzen, so dass die lange Fahrt mich zeitweise einlullt(e). Dass es eine sanfte Achterbahn war, ist selbstverständlich nichts als eine Selbstbeschwichtigung und hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Die Schwindelattacken setzen unvermittelt ein, wenn ich mich tatsächlich einlasse auf das, was man eine authentische Wahrnehmung des eigenen Driftens in der Welt nennen könnte. Ich vertrage Achterbahnfahrten nicht. Das ist der Grund, warum ich in den Momenten des Absturzes nie das Gefühl hatte, dieser Absturz nähme ein Ende; mir war sterbenselend zu Mute. Allerdings all dies nicht, ohne dass ich vorher in schwindelnde Höhen aufgestiegen wäre wie weiland Ikarus. Im Gegensatz zu ihm habe ich meinen finalen Absturz und alle kleineren Abstürze überlebt, denn: Ich schreibe, also bin ich! Woher ich das alles weiß. Seit 22 Jahren führe ich Tagebuch. Wenn ich eine Ahnung bekommen will davon, wie es war, dann schaue ich in meine Tagebücher. 42 Jahre (siehe: Am Anfang war die Tat) geraten – neben dem Vorher – in den Blick. Fast 368.000 Stunden haben sich addiert. An diesem unvorstellbaren Stundenhaufen lässt sich erahnen, wie Körper und Seele über diese Zeitspanne jene Gestalt annehmen; eine Gestalt vor der wir gleichermaßen erschrocken wie fasziniert innehalten, wenn wir zurückschauen – und vor allem, wenn wir in den Spiegel schauen. Zorn und Schmerz haben ihre Falten und Furchen gegraben, und wenn es gut geht, hinterlassen sie ihre sichtbaren Spuren ebenso wie die offene und verhaltene Freude, wenn wir die Früchte ernten und betrachten, die uns ein langes Leben geschenkt hat.
Ins Erzählen komme ich allein schon deshalb nur mühsam und mit ständigen Vorbehalten, weil Skrupel und Ängste überwiegen. Die Sloterdijksche Devise, dass diskret sei, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll, bedeutet in Selbstanwendung die fatale Konsequenz, sich immer wieder und immer neu zu verfehlen. Man merkt ja – wie Dirk Beacker meint –, „dass man anfängt, zu viel zu wissen und etwas zu wissen, was man so dann doch nicht wissen will“. Wem will man schon zu nahe kommen? Das ganze Geheimnis eines angenehmen Lebens gründet auf der Kunst des Abstands. Dir Baecker schreibt:
"Es ist die Kunst des Abstands, von der hier die Rede ist. Es ist eine Kunst, die mit der Distanz, mit der Differenz, mit dem Unterschied beginnt und sich von dort aus die Verhältnisse anschaut, um sich dann in ihnen und mit ihnen zu entscheiden. Es ist eine Kunst, die in der Lage ist, jede Einheit in eine Beziehung zu übersetzen und aus der Beziehung heraus zu variieren. Wer am längsten stillhält, hat verloren. Wem jene Bewegungen einfallen, die auch den anderen zu einer Bewegung verleiten, hat gewonnen. Leichter gesagt als getan. Aber deswegen reden wir ja auch von einer Kunst. ‚Nahe genug‘ ist mir das, wozu ich einen Abstand suche, weil ich die Beziehung nicht aufkündigen möchte. Ich übersetze fest Kopplung in lose Kopplung, rechne nicht mit der Zukunft, sondern mit der Gegenwart, und weiß, dass die Wahrheit Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen.“
Ja, die Wahrheit hat Gründe, ihre Gründe nicht sehen zu lassen! Um diese Blockade zu überwinden hilft nur eines: Ich muss das Pferd – meine Geschichten – von hinten aufzäumen. Diese Vorgehensweise bietet den großen Vorteil, dass ich mich sozusagen rückwärts hineinarbeite in eine verrückte Welt, die ich eher ungläubig betrachte ob der Tatsache, dass ich sie überlebt habe. Bereits die Mohnfrau stellt den Versuch dar, das schier Unglaubliche begreifbar zu machen. Ich möchte es erneut versuchen. Dirk Baecker hilft meine Vorgehensweise und meine Motive präzise zu entziffern. Es hilft zunächst einmal mit Blick auf die letzte große Krise zu verdeutlichen, dass mir eine unendlich lange – und zuletzt steile – Lernkurve die Chance eröffnet hat, Handeln zurück in Kommunikation zu übersetzen. Ein überaus delikate und bemerkenswerte Konstellation über Wochen und Monate – und in modifizierter Form über Jahre – hat nicht verhindert, dass wir – Claudia und ich – glücklich sind, in diesem Jahr vor unserer Rubinhochzeit zu stehen. Allein in dieser Tatsache manifestiert sich das vorstellbare Glück in seiner umfänglichsten Dimension: Wir begegnen uns heute – nach vierzig Jahren – mit Blick auf ein fürsorgliches Finale. Wir sind gesegnet mit unseren Kinder und Schwiegerkindern. Unsere Kinder haben uns – in einem unmittelbaren Umfeld, das Abstand und Nähe ermöglicht. Wir haben inzwischen zwei Enkelkinder, und es könnten mehr werden. Generativität erleben wir als großes Glück. So bedeutet das späte Glück – einen starken Anker in den erodierenden sozialen Gefügen; ein solides Fundament der Bindung, der Geborgenheit, der Zugehörigkeit und der Entschiedenheit in einer dynamischen Welt.