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Spurensuche II: Vom Familien- zum Sippenkontext (8)

Der Schreiber dieser Aufzeichnungen lernte ja nicht nur seine zukünftige Frau kennen. Ihm wuchs im Alter von 27 Jahren nun tatsächlich eine zweite Familie zu, seine Schwiegerfamilie – bestehend aus Vater, Mutter, Kind. Sein künftiger Schwiegervater war 1979 fünfundfünzig Jahre alt (Jahrgang 1924), seine künftige Schwiegermutter (Jahrgang 1923) ein knappes Jahr älter. Die Spannungen, mit denen er sich hier konfrontiert fühlte, waren zu Beginn nicht wirklich durchschaubar.

Die Rothmunds – beide selbstständige Existenzen –, sie als Schneidermeisterin von Ruf, er als freier Architekt, bastelten beharrlich an ihrer Altersvorsorge. Bei nur bescheidenen Aussichten auf Rente, sollte das Alter durch Immobilien gesichert werden. Früh – zu Beginn der fünfziger Jahre – hatte Claudias Mutter – das mittlere von sieben Geschwistern –, noch vor der Heirat mit Leo Rothmund, gemeinsam mit ihrem Bruder, Ignaz, ein Haus im Übergang von Metternich nach Lützel – im sogenannten Pollenfeld gebaut – ein zweigeschossiges Haus mit ausgebautem Dachgeschoss. Von Claudias Großmutter wurde das umgebende Gelände (unterstützt durch den oben erwähnten Bruder Ignaz, der mit seiner Familie das erste Obergeschoss bewohnte) seinerzeit und darüber hinaus noch als landwirtschaftliche Erwerbsfläche für den Anbau vor allem von Obst (Kirschen, Erdbeeren) genutzt. Nach der Heirat mit Leo am 21.2.1952 (das ist im Übrigen der Geburtstag des Chronisten) erhielt das Gebäude im Erdgeschoss einen Anbau zur Errichtung einer Werkstatt für die Schneiderei. Leo Rothmund, der Schwiegervater, stammte selbst aus einem bäuerlichen Haushalt in Ittendorf/Markdorf am Bodensee, ca. acht Kilometer von Meersburg aus im Hinterland gelegen. Er war das jüngste von drei Geschwistern – Halbweisen, die ihren Vater Ende der zwanziger Jahre schon verloren hatten. Ernst, der ältere Bruder ist im Zweiten Weltkrieg gefallen, Klärle, die um drei Jahre ältere Schwester, war ausgebildete Krankenschwester und gehörte nach Aussagen ihres Bruders Leo zu den sogenannten braunen Schwestern. Dies wird noch eine bedeutsame Rolle spielen. Jedenfalls sollte sie im Dorf bleiben und nach ihrer Heirat mit Emil Lang den Bauernhof übernehmen. Leo, der sich 1942 – eben achtzehn Jahre alt – freiwillig zur Wehrmacht meldete, um sich die Waffengattung – die Luftwaffe – aussuchen zu können, kehrte kriegsversehrt zurück und entschloss sich gegen Widerstände Maschinenbau am Konstanzer Technikum zu studieren. Er hatte eine Ausbildung als Maschinenschlosser bei der Firma Maybach in Friedrichshafen abgeschlossen und erhielt nach einer Aufnahmeprüfung die Zulassung zum Studium. In Koblenz landete er dann auf der Flucht vor einer vermeintlich in Aussicht stehenden Vaterschaft – fortgeschickt von Mutter und Schwester zu einem Onkel – in Koblenz-Metternich. Mit auf diese Flucht nahm er sein Geheimnis. Wie alle Geheimnisse entfaltete es eine Langzeitwirkung. Zunächst einmal ging alles recht zügig seinen Gang: Heirat, wechselnde Arbeitsverhältnisse, kurze Verweildauer beim neugegründeten Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (hier hat Leo sich ein Strafverfahren wegen Aktenveruntreuung eingehandelt, das er letztlich in einem mehrere Jahre dauernden Prozess gegen seinen Arbeitgeber, die Bundesrepublik Deutschland, gewonnen hat – mit Entschädigungsanspruch und vor allem Anspruch auf Wiedereinstellung, die er dann als unzumutbar zurückgewiesen hat). Denn er war da bereits Vertragsarchitekt bei der Landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft. In den frühen sechziger Jahren hat er erfolgreich einen Antrag auf Zulassung als freier Architekt bei der Architektenkammer gestellt, um dann als Self-made-Man durchzustarten und als Workaholic und Berserker sein Ding zu machen. Schon zu Beginn der sechziger Jahre entstanden zwei Mehrfamilienhäuser in Koblenz-Metternich, 1967 erfolgte der Neubau des Familiensitzes in Koblenz-Güls (das Haus, das wir nach Umbau und Sanierung seit 2020 bewohnen).

Diese etwas ausholenden Hinweise eines Chronisten sollen ansatzweise biografische Hintergründe und vor allem die Bemühungen um eine angemessene Altersvorsorge verdeutlichen – just in der Phase, da ein potentieller Schwiegersohn die Bühne betrat. Denn 1978/79 hatte Leo Rothmund damit begonnen in Koblenz-Güls ein weiteres Mehrfamilienhaus zu erstellen, das Ende 1979 neun potentiellen Mietern Wohnmöglichkeiten eröffnen sollte. Die Rothmunds hatten mit ihrer Tochter – wie man so schön sagt – schon einiges mitgemacht und erlebt. Die früh schon erkennbaren Spannungen zwischen allen Dreien – Vater, Mutter und Tochter – verdankten sich augenscheinlich einem üppigen Nährboden. Der erste der potentiellen Schwiegersöhne aus neureichem Haus in Neuwied-Feldkirchen war angenehm, akzeptiert; es gab sogar einen gemeinsamen Urlaub der beiden Familien – ich glaube im Schwarzwald. Er wäre ein passabler Schwiegersohn geworden, war aber schlicht zu früh dran (später sollte dies im Leben der beiden noch einmal eine bedeutsame Rolle spielen). Claudia blieb nicht beim ersten Besten; sie tat sich um in der Männerwelt und angelte sich durchaus hochkarätige und ansehnliche Kerle. Die Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag eines in den siebziger Jahren landesweit erfolgreichen Vertragsspielers auf der Tennisbühne liegt vor mir. Kein geringerer als jener stadtbekannte Womanizer sollte es sein; danach ein stadtbekannter Gigolo, der im Laufe seines vertrackten Lebens durch windige Geschäftspraktiken das Häuschen seiner Eltern verzockte. Gerade Letzterer rief Leos erbitterten Widerstand auf den Plan. Alle Register der Ausgrenzung – inclusive Hausverbot – wurden gezogen; schon auch ahnend, damit die eigene Tochter erst recht in seine Arme zu treiben. Im Zuge dieser Konflikte verschwand dann Claudia auch für einige Zeit und besann sich erst auf Intervention der guten Seele – der Mutter besagten Hasardeurs – die eigenen Eltern vorerst zu beruhigen, indem sie immerhin telefonisch vernehmen ließ, dass sie wohlauf sei und dass es ihr gut gehe. Die finale Trennung von R. – er hatte schon seine erste tragende Rolle zu Beginn meiner Aufzeichnungen – ist ebenfalls eine kleine Reminiszenz wert; ich erzähle sie nach Claudias immer wieder kolportieren Erinnerungen:

Claudia hatte sich – von Fernweh geplagt – dazu entschlossen mit R. eine Reise – ihre Standardreise, zu der sich mich auch verlocken sollte – in den Süden zu machen; in die heißgeliebte Provence (die sie bereits mit W.H. erkundet hatte) und weiter nach Spanien. In Spanien trug sich dann das von Claudia so oft und süffisant erzählte Erweckungserlebnis zu. Das morgendliche gemeinsame Frühstück wurde im Wechsel der beiden organisiert. Während der eine duschte, bereitete der andere das Frühstück und besorgte Croissants. Eines Morgens beobachtete Claudia unbemerkt, wie R. bei Auftragen die Croissants miteinander verglich und gewissermaßen mit den Händen abwog und das für zu leicht befundene auf Claudias Teller platzierte, während er sich das vermeintlich größere zuschanzte. Claudia erklärt dies sei für sie sozusagen gleichbedeutend mit der exemplarischen, stellvertretenden Offenbarung der charakterlichen Schwächen des einst geliebten Gefährten gewesen – der Augenöffner par excellence! Die Reise ging zu Ende und die Liebesbeziehung der beiden gleichermaßen. R. hatte Mühe das zu realisieren und die zu Beginn der Aufzeichnungen erwähnte Ohrfeige gehört just in diesen Kontext.

Worauf hatte nun Leo untrüglich gewartet? Selbstverständlich auf einen schwiegersohntauglichen Kandidaten, der endlich die Besorgnisse der letzten Jahre vergessen machten könnte. Dem Erzähler nimmt es noch heute den Atem, wenn er sich das Tempo vor Augen führt, mit dem Leo Rothmund jemandem, der gerade dabei war, seine Unschuld vollends zu verlieren, ins Vertrauen zog und dabei offenkundig etwas erkannte, was dem so Erkorenen selbst noch gar nicht in den Blick kam. Leo hat als Fremder über diesen Vertrauensvorschuss hinaus – auch in Krisenzeiten – durch ein nie infrage gestelltes Vertrauen zweifellos die besten Seiten in mir zum Vorschein gebracht. Aber dem soll hier keinesfalls vorgegriffen werden.

Wir – das neue Paar – gerieten unversehens in eine komfortable Situation, die dazu führte, dass der Chronist im Rückblick dazu verleitet bzw. veranlasst wird, nicht nur über ein Leben zu erzählen, sondern – vielleicht einer Katze ähnlich – über die sieben Leben, die ihm auf einmal zuwuchsen und auch zur Zumutung wurden. Zugegeben: es waren keine sieben Leben, aber doch so viele, dass die Gefahr wuchs, den Überblick und die Kontrolle zu verlieren: Schon im Herbst 1979 stattete mich Leo Rothmund mit sämtlichen Vollmachten aus, um seine Häuser bzw. Wohnungen zu verwalten und die Vermietung des neun Wohneinheiten umfassenden, noch in der Bauphase befindlichen aktuellen Projektes zu organisieren. Gleichzeitig bot er uns an, eine der Wohnungen so herzurichten und auszustatten, dass wir – seine Tochter und ich – beste Startbedingungen für unser gemeinsames Leben vorfinden würden. Das Leben seiner Tochter in der Stadt – in einer Mietswohnung über der Metzgerei Waldrich auf der Löhrstraße war und blieb ihm ein Dorn im Auge.

Ich hatte 1978 an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz (EWH), Abteilung Koblenz mein Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen abgelegt. Noch 1977 hatte ich mich gemeinsam mit ca. 25 anderen Aktivisten im Kontext der seinerzeit Deutschland überziehenden studentischen Streiks zur Verhinderung eines allgemein abgelehnten, ja geradezu verhassten Hochschulrahmengesetzes vor dem Landgericht Koblenz verantworten müssen – wegen Nötigung, Beleidigung und Landfriedensbruchs. Ich stand allein schon deshalb im Zentrum dieser Auseinandersetzung, weil meine Unterschrift sich unter allen Beschlüssen und Verlautbarungen befand, die die Studentenschaft seinerzeit publizierte. Ich war Pressereferent im Allgemeinen Studentenausschuss unserer Hochschule – und einer der hartnäckigen Vertreter, die für die Verfasste Studentenschaft ein politisches Mandat beanspruchten. Ich hatte die Streitschrift des linken Juristen Ulrich K. Preuß zur Verfassten Studentenschaft akribisch gelesen und – soweit es in meinem Vermögen stand – für unsere politische Agitation und Argumentation auch entsprechend ausgewertet. Gemeinsam mit Hans-Werner Dinkelbach hatte ich für das Presseorgan des AStAs Wolfgang Abendroth (Lehrstuhlinhaber für politische Ökonomie in Marburg) in Frankfurt besucht, interviewt und als Kronzeugen für unsere Vorgehensweise pressemäßig ausgeschlachtet. Ein Jahr später war zwar die Klage abgewendet, das Verfahren eingestellt, aber die Nachwirkungen sollte ich noch schmerzlich zu spüren bekommen.

Ein kaum begreifbarer und in seinen Weichenstellungen für mich unabsehbarer Zufall – man könnte es schlicht eine überaus glückliche Fügung nennen – wollte es, dass ein aufstrebender Politikwissenschaftler an der EWH interessierte Wissenschaftler und Studenten um sich scharte und in den nächsten Jahren mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein potentes Projekt initiierte: Parteiensystem und Legitimation des Politischen Systems (PALEPS) – verantwortet von Prof. Dr. Heino Kaack und Prof. Dr. Reinhold Roth (Bremen). Noch im Wintersemester 1978 kam Heino Kaack im Rahmen eines Seminars mit der Frage auf mich zu, ob ich Interesse an einer Mitarbeit als studentische Hilfskraft hätte. Damit war eine der entscheidenden Weichenstellungen meines Lebens in Gang gekommen, auch heute nur begreifbar als ein Zusammenspiel von Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Ich kann und will dies an dieser Stelle abkürzen und auf Wesentliches beschränken, um es gewiss an anderer Stelle erneut aufzugreifen: Zum einen bekam ich aufgrund meiner Anklage aus 1977 nicht unmittelbar die Freigabe des Verfassungsschutzes – selbst nicht für die Tätigkeit als studentische Hilfskraft. Heino Kaack allerdings zählte zum liberalen Urgestein der Schule, die sich heute noch mit den Namen Karl-Hermann Flach, Ralf Dahrendorf, Burkhart Hirsch, und Gerhart Baum verbinden lässt. Er hat beharrlich das notwendige Brett gebohrt und die Voraussetzungen für eine Tätigkeit im Hochschuldienst erwirkt. Dies war allein schon deshalb von außerordentlicher Bedeutung, weil Heino Kaack in der Folge dafür gesorgt hat, dass ich bis 1984 nahtlos im Hochschuldienst arbeiten konnte; zuerst als studentische Hilfskraft, dann als wissenschaftliche Hilfskraft und zuletzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Gleichzeitig ermöglichte er mir den Erwerb des Diploms und die anschließende Promotion. In einem Vieraugengespräch hat er mir als Gremienstratege – lange bevor die EWH schließlich das Promotionsrecht zugesprochen bekam und alle notwendigen Rechtsverordnungen über den Verfahrens- und Gremienweg abgeschlossen waren – dargelegt, was er vorhatte. Er gab mir einen ungedeckten Scheck in die Hand, getragen von der Zuversicht, dass sich der Verfahrensweg zeitlich exakt mit meinen wissenschaftlichen Fortschritten und Ambitionen decken würde. Gemeinsam mit Norbert Wolf, mit dem ich später lange zusammenarbeiten sollte, bin ich dann in der Tat 1984 als erster auf der Grundlage der eben installierten Promotionsordnung promoviert worden. In diese Zeit fiel die Zusammenarbeit mit Ulrich Sarcinelli und Klaus G. Troitzsch. Ich habe dort Klaus Troltsch, Monika Bethscheider, Andreas Engel und viele andere kennengelernt, Freundschaft mit Werner Simon geschlossen, über den ich schließlich Herbert Wackermann kennengelernt habe; neben Thomas Gauglitz der langjährigste Freund aus Hochschulzeiten. Zur fußballerischen Dimension von PALEPS wird an anderer Stelle zu lesen sein.

Apropos „ungedeckter Scheck“: Studium und Wissenschaft bildeten die Autobahn, auf der ich ganz persönlich – auch im Sinne einer zu begründenden beruflichen Karriere – unterwegs war. Die gleichzeitige Begründung eines ersten ordentlichen Hausstandes wurde mir von meinen künftigen Schwiegereltern nahegelegt. Hatte Leo – worauf auch immer gründend – offene Sympathien für den jungen Mann von der Ahr, so hielt ganz offenkundig auch die künftige Schwiegermutter ihren Segen in petto. Bei der ersten Begegnung in der Tennishalle des Postsportvereins muss ich einen passablen Eindruck hinterlassen haben. Sie war es aber dann auch, die im Zuge der Verhandlungen in Richtung gemeinsames Wohnen in Güls darauf bestand, dass wir dies nicht ohne Verlobung ins Werk setzen könnten. So feierten wir im Frühjahr 1980 in Bad Neuenahr Verlobung, um am 5. Juni 1981 den heiligen Bund der Ehe einzugehen. Das ging nun aber wirklich schnell! Und dieses rasante Tempo mag vielleicht ahnen lassen, dass mir dabei nicht nur die Ohren weggeflogen sind. Beim Kirschenklau im Vorfeld der Hochzeit hat Leo wortwörtlich zu mir gemeint: „Mein Lieber, ich stell Dir hier einen gesattelten Gaul hin, reiten musst du ihn selbst!“ Da hatten Leo Rothmund und Heino Kaack gewissermaßen die gleiche Idee.

War eine sieben Jahre andauernde Verbindung an ein fatales Ende gelangt, so vollzog sich im Anschluss daran innerhalb von zwei Jahren die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes. 1981 haben Claudia und ich standesamtlich und kirchlich geheiratet. Ich wuchs in zwei Voll-Time-Jobs hinein, die sich mental und physisch nur bewältigen ließen, erstens weil ich jung war und zweitens nicht frei von Hybris. Ein weiterer Vorzug, von dem ich selber noch so gar nichts wusste, resultierte wohl aus einem so nicht für möglich gehaltenen Maß an Anpassungsfähigkeit. Sich dies sozusagen in actu, unvermittelt einzugestehen, wäre aus damaligem Selbstverständnis und selbstbildbezogener Befangenheit überhaupt nicht denkbar gewesen. Die grundsatzpolitischen Auseinandersetzungen und die steilen Lernkurven im Kontext einer langen, gediegenen politischen Sozialisation an der Hochschule werden hier noch einer ausgiebigen Erörterung unterzogen. Zu Beginn der achtziger Jahre gerieten jedenfalls eine – wie auch immer schon gemäßigte sozialistische Orientierung – mit Handlungserfordernissen in Konflikt, die schlicht aus der stellvertretenden Wahrnehmung von Eigentümerrechten resultierten. Ich war umfassend bevollmächtigt (Miet-)Verträge abzuschließen, säumige Mietzahlungen anzumahnen und einzutreiben – im Extremfall Kündigungen auszusprechen. Meinem Naturell nach, über das ich in den Jahrzehnten dieser Tätigkeit mehr und mehr lernen musste und durfte, geriet dies häufig genug zu einem Balanceakt, über den Mieter- und Vermieterinteressen in Einklang zu bringen waren. Die Kosten für die eigene, gediegene 3ZKB-Wohnung mit gehobener Ausstattung wurden über meine Dienstleistungen abgegolten. Mitte der achtziger Jahre – nach Promotion und erfolgreichem Zweiten Staatsexamen –, aber ohne Job, auf dem Höhepunkt meiner freiberuflichen Tätigkeit, hatte ich 40 Wohnungen zu verwalten und auch zu makeln, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen. In diese Zeit fiel auch mein schulpolitisches Engagement, immerhin als Gründungsmitglied und Vorsitzender eines Vereins, der sich um die Gründung einer Integrierten Gesamtschule in Koblenz bemühte (GfK). Gleichzeitig war ich im Vorstand der Fördervereins Café Hahn aktiv. Und schließlich, um den Aspekt berufliche Karriere abzurunden, ergab sich 1994 – über die Ausschreibung von Ratsstellen im Fachbereich I an der Uni Koblenz – die einmalige Chance vom Schuldienst wieder zurück in den Hochschuldienst zu wechseln. Die Promotion, das erworbene Ansehen bzw. die Qualifikationen in den fünf Jahren meiner Hochschultätigkeit sowie das klare, sachlich begründete Votum des seinerzeitigen Institutsleiters, Prof. Dr. Anton Menke, verhalfen meiner Bewerbung schließlich zum Erfolg. Nach Vertretungen und Lehraufträgen wechselte ich mit Wirkung vom 1. Juli 1994 als Akademischer Rat an die Uni Koblenz und übernahm im Seminar für Allgemeine Didaktik Lehr-, Verwaltungs- und Prüfungsaufgaben mit der Perspektive einer Habilitation; genau neun Tage nachdem mein Bruder Wilfried im Alter von 38 Jahren bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückt war.

Selbst beim kontrollierten Schreiben dieser Zeilen wird mir im Nachhinein noch einmal der Wahnsinn dieser Tage vor Augen geführt. Vierzehn Tage zuvor hatte ich meinen Bruder zu einem Vorbereitungstreffen mit Blick auf den siebzigsten Geburtstag unserer Mutter in Güls zuletzt gesehen. Wir waren durch den Rohbau unseres im Bau befindlichen Hauses gegangen, das unter der Planungshoheit und Bauleitung meines Schwiegervaters soeben im Entstehen war. Es war die Zeit, die durch ihre Fülle und durch ihre Veränderungen und Anforderungen in der Lebensmitte herausfinden will, was Menschen im Stande sind auszuhalten. Bei der Frage, wer ich denn nun sei, Mann meiner Frau, Vater meiner Kinder, Onkel meiner soeben Halbweisen gewordenen Nichten, Bauherr, Berufswechsler, Verwalter, Vereinsvorsitzender hatte ich noch nicht wirklich das prekäre Gefühl den Überblick zu verlieren. Dass dies schleichend und immer dramatischer der Fall sein würde, stellte sich erst im Laufe der kommenden Jahre heraus.

Zeitgeist und Kontenausgleich I (7)

Dann wiederum ist man gut beraten, jene Wendepunkte besonders zu würdigen, die uns Gelassenheit vermitteln und die Einsicht, dass es nun gut ist. Lange bevor ich hier erzählen kann, wie ich in Heidelberg nicht nur mein Herz, sondern auch meinen Verstand wiedergefunden habe, zwingt sich eine kleine Episode auf, die so viele Altlasten aus meinem Schuldenbuch getilgt hat:

Über drei Jahre habe ich in Heidelberg (IGST) an den Vorbereitungs- und Fortbildungskursen bei Gunthard Weber, Ulrich Clemens und Andrea Ebbeke-Nohlen teilgenommen und mir im Zuge dieser Jahre endlich einen Reim machen können auf mein destruktives, mörderisches Driften in der Vergangenheit. 2000 lag dies hinter mir, und ich fühlte mich einmal mehr bemüßigt auch die Papierhalden der letzten Jahrzehnte zu entschlacken. Im Zuge dieser Sondierungen stieß ich unter anderem auf Briefe, die Ende der siebziger Jahre im Zuge der Trennung zwischen E. und mir gewechselt worden sind. Es war schon die Rede davon, dass ich mich von März 1979 an in einer radikalen Haltung der Verweigerung bewegte, weil das Trennungsgeschehen, das ich vorantrieb, einerseits alternativlos erschien, andererseits in seinen einzelnen Handlungen, Versäumnissen und Geschehnissen aber auch all die Verstrickungen offenbart, die ein solches Trennungsgeschehen ebenso unausweichlich begleiten. Bei der Lektüre dieser Briefe verstärkte sich der Eindruck, dass all dies auch mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen, kein versöhnliches Ende gefunden hatte. Zu dieser Zeit – im Jahre 2001 – wohnte E. bereits in Güls. Ich bereitete die Feier zu meinem fünfzigsten Geburtstag vor. Noch unter dem Eindruck dieser Briefe bewegte ich mich in den Gülser R-Kauf auf der Gulisastraße. An der Wursttheke kam unversehens E. neben mir zu stehen. Erstmals seit mehr als zwanzig Jahren begrüßte sie mich freundlich und mit einem lange nicht gesehenen Lächeln auf den Lippen. Von der Seite näherte sich ein Mann, den sie mir mit den Worten vorstellte: „Das ist K., mit dem lebe ich jetzt zusammen.“ Zu K. sagte sie: „Das ist Jupp, mit dem hab ich einmal zusammengelebt.“ Der Small-Talk, der sich anschloss war unbefangen und vermittelte erstmals eine gewisse Leichtigkeit. In diesen Minuten erfuhr ich körperlich, dass mir eine Last von der Seele genommen wurde. Im Nachgang habe ich den Kontakt zu E. aufrechterhalten. Im November 2001 lud ich sie zum Abendessen auf die Ankerterrasse in Güls ein. Sie nahm diese Einladung an. Ein weiterer Hintergrund ergab sich – wie schon angedeutet – aus den Vorbereitungen zu meiner Geburtstagsfete. Mit einem guten Jahr Vorlauf hatte ich mich entschlossen mir zu diesem Anlass eine eigene Festschrift zu erlauben. Es war ein erster Versuch, so etwas zu ziehen wie eine Lebensbilanz – mit vielen biografisch folgerichtigen Geschichten und Aufzeichnungen. Ein Kapitel widmete sich explizit der Studentenzeit – und hier in einem eigenen Unterkapitel der Bendorfer Wohngemeinschaft. Ich spürte deutlich die Verpflichtung E. dieses Kapitel als Entwurf vorzulegen und ihre Meinung dazu zu hören. Wenige Tage nach Lektüre der ersten Fassung teilte sie mir mit, dass ich unverzüglich mit rechtlichen Schritten zu rechnen hätte, wenn diese Fassung unzensiert in die Festschrift: „Komm in den totgesagten Park und schau – ich sehe was, was Du nicht siehst“ eingehen würde. Nach den gewünschten Änderungen gab E. ihr Placet und nahm meine Einladung zur Feier an. Vor allem die Einführung in die u.a. von Bert Hellinger entwickelte therapeutische Methode der Familienaufstellung unter der therapeutischen Begleitung von Gunthard Weber haben mir den angemessenen Weg zu einer Entschuldigung vermittelt, die (auch) nach zwanzig Jahren in ihrer Form und Ernsthaftigkeit den Boden für eine Versöhnung bereitet hat. Worauf es hierbei ankommt, hat Hellinger in einer schlichten Intervention deutlich gemacht, so dass Menschen in vergleichbaren Situationen und Konstellationen eine Perspektive erkennen können. Die wesentlichen Aussagen lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen:

"Die Lösung (in festgefahrenen, unversöhnlichen Paarkonflikten – auch lange nachdem der gemeinsame Weg im Abgrund endete) ist, dass sich beide ihrer Trauer überlassen, dem ganz tiefen Schmerz, der Trauer darüber, dass es vorbei ist. Diese Trauer dauert nicht sehr lange, geht aber sehr tief und tut sehr weh. Dann sind sie auf einmal voneinander gelöst, und dann können sie nachher gut miteinander reden und alles, was noch zu regeln ist, vernünftig und mit gegenseitigem Respekt lösen. Bei einer Trennung ist die Wut sehr häufig Ersatz für den Schmerz der Trauer. Oft fehlt, wenn zwei nicht voneinander lassen können, das Nehmen. Dann muss der eine dem anderen sagen: Ich nehme, was du mir geschenkt hast. Es war eine Menge, und ich werde es in Ehren halten und mitnehmen. Was ich dir gegeben habe, habe ich dir gern gegeben, und du darfst es behalten. Für das, was zwischen uns schief gelaufen ist, übernehme ich meinen Teil der Verantwortung und lasse dir deinen, und jetzt lass ich dich in Frieden. Dann können beide auseinandergehen."

Nach mehr als zwanzig Jahren wurde hier gewissermaßen ein gordischer Knoten gelöst, der einen unbefangenen und vor allem unbelasteten Weg in eine befriedetee Zukunft nachhaltig belastet hat. Damit sind nicht alle Fehltritte zu entschuldigen, die in der Folge und innerhalb unseres lebensumspannenden Aufbruchs zu Beginn der achtziger Jahre geschehen sind. Der schwierige, krisenreiche Verlauf dieses lebenslangen Projekts gewinnt allerdings aus diesem Blickwinkel sowohl an Plausibilität als auch an Überzeugungskraft. Dass Claudia die Flinte nicht ins Korn geworfen hat, adelt sie. Wo Türen verriegelt schienen, öffneten wir ganze Scheunentore und bargen nicht nur eine Flinte, sondern ganze Feuerwerke aus dem Heu.

Vier Männer in mir (6)

Wachgeküsst mit siebzehn.
Knospen, Triebe blühn.
Den Himmel rosa sehn,
Wie Feuerfunken sprühn.

Riechen, fühlen, flehen.
Das Fremde, unerreichbar fern,
Tastend sich ergehen,
Bliebst ein fremder Stern.

Im Liebesschmerz
Versinkt die Welt.
Zum Himmel steigt mein Herz
Und fällt, und fällt, und fällt.

Die zweite Liebe: tief -
Umworben!
Herz im Herzen schlief,
Ganz unverdorben!

Nun sollt ich wachsen,
Sehn die Grenze -
Will noch spielen, flachsen,
Keine Kränze.

Und wieder fallen,
Schnitt und Wende.
Blind für Fallen
Und das Ende.

Ende heißt Beginn!
Das Neue kann beginnen?
Schulden und Gewinn?
Wenn zweie nur gewinnen?

So hoch wir fliegen,
Tapfer träumen,
Schulden wiegen,
Denn wir säumen!

Ordnungen der Liebe
Weisen uns den Weg
Und wir werden Diebe,
Schmal und eng der Steg.

In der Lebensmitte
Darf ich wachsen!
Folgenreiche Dritte
Sind wir nun erwachsen?

Bin gelassen,
Seh die Grenzen!
Sich und andre lassen
An Gräben und vor Kränzen.

Die Lust zu leben?
Ja! Der Unterschied?
Nach jedem Beben
Sing ich nun mein Lied.

Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt! Nach mehr als vierzig Jahren kann man sagen, dass Herz hat den Kurs vorgegeben – flankiert von einem wachen Verstand, der letztlich dafür gesorgt hat, dass das Herz vor allem auch in seiner Not nicht alleine geblieben ist. Eine Minute besteht aus 60 Sekunden; ein Stunde aus 60 Minuten, ein Tag aus 24 Stunden, eine Woche aus sieben Tagen und ein Jahr aus 52 Wochen – alleine aus dieser Zeitspanne, auch wenn ein langes Leben nicht einmal eine Nanosekunde markieren mag im kosmischen Rauschen, lässt sich überzeugend ableiten, das zur Herzenswelt die Herzensfreude genauso gehört wie Herzesleid. Hinter 42 Jahren verbergen sich 367.920 Stunden; sie gelebt zu haben, sie erlebt zu haben – dies erst verleiht Körper und Seele jene Gestalt, vor der wir gleichermaßen erschrocken wie fasziniert innehalten, wenn wir zurückschauen – und vor allem, wenn wir in den Spiegel schauen. Zorn und Schmerz haben ihre Falten und Furchen gegraben, und wenn es gut geht, hinterlassen sie ihre sichtbaren Spuren ebenso wie die offene und verhaltene Freude, wenn wir die Früchte ernten und betrachten, die uns ein langes Leben geschenkt hat.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund