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Kindheit, Jugend und Schule (11)

Ich war ein ängstliches Kind, ein Muttersöhnchen ganz klassischen Zuschnitts. Die Mutter war der Hafen, sie verkörperte das Nährende und vor allem das Gewährende, das Weiche und Herzliche auch von ihrer körperlichen Seite her – so auch emotionaler Rückhalt auf allen Ebenen des Denkens, Fühlens und Hoffens. Die väterliche Seite war davon nicht wirklich trennscharf zu scheiden. Über ihn habe ich schon im Zusammenhang mit Ulla, meiner Schwester, berichtet. Gerade ihr gegenüber und aus ihrer Sicht zeigt sich mit Abstand bis heute, dass wir von einer Vaterfigur der besonderen Art sprechen. Er war schlicht ein Ermöglicher im Rahmen seiner Möglichkeiten – Fußball stand mit Abstand an erster Stelle, Fußball war sein Leben, dieses Gen hat er in allen Ihm Entwachsenen und Anvertrauten mit nachhaltiger Wirkung verankert. Beim Räumen bin ich auf einen Zeitungsartikel aus den 60er Jahren gestoßen: Schülerstadtmeister im Tischtennis – Doppel: Peter-Georg Witsch und Franz Josef Witsch, weder verwandt noch verschwägert, aber Nachbarskinder und Schulkameraden; Schülerstadtmeister im Einzel: 1. Platz: Peter-Georg Witsch – 2. Platz: Franz Josef Witsch. Der Vater hatte eine Tischtennisplatte gekauft, die bei gutem Wetter in der Garageneinfahrt und bei schlechtem Wetter in der Garage selbst platziert wurde. Hier haben wir alles gelernt, was man zum (Über-)leben braucht: Gemeinschaftssinn und taktische Finessen in der Doppelkonkurrenz, Durchsetzungsvermögen im Einzel sowie die nötige Frustrationstoleranz, um angemessen mit Enttäuschungen und Niederlagen umgehen zu können. Und wenn wir gar zu viele waren, dann wurde Tischtennis einfach im Rundlauf gespielt. In Klein-Frankreich, so der Name des Straßenzuges von der Landgrafenstraße bis zum Ostende der Stadt, lebten viele Kinder. Vor mir liegt das Foto der Dahlienkönigin aus dem Jahr 1965 – Helene Steinborn; ihrer Einladung zu Kakao und Kuchen waren zweiunddreißig (32) Kinder im Alter von vier bis vierzehn Jahren gefolgt.

Die Kombination von Individualsport (Tischtennis) und Mannschaftssport erwies sich als hohe Schule mit nachhaltigen Sozialisationseffekten. All dies taugte dazu den Wert von Gemeinschaft wie die Erfordernisse von individueller Durchsetzungskraft gleichermaßen zu vermitteln. Das hatte auch etwas zu tun mit der Verankerung eines Leistungsgedankens, der uns beispielsweise 1969/70 sowie 1970/71 in der A-Jugend-Sonderrunde des Fußballverbandes Rheinland die Chance eröffnete, unsere Kräfte in der für uns höchsten Spielklasse zu messen. Gerade der Fußball übt(e) bis ins hohe Fußball-Alter hinein eine große Faszination aus. Er war auch in die Studentenzeit hinein und weit über sie hinaus ein außerordentlicher Integrationsfaktor; sogar in der Wertschätzung meines Doktorvaters – ein motorisch bescheiden ausgestatteter Egg-Head – stieg ich in ungeahnte Höhen, als wir mit der Projektmannschaft PALEPS die Hochschulmeisterschaften im Hallenfußball gewinnen konnten.

Springen wir noch einmal zurück in eine Kindheit und frühe Jugend, die so unfassbar eindrücklich geprägt war von absoluter Freiheit einerseits und dem Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit andererseits. Entscheidend für dieses Lebensgefühl war die Tatsache, dass wir buchstäblich am Rande der Stadt wohnten. Mein Elternhaus – Kreuzstraße 113 (Baujahr 1900) stand lange einsam und alleine wie ein Monolith als zivilisatorischer Außenposten da. 1936 bauten meine Großeltern mütterlicherseits zunächst eine einzige Etage – ein unterkellertes Erdgeschoss an das etwa 11 Meter hohe Elternhaus meines Vaters (Kreuzstraße 111) – ein skurriles Panorama. Erst nach und nach, zu Beginn der fünfziger Jahre folgten in lockerer Bebauung mehrere Einfamilienhäuser in der Kreuzstraße. Diese Straße verfügte im Sinne eines singulären Alleinstellungsmerkmals auf der Höhe der beiden Elternhäuser über einen freien, ungehinderten Blick auf den gegenüberliegenden Sportplatz und darüber hinaus in die Parkanlagen – unverbaubar bis heute! Dort war mein Heimatverein der Sportclub 07 (SC07 Bad Neuenahr) zu Hause. Unterhalb dieser Sportanlage folgten die Zirkuswiese und daran anschließend der Schuttabladeplatz. Letztere Liegenschaften verschafften diesem Viertel das zweifelhafte Etikett Klein-Frankreich. Der Zirkus gehörte ein- bis zweimal im Jahr zu den kalendarischen Höhepunkten; alle Zirkusfamilien von Rang, ob Althoff, Barum, Knie, Krone oder Sarrasani machten bei uns Station. Ansonsten war die Zirkuswiese eine beliebte Anlaufstelle für das fahrende Volk – wir nannten sie damals Zigeuner. All dies umso mehr, als sich die Stadtverwaltung endlich entschloss auf der Höhe der Zirkuswiese einen Hydranten zu installieren. All die Jahre zuvor stellten die Häuser 111 und 113 in der Kreuzstraße die Zapfstellen zur Verfügung. Außergewöhnlich – auch unter dem Aspekt möglicher Gefährdungen – wirkte sich der Schuttabladeplatz aus. Die Kreuzstraße war bis auf die Höhe der Hausnummer 115, dort wohnte ab den frühen 50er Jahren die Familie Heinz, mit einer spiegelglatten Asphaltdecke versehen – für unsere Rollschuh-Aktivitäten eine geradezu paradiesische Voraussetzung. Die abknickende Apollinarisstraße war lange – bis in die sechziger Jahre – nicht mehr als ein befestigter Feldweg. Die Kreuzstraße selbst ging in ihrer Verlängerung über in einen befestigten Feldweg, der an der erwähnten, von Hainbuchen eingefriedeten Zirkuswiese, vorbei Richtung Osten zu einem großen als Schuttabladeplatz genutzten Areal führte. In den fünfziger und sechziger Jahren gab es noch nicht einmal Rudimente eines Umweltbewusstseins. Es gab keine Mülltrennung. Die Lastkraftwagen und seinerzeit vielfach noch Pferdefuhrwerke – vor allem der Bauern Hansen und Moog – verbrachten alle Sorten von Müll dorthin; Schlachtabfälle genauso wie Bauschutt oder das, was wir heute Restmüll nennen. Um allein das Müllvolumen zu begrenzen, wurde der Müll abgefackelt – je  nach Windrichtung waren wir grundsätzlich die ersten, die nicht nur den Qualm, sondern auch die Geruchsemissionen zu spüren bzw. zu riechen bekamen. Dies galt im Übrigen auch für den nach wie vor mit Dampfloks betriebenen Personen- und Güterverkehr auf der Ahrstrecke; die verlief etwa fünfhundert Meter nördlich parallel zur Kreuzstraße. Das gesamte Areal dazwischen war zu unserer Kindheit und Jugendzeit Wildnis. Wir verfügten so über eine unfassbare Vielfalt an Gelände, dass für alle erdenklichen Spielanlässe und –vorhaben alles bot, was Kinderherzen höher schlagen lässt. Die Gärten wurden abgelöst durch wilde Brombeerhecken, verwilderte, aufgelassene Gärten mit allen möglichen Obstbäumen. Es gab den Fußballplatz, der im Süden an die Ahr grenzte; die Ahr war im Sommer Badeplatz, bei Hochwasser gefürchtetes Wildwasser, das im Übrigen so manchen Fußball in die weite Welt entführte – über die Ahr in den Rhein und so bis in die Niederlande, die auf diese Weise zum ersten Mal überhaupt mit Fußbällen in Berührung kamen. Auf der anderen Seite der Ahr erstreckten sich weitläufige Parkanlagen – auch diese in allen Variationen, vom französisch inspirierten hingezirkelten Lenné-Park bis hin in den englischer Parkkultur nachempfundenen Kaiser-Wilhelm-Park – inmitten eine große Teichanlage, der sogenannte Schwanenteich; müßig zu betonen, dass von all den Kindern in Klein-Frankreich kaum eines einen Kindergarten von innen gesehen hat.

Von diesem Vorposten der Zivilisation musste man sich einige hundert Meter stadteinwärts bewegen, um zu realisieren, dass man tatsächlich in einem kleinen, aufstrebenden Kurstädtchen lebte. So war denn auch unser Schulweg geprägt von einer ländlich anmutenden Ausgangslage, von der aus wir uns dann – der Kreuzstraße folgend – zuerst über die Landgrafenstraße hinweg, die Wendelstraße kreuzend, die Jesuitenstraße rechter Hand liegen lassend über die Poststraße hinweg die Telegrafenstraße erreichten (an keinem Tag musste irgendjemand von uns Kindern diesen Schulweg alleine gehen). Nach wenigen Metern standen wir dann vor der imposanten Rosenkranzkirche. In unmittelbarer Nähe mit vorgelagertem Schulhof befand sich die Volksschule – das alles fest in katholischer Hand. Die Schule, in die wir Ostern 1958 eingeschult wurden, war kein vertrauenserweckender Ort, kein Ort, von dem man annehmen und erwarten konnte, dass wir im Mittelpunkt einer uns zugewandten, uns freudig und respektvoll empfangenden Institution stehen würden. Das ganze Gegenteil war von Beginn an der Fall. Die Klassen waren mit bis zu 60 Kinder in dafür nicht ausgelegten Räumen überfüllt. Die bewährten Rezepte einer äußerst schwarzen Pädagogik ließen in ihren Methoden immer noch die Handschrift einer mehrheitlich von nationalsozialistischen Erziehungsidealen geprägten Lehrerschaft erkennen. Mir genügt ein einziges, zentrales Beispiel, um dies eindrücklich zu belegen: Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Esch, führte über den gesamten Vormittag eine Liste, in der sämtliche, von ihr als Vergehen gegen Ordnung und Disziplin erachtete Vorkommnisse vermerkt wurden. Am Ende des Schulunterrichts kam ihr Kollege Ostermann und schritt zur Exekution der verhängten Strafen. Die in der Kladde vermerkten Schüler mussten vor der Klasse antreten und sich mit ausgestreckten Armen hinstellen. Fräulein Esch entschied – je nach Schweregrad der Vergehen –, ob der Schüler die Handflächen oder die Handrücken zeigen musste. Mit einem Reis wurde dann entweder auf die Handinnenflächen oder die Handrücken geschlagen. Diese Vorgehensweise missachtet die Grundregeln auch körperlicher Züchtigung, deren Einhaltung selbst pädagogische Vertreter entsprechender Maßnahmen als unverzichtbar annehmen: Zwischen Vergehen und Bestrafung darf keine eklatante Zeitdifferenz – ein ganzer Schultag oder mehr – treten; neben dem Delegieren von Strafmaßnahmen vermittelt Schülern dies die Erfahrung pures Objekt von Sühnemaßnahmen zu sein, ohne dass der Strafende auch nur in der Lage ist, die von ihm vollzogene Strafe in ihrer Berechtigung und Angemessenheit begründen oder nachvollziehen zu können. Die Prügelstrafe gehörte zum alltäglichen Repertoire der Unterrichtsführung. Disziplinarische Verfehlungen oder Leistungsverweigerung (vergessene Hausaufgaben) wurden häufig durch Schläge geahndet.

Nach der vierten Klassenstufe verließen uns einige unserer Mitschüler Richtung Realschule oder Gymnasium. Rektor Müller empfahl meinen Eltern für mich den Übergang auf die Realschule alternativ auch das Gymnasium. Soweit ich mich erinnere, war dies nicht annähernd eine denkbare Option. Von all den Kindern, die das Gruppenfoto mit der Dahlienkönigin des Jahres 1965 zieren, besuchten nur wenige eine weiterführende Schule. So blieb ich ganz selbstverständlich auf der Volksschule. Wir zogen um – zuerst in einen Altbau in der Weststraße, später in einen Neubau in der Nachbarschaft, die heutige Grundschule Bad Neuenahr. Aufgrund akuten Lehrermangels fasste man die Klassenstufen 5/6 und 7/8 zu großen Lerngruppen zusammen mit jeweils über 50 Schülern. Der Schulunterricht war nach Geschlechtern und Konfessionen streng getrennt. Dass die Empfehlung eine weiterführende Schule zu besuchen nicht gänzlich unbegründet war, zeigte sich dann im Verlauf der weiteren vier Schuljahre (die seinerzeitige Volksschule schloss damals noch mit dem Besuch der achten Klasse ab). Die Lehrerschaft verjüngte sich rein altersmäßig. Mein Lieblingslehrer in den klassischen Fächern Deutsch, Rechnen, Heimat-/Erdkunde war der Lehrer Wilhelm. Er ermunterte mich zu konstanter mündlicher Mitarbeit, und er stellte meine Heftführungen als beispielhaft in den Raum. Meine Volksschulhefte haben die vielen Umzüge leider nicht überlebt. Ich entdeckte seinerzeit die Möglichkeit mittels Pauspapier Abbildungen, Risse, Zeichnungen in mein Heft zu übertragen und auf diese Weise die rein sprachliche Seite enorm aufzuwerten. Legendär waren meine Übertragungen der Erdteile in mein Erdkundeheft – vor allem die politischen Karten mit Ländergrenzen, Hauptstädten und Metropolen müssen eine reine Augenweide gewesen sein. So lernte ich die politische Geographie der Erdteile auswendig und illustrierte sie in meinen Arbeitsheften. Wer konnte denn damals schon aus dem Stehgreif die Hauptstädte von Uruguay oder Paraguay nennen? Der Enkel dieses von mir hochverehrten und geschätzten Lehrers, so alt wie mein Neffe Michael, hat als junger Mann Südamerika bereist, eine Straßenkinderprojekt „Menino“ (der Name auch der von ihm begründeten Band) begründet und ist schon als junger Mann mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Ein zweiter überaus prägender Pädagoge war der von uns allen hochgeschätzte Sportlehrer Erno Mahler. Die Begriffsverwendung Pädagoge gibt hier hohen Sinn, da wir alle gleichermaßen in Berührung kamen mit einer individualpädagogisch ausgerichteten Haltung eines Lehrers, der es Verstand die sachlich-fachlichen Anforderungen und Angebote mit den Entwicklungsmöglichkeiten seiner Schüler in einer wohlverstandene Passung zu bringen. Eine wohlkalkulierte didaktische Überforderung kitzelte ungeahnte Potentiale wach – immer gepaart mit einer individuell wertschätzenden Grundhaltung des Herrn Erno Mahler. Er lebt 82jährig in Bad Neuenahr und hat sich bis heute einen jungenhaften Charme bewahrt. Noch heute bewahre ich Zeitungsartikel auf, wonach das Basketball-Spiel auf der Volksschule geradezu kultiviert wurde und unsere Schulmannschaft auf Stadtebene einen schulübergreifenden Wettbewerb gewann.

Der Abschluss der Volksschule war mit einer Weggabelung verbunden, die vor allem auch alte, gewachsene Freundschaften über die Jahre relativierte, bis sie teils vollkommen absanken in jeweils getrennte Welten. Mein bester Freund, Peter-Georg Witsch, Namensvetter und Sparringspartner in allen Disziplinen, an denen sich Jungen-Identität – inclusive aller konkurrenzorientierten Individualisierungsschübe – ausbildet, machte nach der Volksschule eine Lehre zum Wasser- und Heizungsinstallateur. Mit Mitte dreißig wechselte er ins örtliche Spiel-Casino, im Übrigen ein Weg, der mir auch offen gestanden hätte, da unsere beiden Väter dort als Croupiers arbeiteten. Ende der achtziger Jahre führte ihn sein Weg in die Justizvollzugsanstalt Koblenz, weil er sich einer kriminellen Vereinigung angeschlossen hatte zum Zweck eines fortgesetzten Betrugs seines Arbeitgebers durch technische Manipulation der Spielgeräte. Wir haben uns danach noch einmal wiedergefunden, er hat – gemeinsam mit seinem Bruder, Karl-Heinz – das legendäre Fest zu meinem fünfzigsten Geburtstag im Café Hahn besucht und ist leider schon acht Jahre danach – im März 2010 – an einer Krebserkrankung verstorben. Er, sein Bruder, mein Bruder und Bernd Jobst, dem hier ein eigenes Kapitel zu widmen ist, bildeten Anfang der sechziger Jahre schon einmal so etwas wie eine zwielichtige Vereinigung, der sogenannte K9-Klub. Wir trafen uns in unserer Freizeit in einer Scheune bei Jopa (Bernd Jobst). Wir alle wohnten in einer Straßenflucht, in Klein-Frankreich, in der Kreuzstraße auf einem Straßenabschnitt, der eben einmal 100 Meter Wegstrecke umfasste. Wir organisierten unsere Spiele, kleine Fahrradtouren und erkundeten die Umgebung, beschafften uns auf unlautere Weise die notwendigen Utensilien und Lebensmittel für unsere kleinen Gelage. Während einer dieser Erkundungen – hoch über dem Apollinarisbrunnen (heute verläuft dort die Trasse der A61, nachdem sie das Ahrtal in Richtung Bonn/Köln überquert hat) – packte Jopa plötzlich eine Kamera aus und meinte: „Heute machen wir einmal ein Foto von uns allen!“ Ungläubig sahen wir unseren Spinner an – Jopa war schon damals ein recht exzentrischer Sonderling, und meinten: „Und wer fotografiert???“ Mit einer überlegenen Geste wischte er unsere dumme Frage hinweg und klärte auf: „Das ist eine Kamera mit Selbstauslöser. Ich stelle einen ausreichenden Zeitvorrat ein, und wir postieren uns in etwa 10 Meter Entfernung.“ Jopa platzierte die Kamera auf einem kleinen planierten Erdhügel, nachdem er den Kameraausschnitt überprüft und justiert hatte. Wir lagen schon bereit. Er drückte auf den Auslöser und spazierte in aller Seelenruhe zu uns hin, legte sich neben uns, mahnte uns zum Stillhalten, bis der Auslöser vernehmlich das Objektiv zur Belichtung öffnete. Das Foto, das ich hüte, wie meinen Augapfel, zeigt von links nach rechts zuerst den Jupp, dann den Peter, seinen Bruder Karl-Heinz, meinen Bruder Willi und schließlich den Meisterfotografen Bernd Jobst, unseren Jopa. Drei dieser damals etwa acht- bis etwa zwölfjährigen Jungs strecken ihre jeweils linken Unterschenkel himmelwärts – eine Bewegungsrichtung, die von drei im Hintergrund stehenden Zaunpfählen aufgenommen wird. Diese drei, Willi, Jopa und Peter, sind die ersten drei Verstorbenen, Willi 1994 im Alter von 38 Jahren, Jopa 1995 im Alter von 41 Jahren und Peter-Georg 2010 im Alter von 59 Jahren – zuletzt folgte der jüngste der K9er, Karl-Heinz, der vor wenigen Jahren im Alter von eben erst 60 Jahren verstorben ist – der einzige Überlebende kommt jetzt seiner Chronistenpflicht nach.

Von uns Fünfen war es mir alleine vergönnt von der herkunftsgemäßen, vorgespurten Bahn (Schullaufbahn) abzuweichen. Voraussetzung dafür war der einsame Entschluss die verspätete gymnasiale Laufbahn zu wagen. Mitte der sechziger Jahre zeigte sich die von Georg Picht ausgerufene und diagnostizierte Bildungskatastrophe in all ihren verheerenden Auswirkungen. Er kritisierte in einer Artikelserie die Situation des seinerzeitigen Bildungswesens in der Bundesrepublik an und löste eine intensive Debatte mit ersten schulpolitischen Konsequenzen aus. Dabei ging es vor allem um die im internationalen Vergleich niedrigen Bildungsausgaben in Deutschland und die geringe Quote an Abiturienten und die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land. Im Raum stand die Forderung nach grundlegenden Reformen des dreigliedrigen Schulsystems und der Erwachsenenbildung. Die SPD mit ihrer Gallionsfigur Willy Brandt forcierte mit ihrer Parole Mehr Demokratie wagen auch eine Kehrtwende in der Bildungspolitik. Die Mobilisierung von Bildungsreserven lief unter anderem auch über die sogenannten Aufbau-Gymnasien, die qualifizierten Volksschulabsolventen und Realschulabgängern einen Übergang in die Mittel- bzw. Oberstufe des Gymnasiums ermöglichten. Ich wechselte nach bestandener Aufnahmeprüfung 1966 auf das Are-Gymnasium Bad Neuenahr. Schon in der Obertertia erwischte es mich zum ersten Mal. Das Anforderungsniveau und das Tempo erwiesen sich als zu rasant. Ich benötigte einfach eine etwas längere Anpassungsphase – und da war noch etwas anderes: Ich fand auf dem Aufbaugymnasium alte Freunde aus der Volksschule wieder, sowie gescheiterte Gymnasiasten, die hier ihre zweite Chance suchten. Vor allem aber versammelten sich auf dieser Schule junge Menschen, die im Alter von 14, 15, 16 Jahren vielleicht schon etwas deutlicher sehen konnten, dass sie hier eine unverhoffte Chance bekamen, ihrem Leben gewissermaßen eine Wende in Richtung Bildungserfolg (mit der Perspektive Studium und beruflichem Aufstieg) geben zu können. Der Radius, der sich schlagen lässt, um die Herkunftsorte der Schüler zu erfassen, lag sicher zwischen 100 und 150 Kilometern. Dies lag daran, dass das Are-Gymnasium eine Internatsschule war; ab 1965 mit den Jungeninternat auf der Hauptstraße (das sogenannte Päda) und dem Walburgisstift für die Mädchen auf der südlichen Seite der Ahr in Beuel, wo auch der Schulneubau – eingeweiht 1965 – entstand.

So trug sich ein Aufbruch in zweifacher Hinsicht zu: ein Aufbruch in ungeahnte Bildungswelten und vor allem hinein in die ausgehende zweite Hälfte der sechziger Jahre. Damit bewegten wir uns nicht nur in einem beginnenden sozialen Umbruch, sondern die kulturelle und politische Dimension dieses Umbruchs begegnete und konfrontierte uns mit unglaublich vielen Facetten und Möglichkeiten:

Der – vordergründig betrachtet – faszinierendste Einfluss ging von der Musik aus. Beatles und Rolling Stones waren schon seit Anfang bzw. Mitte der sechziger Jahre unterwegs; Beach-Boys, The Who, Small Faces und Bee Gees gleichermaßen. Und dann betraten Jimmy Hendrix, Jim Morrison, Bob Dylan, Joan Baez und so viele andere die öffentliche Bühne. Alles ging dann sehr schnell. Ich hatte mit Wolfgang Bialek und Fredy Biedermann Weggefährten aus der Volksschule wiedergefunden, hinzu kamen Percy Wilhelm und Alfred Mayer. Schon 1967 hoben wir The Lice aus der Taufe. Dazu bedurfte es zunächst einmal lediglich einiger akustischer Gitarren; Wolfgang bekam als Einzelkind von seinen Eltern ein Schlagzeug und einen Bass geschenkt. Nach den ersten zaghaften Versuchen stand der Entschluss. Wir waren fleißige Jungs, die sich manche Mark nebenher verdienten, und so hatten wir 1968 ein komplettes – wenn auch bescheidenes Equipment beieinander und legten einen beeindruckenden Fleiß und eine enorme Energie an den Tag, um schnellstmöglich bühnenreif zu werden. Im Keller der Borromäus-Bücherei fanden wir einen Probenraum. Wir nahmen schon im Frühjahr 1968 am lokalen Wettbewerb regionaler Bands im Bürgerhaus Heppingen teil und hatten recht schnell ein passables Repertoire beieinander, um eineinhalb Stunden auf der Bühne (be-)stehen zu können. Dabei kam uns enorm zugute, dass wir mit Fredy Biedermann einen excellenten Sänger in unseren Reihen hatten, hinter dem wir alle miteinander ein Stück weit abfielen: Unsere Paradestücke schöpften wir aus den Megahits der Bee Gees (Words, To Love Somebody), natürlich der Stones (Satisfaction, Paint It Black, Tim Is On My Side, Under My Thumb, Jumpin‘ Jack Flash), dann ein Paradestücke von Small Faces (All Or Nothing), bei dem der Fredy Biedermann zur absoluten Höchstform auflief; dies galt gleichermaßen für „Give Me A Ticket For An Aeroplane“ von den Box Tops. Dazu kamen von den Tremoloes „Silence Is Golden“ und vor allem von Otis Redding: „(Sittin On) The Dock Of The Bay“. Stücke, die bei keinem Auftritt fehlen durften, waren selbstredend „House Of The Rising Sun“ von Eric Burdon & The Animals und „Hey Joe“ von Jimmy Hendrix. Das Kultstück aber schlechthin war Nights in White satin! In den Osterferien 1968 machten wir – Wolfgang Bialek, Fredy Biedermann und ich – uns mit den Fahrrädern auf den Weg. In einem weit ausholenden Dreieck fuhren wir drei Jugendherbergen als Zwischenziele an: Die erste Station war Boppard am Rhein. Von dort aus fuhren wir auf die Höhe durch den Hunsrück bis nach Simmern, und dann weiter nach Cochem an die Mosel, um anschließend den letzten Tagesritt von dort aus durch die südliche Eifel zurück nach Bad Neuenahr in Angriff zu nehmen. Zu unserer Grundausrüstung gehörte ein Koffer(Transistor)Radio, das abwechselnd an der Mittelstrebe unserer Fahrräder mit Klebestreifen fixiert wurde. Auf jeder Tour hörten wir mehrmals Nigths in White Satin und waren uns einig, dass diese Herz-Schmerz-Ballade zu unserem Standardrepertoire gehören sollte. Für mich ganz persönlich bildet dieser Song ein gewaltiges Hintergrundrauschen bei meinen ersten unglücklichen Liebesdramen. Aber unserer Band war nur ein einziger, kurzer Sommer beschieden: Fredy Biedermanns Eltern waren früh geschieden, und Fredys Vater – ein bunter Hund – unterhielt in Remagen einen Club. Er verschaffte uns sonntagsnachmittägliche Auftrittsmöglichkeiten. So ansehnlich und so verlockend anfangs die Gelegenheiten waren auf der Bühne im Rampenlicht zu stehen, so schnell war dann der Spaß auch vorbei. Rampensau-Qualitäten hatte ohnehin ausschließlich Fredy Biedermann.

Ich war ja bereits in der Obertertia hängengeblieben, und meine Schulleistungen waren im Keller. Es gab ein klärendes Gespräch zwischen der Mittelstufenleitern, Frau Ledig – sie wohnte in der Kreuzstraße, drei Häuser stadteinwärts von der 113 aus gesehen – sozusagen in der Nachbarschaft. Sie machte unmissverständlich klar, dass ich bei gleichbleibenden Leistungen die Schule verlassen müsste. Die Wochen und Monate, die sich anschlossen, kommen annähernd dem gleich, was ich Wendepunkte im Luhmannschen Sinne nenne. Schon nach wenigen Wochen eröffnete ich meinen Kumpels von „The Lice“, dass sie in Zukunft ohne mich auskommen müssten. Ich war in mich gegangen und hatte eine klare Entscheidung gegen die Band und für die Schule getroffen. Das Ergebnis kann man hier in aller Kürze abhandeln und kommentieren: Heute nennt man das wohl Mobbing, was ich dann erlebte. Die Jungs schnitten mich, kein Wort – sie gingen mir schlicht aus dem Weg. Diese Entscheidung war absolut weichenstellend – so etwas hat sich immer wieder einmal in meinem Leben zugetragen. Keiner meiner Bandkollegen hat Abitur gemacht. Allesamt haben den Übergang in die Oberstufe nicht geschafft. Mein Schulweg war auch danach mühsam und von einem weiteren Rückschlag begleitet, da ich die Unterprima wiederholen musste. Mein bestes Zeugnis auf dem Gymnasium war mein Abiturzeugnis, auf dem keine Note schlechter als befriedigend ausfiel – außer Mathematik (mangelhaft). Aber damit konnte ich seinerzeit bestens leben. Die sozialen Kontakte verschoben sich allmählich – Erwin Josten, Günther Traub, Edmund Lenz, Dieter Rolser waren dabei die engsten Freunde; nicht unerwähnt bleiben darf meine unglückliche und unerfüllte Liebe zu Karin Franzen. Sie war lange Jahre die Gefährtin von Jochen Scharfenstein, der ein unzertrennliches Duo mit Arnold Retzer bildete. Beide gehören – wie ich – dem 52er Jahrgang an, und beide haben mir Nachhilfe in Mathematik erteilt, so dass ich wenigstens ein mangelhaft ins Abitur retten konnte. Arnold Retzer hat dann mehr als vierzig Jahre später die Laudatio zu meinem Berufsausstieg 2017 gehalten – wir haben dabei gemeinsam gleichermaßen Van Morrison und excellenten Gülser Weinen die Ehre gegeben.

Drei prägende LehrerInnen möchte ich erwähnen: Zum einen die bereits genannte Nachbarin aus der Kreuzstraße, Fräulein Ledig, lange Jahre meine Lateinlehrerin, die – so glaube ich – häufig (ohne meine Kenntnis) ihre schützende Hand über mich gehalten hat. Dann einen Drecksack erster Güte: Wolfgang Groß, genannt „Goofy“ (Mathematik und Physik). Besonders er ist mir in Erinnerung als ein Vertreter einer rabenschwarzen Pädagogik – vielleicht hatte er mich, aus welchen Gründen auch immer, besonders auf dem Bildschirm. Mindestens einmal in der Woche war ich auserkoren entweder Hausaufgaben oder auch einfach nur im Laufe der Unterrichtsstunde gestellte Aufgaben an der Tafel zu lösen: „Witsch, bitte an die Tafel, zeigen Sie uns doch bitte einen möglichen Lösungsweg!“ Wohlwissend, dass er mich genüsslich und krachend scheitern sehen würde, während er mit übergeschlagenen Beinen auf dem Tisch süffisant meine – in der Regel – aussichtslosen Bemühungen beobachtete. Die gänzlich andere Seite – sozusagen im Sinne eines pädagogischen Leuchtturms – repräsentierte Magister Karl Heinz Klein; der war kein Lehrer, sondern kam aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ich meine WDR Köln) als Deutschlehrer zu uns und entpuppte sich als der Förderer und Facilitator schlechthin. Er regte mich zum Literaturstudium an, beobachtete und förderte meine ersten lyrischen Versuche. Im Vorwort meines ersten Lyrikbändchens 2003 habe ich mich seiner erinnert und ihm für seine Unterstützung und Ermunterung gedankt. Wir haben uns mehrfach getroffen und einen kleinen, späten Schriftverkehr begründet.

Schule war dann natürlich noch sehr viel mehr. Die späteren „Bendorfer“ sind die gesamte Oberstufe gemeinsam marschiert und dachten seinerzeit Freundschaften fürs Leben zu begründen – immerhin waren es ja auch drei Paarbeziehungen, die es bis nach Koblenz bzw. nach Bendorf geschafft haben. Heute nenne ich nicht einmal mehr die Namen bzw. ich erwähne sie nur noch kürzelweise, weil sich alle Bindungen und Verbindungen nach meinem 50sten Geburtstag 2002 aufgelöst haben und alle Versuche der Kontaktaufnahme – zumindest zu T. und Ev. – zurückgewiesen wurden; nichts ist für immer.

Will ich meinen merkwürdigen Weg in allen mir erinnerlichen Facetten nachvollziehen, dann müsste hier meine Abiturrede folgen – sie löste 1974 einen Skandal aus (ich werde sie gelegentlich einfügen). Das Schreiben des seinerzeitigen Schulleiters, des ehrenwerten Dr. Helmut Bauer, liegt mir noch vor und ist in seinem Tenor sehr hellsichtig richtungsweisend gewesen.

                                Er schrieb mir am 19. Juni 1974

                                „Lieber Franz-Josef Witsch!

Ich möchte nicht mit einer Briefschuld in die großen Ferien gehen und versuche deshalb eine vorläufige Antwort auf Ihre ‚Stichworte‘, die Sie mir bei der Abiturienten-Entlassungsfeier übergaben. Sehr beeindruckt hat mich die Tatsache, dass Sie die Worte auf dem Grundstein unserer Schule ‚Sum ut fiam‘ zum Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen machten. Wie dieses Motto eigentlich gemeint war, hatte ich einmal bei einer Abiturienten-Entlassungsfeier näher ausgeführt. Solle ich noch einen Durchschlag davon finden, könnte ich Ihnen diesen gern noch zusenden. Vorläufig als kleiner Dank für Ihre Aufmerksamkeit ein Rest-Exemplar des Jahresberichts 1964/65, der Ihnen zusammen mit dem natürlich inzwischen auch veralteten Prospekt einer kleine Erinnerung sein soll.

Erst durch Ihre Äußerungen wurde mir klar, in welch desolatem Zustand Ihre Generation unserer Welt sieht. Ob die gleich Überzeugung von Ihnen noch in wenigen Jahren geteilt werden wird, möchte ich allerdings bezweifeln. Solange Welt keine Wirklichkeit, sondern nur Vorstellung ist, misst man sie an einem selbstgesetzten Ideal. Das ist das Vorrecht jeder jungen Generation. Später versucht man, einfach für andere dazusein, ein Werk nach bestem Wissen und Gewissen zu tun und in allem ‚sein Bestes‘ zu geben, was natürlich in den Augen der Mitmenschen nie ganz wir gelingen können.

Die Begründung Ihrer verzweifelten Grundhaltung, dass es sich hier um eine ‚Selbstentfremdung handele, scheint mir allerdings nicht eigener, sondern übernommener Ansicht zu entspringen, wobei hinzuzufügen ist, dass keiner in Denken und Ansichten den Zeitströmungen zu entrinnen vermag, in denen er unvermeidlicherweise befangen ist.

Zur behaupteten ‚Hypokrisie‘ allerdings vermag ich keinerlei Stellung zu nehmen, da diese, so allgemein ausgesprochen, sich nicht verifizieren lässt.

Zum Schluss darf ich Ihnen noch sagen, dass mich eines sehr erstaunt hat: Sie sprechen immer vom Erziehungsanspruch der höheren Schule und erwähnen nicht ein einziges Mal das, was sie mit Bildung eigentlich zu erreichen versucht; d.h. mit der Vermittlung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, ohne die geistige Arbeit gar nicht möglich wäre. Um das aber zu erreichen, sind ‚Kärrner‘ notwendig, die ihre harte tägliche Pflicht tun und nur hoffen können, dass gestreuter Same aufgehe und Frucht bringe.

Mit guten Wünschen für Ihre persönliche Zukunft und freundlichen Grüßen

Dr. Bauer (Oberstudiendirektor)

So brüsk und entrüstet ich seinerzeit die Hinweise Dr. Bauers zurückwies, wenn ich die Welt weiterhin so düster und durch eine völlig überzogene, unangemessene moralinsaure Brille betrachten würde, hätte ich eine gleichermaßen düstere Zukunft vor mir, so uneingeschränkt muss ich ihm rückblickend zustimmen. Fast fünfzig Jahre nach diesen besorgten Worten, wäre er vermutlich ein wenig stolz auf mich, weil ich mir nahezu seine gesamte Argumentation zu eigengemacht habe; gewiss bin ich seiner Weltsicht eher gefolgt als meiner spätpubertären Weltschelte und habe nach bestem Wissen und Gewissen etwas getan – mein Bestes gegeben –, „was natürlich in den Augen der Mitmenschen nie ganz wird gelingen können“. Im Scheitern jedenfalls bin ich ein Meister fast aller Klassen geworden.

Zu meiner düsteren Weltsicht passten die ersten Versuche, sich politisch zu positionieren und zu profilieren. Ich arbeitete in der Schüler-SV mit. Es bildete sich eine erste, sich marxistisch nennende und sich als solche verstehende Schülerzelle. Ein bekannter Schülertreffpunkt befand sich am Beginn der Jesuitenstraße, die schräg gegenüber des Jungeninternats zuerst als Gabelung, von der Hauptstraße südlich in Richtung Kreuzstraße führt. In der Gabelung befindet sich ein Heiligenhäuschen. Die vorgelagerten Stufen dienten vor allem im Sommer als Sitzgelegenheiten, die häufig von Schülern belagert wurden. Ende der sechziger Jahre lernten wir bei dem seinerzeit mit Abstand versiertesten Gitarristen der Stadt die ersten Riffs. Der Junge war Ulrich Schmücker, der am 5. Juni 1974 in Berlin ermordet wurde. Schmücker hatte sich der Vereinigung „2. Juni“ angeschlossen. Nachdem er mit führenden Mitgliedern 1972 in Bad Neuenahr verhaftet und nach einem Jahr entlassen wurde, ging er nach Berlin zurück und arbeitete – vom Verfassungsschutz angeworben – als V-Mann. Nach seiner Enttarnung wurde er Opfer eines Fememordes. Über die genauen Zusammenhänge und die Verstrickungen des Verfassungsschutzes herrscht nach wie vor Unklarheit.  Im längsten Prozess der Justizgeschichte der Bundesrepublik versuchte man die Ermordung Schmückers aufzuklären. Dies ist bis heute nicht abschließend gelungen, so dass wir es bis heute von einem peinlichen Justizskandal sprechen müssen.

Dies findet hier Erwähnung, weil der Weg in die siebziger Jahre – nach Koblenz und ins Studium – letztlich auch im Hinblick auf meine politische Sozialisation von einer Reihe von Irritationen begleitet war. Die Erschütterung über die Verirrungen Ulrich Schmückers und seinen Tod haben bis heute ihren Nachhall nicht verloren.

Gaudeamus igitur – Studium

Ein erster kleiner Exkurs: Werde der du bist – Wissenschaftssozialisation (10)

Ich sitze hier im umgebauten und sanierten Haus meiner Schwiegereltern; der Blick auf den querterrassierten Heyerberg – inmitten von Weinbergen – signalisiert mir zumindest, dass ich angekommen bin. Es ist meine zehnte Adresse in einem Leben, für das sich im kommenden Jahr (2022) das siebte Jahrzehnt runden würde. Dorthin gelangt zu sein – an diesen Ort, erfüllt mich gleichermaßen mit Genugtuung wie mit schlichtem Unglauben. Von den Pferden, die man mir angeboten hat, und die ich bestiegen habe, bin ich nicht – zumindest nicht final – heruntergefallen. Sie haben mir treu zur Seite gestanden und bekommen bei mir ihr Gnadenbrot. Das eine hat mich durch die Welt des Berufs und der Wissenschaft getragen; das andere, dessen Zügel ich nicht immer fest in der Hand hatte, hat immer – manchmal auch ohne mein Zutun – den Weg zu den Futtertrögen gefunden. Die wenigsten von uns bleiben souverän in allen erdenklichen Lebenslagen. Dass ich nun schauen kann, hat zu tun mit einer materiellen Auskömmlichkeit. Was mir anvertraut worden ist, habe ich zumindest nicht verschleudert. Wie ich nun in die Welt zu schauen vermag, das wiederum verdankt sich einer verrückten Drift durch die Welt der Bücher und des Geistes. Wenn ich mit zunehmendem Alter und vielleicht auch zunehmender Reife die sogenannte Luhmannsche Lektion lernen durfte, bedeutet, dass mir das Herz (und auch der Kopf) sehr viel leichter ist als noch vor mehr als vierzig Jahren. Manchmal fühle ich bis heute die Versuchung, mich in der Sprache zu Hause zu fühlen, sie zumindest als Vehikel nutzen zu können, das mir sowohl Erinnerungen erlaubt als auch – immer wieder neu – die Chance eröffnet, die mir nahen Menschen meiner Liebe über den Augenblick und das konkrete Handeln hinaus zu vergewissern – am Anfang war das Wort. Und ganz gewiss – dies hat sich über all die Jahrzehnte bewahren lassen – war Sprache immer das Medium, über das ich mich von missliebigen Phänomenen oder Zeitgenossen distanzieren konnte, bis hin zur finalen Attacke (da kann auch schon einmal die Frage auftauchen und auf Beantwortung drängen, ob Alexander Gauland  und Björn Höcke Drecksäue sind, und ob man mit einer solchen Annahme sus scofra – den Wildschweinen – nicht zu nahe treten würde.

Ganz behutsam habe ich dann mit der Zeit die Seiten gewechselt, weil ich Norbert Bolz folge, wenn er bemerkt, dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Konflikte zu lösen: „Man denke nur an den Ehestreit. Sprache ist zu beliebig, um das Soziale zu strukturieren. Auch reicht der Bezug auf die Sprache nicht aus, um die Stiftung von Sinn zu begreifen. Luhmann versteht Sprache deshalb ‚nur‘ als Variationsmechanismus, also in Sprache mutiert Gesellschaft. Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit“, darum gehe der Streit zwischen Luhmann und Habermas (40).

Der Seitenwechsel:

1986 – vor 44 Jahren – habe ich meine Dissertation veröffentlicht. Die wissenschaftstheoretischen Kernaussagen hatten Bekenntnischarakter – zumindest war ich selber fest davon überzeugt. Mit einem offenen Bekenntnis wäre ich ganz sicher auf den Widerstand meiner Betreuer gestoßen (Prof. Dr. Heino Kaack und seinerzeit von PD Dr. Ulrich Sarcinelli). Wenn ich nun eine längere Passage wiedergebe, verblüfft mich vor allem, wie sehr ich mich heute mit der seinerzeit als kritikwürdig betrachteten Position Luhmanns identifiziere und die kritischen Vorbehalte Habermasens für mich relativiert habe. Ja, auch damals ging es schon um die wissenschaftstheoretischen Giganten Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Es ist im Übrigen frappierend und erhellend, wenn man die folgende Passage im Kontext der Covid19-geschuldeten Politik liest – insbesondere mit Blick auf die Debatte um die Einschränkungen von Grundrechten (Dissertation, S. 100ff.):

„Die Kernaussage Luhmanns impliziert – sozialisationstheoretisch gewendet – einen Sozialisationstyp, der ein nahezu motivloses, selbstverständliches Akzeptieren bindender Entscheidungen soweit verinnerlicht hat, dass – wie Easton/Dennis formulieren – ein funktionaler Handlungsspielraum des politischen Systems durch einen ‚diffuse support‘ seitens der Bevölkerung gewährleistet ist …] In gewisser Weise – so Luhmann – ist ‚Opportunismus bestandswesentlich geworden, denn Werte können nicht mehr durch sture Rangprioritäten festgelegt werden. Dem entspricht die Bedeutung von kognitiven Wertstrukturen, die auf der Grundlage abstrakter Grundhypothesen (z.B. die Verteilung sozialer Chancen und Positionen erfolgt in dieser Gesellschaft nach gerechten Kriterien = Leistung) relativ enttäuschungsfest sind.“ Weiterhin ist die Rede von einer „effektiven Systemintegration, die – zumindest in demokratisch verfassten Gesellschaften – unauflöslich an eine komplementäre funktionale Sozialintegration“ gebunden ist. Und nun einmal genau hinschauen und – jetzt in der zweiten Februarhälfte 2021 beobachten, was sich nach einem Jahr Pandemiedruck und –erfahrung möglicherweise verändert: „Das heißt, die Voraussetzungen für eine effektive Systemintegration (Regierbarkeit) sind voraussichtlich in dem Maße gegeben, wie der einzelne bzw. die Masse der Bevölkerung z.B.

  • den Staat als Rechtsstaat bewertet, in dem politische Entscheidungen durch legitimierte Gremien zustande kommen;
  • glaubt, seine/ihre Interessen – zumindest überwiegend – in einer wählbaren Partei vertreten zu sehen;
  • davon ausgeht, durch politische und wissenschaftliche Eliten (rationale) Problemlösungsstrategien angeboten zu bekommen, die er durch seine Wahlentscheidungen beeinflussen kann;
  • davon ausgeht, das politische System sei 1. in seinen politischen Eliten glaubhaft und identifikationsfähig, 2. auf der Problemlösungsebene effizient und 3. In seinen Leistungen bzw. Entscheidungen sozial und gerecht.

Jürgen Habermas geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass ‚im Publikum der Staatsbürger‘ die gebrauchswertorientierten – und das heißt: an Erfolg kontrollierbaren Erwartungen zunehmen. Das steigende Anspruchsniveau verhalte sich zum wachsenden Legitimationsbedarf proportional: die fiskalisch abgeschöpfte Ressource ‚Wert‘ müsse die knappe Ressource ‚Sinn‘ substituieren. ‚Fehlende Legitimationen müssen durch systemkonforme Entschädigungen ausgeglichen werden. Eine Legitimationskrise entsteht, sobald die Ansprüche schneller steigen, als die disponible Wertmasse, oder wenn Erwartungen entstehen, die mit systemkonformen Entschädigungen nicht mehr befriedigt werden können.‘ Diesem Bedürfnistyp entspricht eine politisch abstrakte Grundhaltung, verbunden mit einer überwiegend privatistischen Karriere-, Freizeit- und Konsumorientierung. Habermas hat den zugrundeliegenden Einstellungskomplex in den zwei Syndromen des ‚staatsbürgerlichen und familial-beruflichen Privatismus‘ zusammengefasst.“

Im Februar 2021 gewinnt man den Eindruck, dass sich das gesellschaftliche System – im Zusammenspiel seiner Subsysteme – auf einen Kipppunkt zubewegt. Erstaunlich waren bislang die Akzeptanzwerte zum politischen Krisenmanagement, so dass man Jürgen Habermas weitgehend entgegenhalten kann, dass es selbst angesichts der drastischen Einschränkungen über die letzten 12 Monate nicht wirklich zu einer nachhaltigen Legitimationskrise gekommen ist, etwas worauf die AfD in überlebensgieriger Haltung wartet. Spannend in diesem Mega-Wahl-Jahr wird nunmehr sein, inwieweit die oben genannten Kriterien für eine über das politische System gewährleistete Systemintegration weiterhin Bestand haben! Erosionserscheinungen lassen sich deutlich erkennen mit Blick auf das Impfdesaster sowie mit Blick auf erkennbare Kommunikationsdefizite hinsichtlich der sogenannten Inzidenzwerte (50 bzw. 35 pro 100.000) und die damit nach wie vor begründeten Einschränkungen.

Aber eigentlich wollte ich ja nur verdeutlichen, wie ich behutsam von der einen Seite (Jürgen Habermas) zur anderen Seite (Niklas Luhmann) geraten bin – hierzu ein Zitat, mit dem ich die Festschrift zu meinem Berufsausstieg 2017 eingeleitet habe:

„Denn es geht hier (bei vielen privaten und öffentlichen Konflikten, Anm. Verf.), möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten.“ (Peter Sloterdijk, in: Luhmann Lektüren, Berlin 2010, S. 153)

Der neuerliche Versuch, den eigenen Spuren zu folgen und wortschöpfend jene Erinnerungs- und Reflexionsinseln einzudeichen, die sich vordrängen und die man aufspüren muss/will, soll zeigen inwieweit man aus der von mir als Luhmannsche Lektion bezeichneten Einsicht, Gewinn ziehen kann. Mit Blick auf mein Vorhaben bedeutet dies nichts anderes, als durch einen zweiten und dritten Blick vorschnelle Urteile und Bewertungen zu vermeiden.

Welche Wege hat man denn gewählt bzw. welche Wege haben sich denn angeboten oder gar aufgenötigt, um die Luhmannsche Lektion für sich annehmen zu können? Katholisch, vom Lande, aber ein Junge – vielleicht war letztere Variable in den 50er und 60er Jahren doch noch der entscheidende Unterschied, der beispielsweise die Wege meiner Cousine Gaby – ca. sechs Stunden älter als ich – und meine Wege Mitte der sechziger Jahre aus dem Gleichschritt gebracht hat? Sie hatte mich ja noch motiviert – orientierungslos, wie ich war – gemeinsam mit ihr nach der Volksschule in Bonn eine Private Handelsschule (Dr. Köster) zu besuchen. Der Hinweis ist ja bereits erfolgt, wie sehr ich mich dort deplatziert gefühlt und letztlich gequält habe. Erwähnenswert sind lediglich meine Fingerfertigkeit an der Schreibmaschine/Tastatur, und dass ich eine Zeit lang die Schulbank mit Hannes Bongartz gedrückt habe. Es ist mir nicht mehr erinnerlich, wie ich auf die Werbekampagne des Aufbau-Gymnasiums in Bad Neuenahr – meiner Heimatstadt – aufmerksam geworden bin. Jedenfalls habe ich mich aus eigenem Entschluss für die Aufnahmeprüfung angemeldet und diese Prüfung auch bestanden. Wenn ich versuche mir die Frage zu beantworten, welches Selbstbild denn hier zugrunde lag, dann lohnt ein Blick zurück in die Volksschule. Ich war zuletzt – in der Klassenstufe 7/8 ein guter Volksschüler. Die Leistungsanforderungen und die Arbeitshaltung, die dort erwartet wurde, entsprachen fast zur Gänze meinem Persönlichkeitsnaturell. Natürlich müsste ich hier andere befragen. Aber ich werde kommenden Sonntag 69 Jahre alt, und ich kenne viele Geschichten über mich, auf die ich hier zurückgreifen werde.

 Assimilation und Akkomodation: Was machen wir, wenn das Unfassbare geschieht? (9)

Es gibt über die ersten Stunden, nachdem mich die Nachricht vom Flugzeugabsturz in der Nähe von Landshut erreicht hatte, sowohl Blogeinträge als auch Tagebuchaufzeichnungen, die Jahre später entstanden sind. Bezeichnend ist die absolute Sprachlosigkeit in den ersten Tagen, Wochen, Monaten, sogar Jahren. Gedanken, eine abgeschattete Gefühlswelt haben über die Jahre schleichend eine kritische Masse angehäuft, die dann nach der Explosion so ziemlich alles in Trümmer gelegt hat, was bis dahin entstanden war. Nunmehr fast 27 Jahre nach dem schmerzhaftesten Wendepunkt meines Lebens, also mit großem zeitlichem Abstand, sind die Zugänge zu dem unmittelbaren Erleben am Mittag dieses 21. Juni 1994 weitgehend versperrt. Das mag damit zusammenhängen, dass sich zunächst einmal so etwas ereignete, wie eine Implosion – das Gegenteil der mit Zeitzünder initialisierten Explosion in der ersten Hälfte des Jahres 1997. Wie hätte ich denn wissen und fühlen sollen, wer ich unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse von 1994 wirklich war oder auch sein konnte? Es gibt auch heute noch so vieles, was sich an Erinnerungen und Eindrücken überlagert. Vielleicht beginne ich mit der Selbstbildfacette der Hybris! Mir gegenüber und der Welt gegenüber im Recht zu sein, vor allem auch Recht zu behalten – selbst gegen bessere Einsicht –, war mir in der ersten Hälfte meines Lebens wichtig! Es war der Legitimationsfeiler einer Weltsicht, die erstens auf der Erkenntnis beruhte, dass die Menschen und die Welt schlecht waren: unsere Eltern und Großeltern hatten es nicht gut gemacht – außer natürlich meinen eigenen Eltern und Großeltern. Alles in allem war die Welt moralisch ein Trümmerfeld, Politik und Verwaltung(en) waren korrupt – alles, was in der Welt Bestand hatte, hätte man besser machen können; alles war suboptimal. Wir alle hatten den Anspruch es besser zu machen und begannen mehr und mehr zurückzublicken auf Trümmerwelten, die wir mehr und mehr auch selbst zu verantworten hatten. Aber zuerst lautete die These: Wir sind die Guten! Ich habe alles richtig gemacht: Ich bin von zu Hause weggegangen und habe mein Ding gemacht – als erster Abitur – als erster Studium (vier Abschlüsse!) – Diplom – Promotion – beamteter Lehrer und Hochschullehrer – Ehemann und Familienvater – Häuslebauer – Weltverbesserer – der, der seine Eltern liebt und ehrt – der, der die perfekten Geschwisterbeziehungen pflegt??? Hinter dieser Fassade lebte der, der seine romantisierenden Ideale schon früh verraten hatte; der, der seine politischen Überzeugungen und seine alltägliche Praxis in einer Art Quadratur des Kreises miteinander unter einen Hut zu bringen suchte; der, dessen Schwester dem eigenen Sohn – seinem Neffen – zeitweise den Umgang mit ihm und seinem Umfeld verboten hatte; der, der Zweifel an den stets idealisierten Geschwisterbeziehungen stets zurückgewiesen hat; der, der zunehmend daran scheiterte, auch die Schwiegerfamilie zu befrieden!

Mit diesen Verfalls- und Lähmungserscheinungen trat also jemand den neuen Job an, bastelte weiter an Familie und dem viel zu großen Haus, ohne wirklich zu merken, wie die Luft, die er atmete, immer dünner wurde. Da bewegte ich mich also in meiner statistischen Lebensmitte. Ich habe bereits die Zahl 367.920 an irgendeiner Stelle erwähnt; so viele Stunden verbergen sich etwa hinter 42 Lebensjahren. Und nur an diesem – sich im Zeitfluss – allen Vorstellungsbemühungen entziehenden Stundenhaufen kann man ansatzweise erahnen, was denn eigentlich unvermeidbarer Weise geschieht, wenn jemand versucht, sich zu erinnern. Und was sollte bzw. was kann man überhaupt erinnern?

Mit aller Vorsicht lese ich bei Ken Wilber (Eros – Kosmos – Logos, Frankfurt 2001, hier S. 567): „Der Geist trachtet sich zuerst durch Empfindung, dann durch Wahrnehmung, dann durch Impuls selbst zu erkennen.“ Immerhin wird hier schon deutlich, dass große Erzähler diese drei Ebenen der Selbstrepräsentation vielleicht miteinander zu integrieren vermögen, indem sie uns nahebringen, was jemand denkt, was er fühlt und wie er handelt! In der von mir eher bevorzugten Sprachregelung spricht man von gelebtemerlebtem und erzähltem Leben. Gleich welcher Unterscheidungen man sich auch bedienen mag, es gilt groß aufzuräumen mit einer der zentralen Prämissen meines frühen Selbst- und Weltverstehens. Ken Wilber geißelt in seinen großangelegten Bemühungen sowohl die Ego-Zentristen als auch die Öko-Zentristen und sucht sie zu entlarven als jeweils sich selbst ausschließende Weltbild-Terroristen erster Ordnung. Und auch ich gerate ins Okular des Wilberschen Teleskops, mit meinen eigenen frühen abstrusen Aufbruchsphantasien, mit denen ich mich und die Anderen in die Irre führte:

„Wenn wir also auf ursprüngliche Weise wirklich unsere Gefühle leben können, werden auch all unsere existentiellen Probleme dahinschmelzen. Dass meine Gefühle nicht einmal im Ansatz den Standpunkt des anderen einnehmen können, dass meine Gefühle, als Gefühle selbstreflektierend sind, dass sie egozentrisch um sich selbst kreisen, dass sie aus sich selbst heraus niemals in den intersubjektiven Kreis aufsteigen, wo allein Liebe wirklich hervorstrahlen und wo allein Mitgefühl gedeihen kann – dass die Propagierung einer Ethik des ‚Sich-gut-Fühlens‘ als primärer moralischer Impuls mich direkt in den göttlichen Egoismus und die existentielle Hölle katapultiert: über all das nicht ein Wort.“

An den zu schildernden Tiefpunkten meines empirischen Lebens – den Monaten meines selbstverordneten Knasts – in der Mitte des Jahres 1997, getrennt von Kindern und Familie – begann dann jene späte Erweckung, die nach so vielen Bemühungen – jetzt 2021 – zu einem neuerlichen Aufbruch führen. Auch die will ich mit Ken Wilber kurz markieren. Das liegt deshalb nahe, weil ich gegenwärtig das Heranwachsen zweier Enkelkinder erlebe und Ken Wilber jene Lektion anbietet, die am Anfang jedes Erwachsenenlebens stehen müsste und die etwas zu tun hat mit nicht auslassbaren Entwicklungsabfolgen. Diese Lektion geht einher mit dem Hinweis, dass wir alle tunlichst etwas wissen sollten über die erste Differenzierung zwischen dem Ich und dem anderen, zwischen Subjekt und Objekt. Hier – so Wilber – gehe es um die Ablösung vom „ursprünglich-archaischen Zustand der undifferenzierten und indissoziierten Partizipation“, die meist in den ersten zwei bis drei Lebensjahren erfolge.

„Diese notwendige Differenzierung  wird völlig mit der Dissoziation verwechselt und wird deshalb als Ur-Verlust, als Ur-Entfremdung interpretiert, die das Ich für immer von den anderen trennt, von sich selbst und von der Natur. Und folgerichtig wird dann alles darauf folgende menschliche Sehnen, aller menschliche Antrieb, alle Motivation und alle kulturelle Anstrengung als eine Reihe zum Fehlschlag verdammter gequälter Versuche gesehen, dieses Verlorene Paradies wiederzugewinnen.“

Es geht bei Ken Wilber um  G R E N Z E N – theoretisch haben wir alle das einmal gelernt, dass es elementare Differenzierungen gibt von physischem Ich und physischem anderen, des emotionalen Ich vom emotionalen anderen, des begrifflichen Ich vom begrifflichen anderen, des kulturellen Rollen-Ich vom Rollen-anderen. Das gelebte Leben – meine Biologie –, das erlebte Leben – meine gedankliche oder auch Bewusstseins-Welt – trennen sich von meiner sozial erfahrenen und gestalteten Welt, von meinem erzählten Leben. Interessanterweise führt Ken Wilber auch die Haut-Grenze ein, die Unterscheidung von Innen und Außen:

„Mein mentales Ich beispielsweise enthält alle möglichen Arten von Identifikationen mit Familie, Werten, Anliegen, Gruppen, Nationen etc. und keine von ihnen existiert innerhalb meiner Haut-Grenzen.“

In konsequenter Auslegung dieser Prämisse meint Ken Wilber, diese Unterscheidungen von Innen und Außen seien nicht überschreitbar und wendet sich gegen ein aus seiner Betrachtungsweise fatales Missverständnis und betont noch einmal, dass der Verlust des archaischen prädifferenzierten Zustands keine unwiderrufliche Entfremdung darstelle, sondern in Wirklichkeit nur die erste Stufe des Erwachens – zum Erwachsenen-Dasein (möchte man hinzufügen):

„In ähnlicher Weise wird eine andere Person ein Teil deiner emotionalen Ausstattung, wenn sie in deinem emotionalen Raum ist, nicht in deinem Magen. Der emotionale Raum existiert außerhalb der Haut-Grenze …] Ich kann mich emotional identifizieren mit Menschen, Anliegen, Gruppen, Nationen, unabhängig davon, wo sie sich örtlich befinden: Sie werden ein Teil von mir, wenn ich sie in meine emotionale Identität aufnehme, in meinen emotionalen Raum, und dann handeln sie innerhalb dieses Raumes, folgen seinen besonderen Gesetzen oder den Mustern meiner affektiven Gemütszustände, die sich wiederum daran anpassen oder ihre Tiefenstruktur verändern könnten, um neue Dinge zu assimilieren. Der mentale Raum bewegt sich auf ähnliche Weise außerhalb des emotionalen Raums (der kognitiv-mentale Raum kann buchstäblich die ‚Rolle des anderen‘ annehmen, anderen ‚unter die Haut dringen‘, ‚durch ihre Augen‘ sehen, neue Ideen assimilieren/akkomodieren etc.) und der spirituelle Raum befindet sich außerhalb des mentalen und in der Weite des Kósmos.“

Unter die Haut gehen in meinem emotionalen Raum – der Tod meines Bruders war eine Grenzerfahrung, die so ziemlich alles auf den Kopf und wiederum vom Kopf auf die Füße stellte, was bis dahin Geltung hatte. Da war zunächst einmal gar nichts gebacken im Sinne einer schlichten Assimilation; einer schlichten Integration eines brachial über mich – über uns hereinbrechenden Tsunamis. Ganz im Gegenteil wurde damit ein Akkomodationsprozess in Gang gesetzt, in dem sich über Jahre vollkommen neue Bewältigungs- und Verarbeitungsmuster herausbilden sollten.

Dass das finale Ereignis eines Flugzeugabsturzes nur wenige Minuten andauerte – und von den Beteiligten (bis auf den Piloten) auch nicht durchschaut wurde, vermutlich bis wenige Sekunden vor dem Zerbersten des Viersitzers auf freiem Feld, unter blauem, wolkenlosem Himmel, muss ich mir auch heute noch immer wieder vor Augen führen. Darin liegt der Auslöser für immer wieder aufwallenden Zorn und zugleich ein gewisser Trost. Es bleibt bei der tröstlichen Vorstellung, dass die vier Männer aus Bad Neuenahr (zwischen Ende dreißig und Ende fünfzig), von denen mein Bruder Willi der jüngste war, diesen Flug – in Vorfreude auf ein verlängertes Wochenende in Zell am See (Österreich) – bis kurz vor 10.00 Uhr am 21. Juni 1994 bei herrlichem Mittsommerwetter als reinen Genuss und außergewöhnliche Abwechslung und Bereicherung in einem für alle arbeitsreichen Alltag genossen haben. Da spielte es keine Rolle, dass ich meinen Bruder mal wieder als Idioten ansah, der keine Gelegenheit auslassen konnte, die man gemeinhin als puren Luxus oder meinetwegen als so überflüssig, wie einen Kropf betrachten konnte. Es spielte keine Rolle, dass er dafür eigentlich überhaupt kein – sozusagen überflüssiges Geld – zur Verfügung hatte (sein Konto war bis zum Anschlag überzogen). Es spielte keine Rolle, dass er sich eigentlich in einer kritischen Phase bewegte, in der seine Ehe lange auf dem Spiel gestanden hatte, er eine Affäre beendet hatte und sich wieder zurück bewegte in seine Familie mit zwei heranwachsenden Töchtern, von denen die eine sieben Jahre alt war und im September achte Jahre alt werden würde und die andere eben – im April – fünf Jahre alt geworden war. Es konnte gar keine Rolle spielen, dass die Mutter eben einmal in 14 Tagen ihren 70sten Geburtstag feiern sollte – wir hatten die Vorbereitungen dafür ja miteinander noch wenige Tage zuvor abgestimmt! Warum – verdammt noch einmal – musste mein idiotischer Bruder die Nase wieder mittendrin haben??? Er gehörte ja gar nicht dazu!!! Die beiden anderen hatten die Reise bei einer Tombola gewonnen. Er war nur als Ersatzkandidat eingesprungen für jemanden, der die Reise nicht antreten konnte. Warum war da nicht irgendjemand anderes – vielleicht partner- und kinderlos – interessiert gewesen, diese Reise anzutreten? Und warum – verflucht noch einmal – musste diese Maschine von einem gewissenlosen, ausschließlich an seinen eigenen Interessen und Motiven ausgerichteten Egomanen gesteuert werden??? Dieser Mann, den man gemeinhin für die ideale Besetzung dieses Parts im gesamten Arrangement hätte ansehen müssen, und der als Held von Landshut in der Bild-Zeitung abgefeiert wurde – diesem schon immer mit einem puren Filtrat aus reiner Scheiße gedruckten, waffenscheinpflichtigen Drecksblatt –, dieser Mann entpuppte sich nach der sorgfältigen Untersuchung des Bundesluftfahrtamtes als über die Maßen fahrlässiger Pilot. Entgegen seiner Verantwortung hatte er vor Abflug weder das Logbuch noch den Füllstand des Tankes überprüft. Der Check war abends zuvor erfolgt. Dass die Maschine nach seiner Abnahme nochmals für einen Schleppflug bewegt wurde, war so seiner Aufmerksamkeit – trotz ordnungsgemäß erfolgten Eintrags ins Logbuch – entgangen. Wenige Liter Sprit haben gefehlt, um das Fluggerät vorschriftsmäßig auf dem Landshuter Flugplatz zu landen. Bis in alle Ewigkeit hätte niemand Kenntnis erlangt von der Fahrlässigkeit des erfahrenen Bundeswehrpiloten. Dann – aber auch nur dann, unter genau dieser Maßgabe – hätte der Vergabe einer Lizenz zur Erteilung von Flugunterricht nichts im Wege gestanden. Onkel Günther, der Schwager unseres Vaters, ist noch am 21.6.94 nach Landshut gefahren und hat schon unter dem unmittelbaren Eindruck der Absturzstelle – wie dann von der Luftfahrtbehörde bestätigt – gemutmaßt, dass es ein Leichtes gewesen wäre die Maschine auf freiem, abgeernteten Gelände notzulanden; n o t z u l a n d e n! Darum war es dem Piloten zu tun, nämlich genau dies zu vermeiden. Braunschweig geht akribisch und unerbittlich jeder außerregulären (Not-)Landung nach. Die Maschine hatte nicht gebrannt – der Tank war staubtrocken. Der Pilot hatte zu hoch gepokert. Um zu verhindern, dass man ihm Fahrlässigkeit und Versäumnisse nachgewiesen und damit selbstredend die Erteilung einer Lizenz als Fluglehrer verweigert hätte, hat er leichtfertig sein eigenes und das Leben der drei ihm anvertrauten Männer aufs Spiel gesetzt – und verloren. Der Lebenslauf besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Nie ist mir diese Luhmannsche Lebenslaufformel zynischer und erbarmungsloser vorgekommen.

Das Leben meines Bruders war innerhalb von Sekunden ausgelöscht; unsere Mutter hatte ihren jüngsten Sohn verloren, seine Kinder ihren Vater und seine Frau ihren Mann. Fast 27 Jahre nach diesem Ereignis kann man natürlich sehen, dass die Welt sich weiter gedreht hat. Der eingetretene Verlust soll jedenfalls aus meiner Sicht – zumindest für die Blutsverwandtschaft – in seiner elementaren und existentiellen Dimension kein Gegenstand für Spekulationen sein. Auch die Frage, ob die Ehe Bestand gehabt hätte, sollte in ihrer rein spekulativen Perspektive hier keine Rolle spielen. Relativ früh habe ich begonnen den gesamten Blickwinkel umzukehren und meinen Bruder zum Adressaten von Briefen und Mitteilungen gemacht, wie es denn hier bei uns weitergegangen sei; eine Adresse hatte ich nicht, aber die Zustellung ist auch nicht verweigert worden. Warum ich mich der Spekulationen enthalten will, hängt zusammen mit dem Respekt, mit dem ich auf die Lebenswege der unmittelbar Betroffenen schaue; da gäbe es für meinen Bruder nichts zu meckern. Gleichwohl begleitet mich die Frage, was beispielsweise ein früher Verlust des Vaters für Töchter bedeuten mag, manchmal in meinen Träumen, aber auch im Wachen.

Die Frage, die ich mir hingegen erlaube und der ich mich gar nicht entziehen kann, hängt mit uns Brüdern zusammen, mit dem Ausmaß, in dem ich ihn vermisse und seinen Segen erhoffe. Mit unserer Schwester und unserer Cousine fühle ich mich da in nahtloser Übereinstimmung. Willi war in seiner Frohnatur meiner Schwester näher als mir; in einer vorsprachlichen, vollkommen selbstverständlichen Dimension von Zugehörigkeit und emotionaler Bindung muss man vermutlich lange nach einem vergleichbaren Brüderpaar im Geiste und im Herzen suchen. Dafür gibt es ein so unendlich dichtes feinstoffliches und feinmaschiges Gewebe, das diese tiefe Intuition auch nach 27 Jahren trägt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass ich wenige Jahre nach Willis Tod in seine Fußstapfen getreten bin und mich selbst nicht schützen konnte vor den Lektionen, die er bereits – als der Jüngere – dabei war zu lernen. 1997 hat er seinen Beitrag dazu geleistet, mich zu besinnen und endlich erwachsen zu werden – auch um herauszufinden, wer ich denn eigentlich bin. Um dorthin zu gelangen, musste die Welt sich weiterdrehen. Unsere Mutter musste sterben, und neben die neuentdeckte Lust am Leben musste ein preußisch anmutendes Pflichtethos treten, so dass ich tatsächlich ganz werden konnte.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund