Philippa Perry: Wir müssen verstehen, worüber wir im Leben keine Kontrolle haben
Immer häufiger kommt mir in letzter Zeit die Weisheit in den Sinn:
Mach dir einen Plan, und das Schicksal fällt lachend vom Stuhl.
Philippa Perry – vor nicht allzu langer Zeit war es allein der Titel eines ihrer zum Bestseller gewordenen Bücher, der Neugier weckte: „Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast).“ Das Buch, von dem die taz sagt: „Philippa Perry hat ein sehr kluges, geradezu weises Buch geschrieben“, steht seit einem Jahr unbeachtet im Regal (sollte sich in absehbarer Zeit ändern).
Nun bietet der aktuelle SPIEGEL (48/24) mir ein Interview mit Philippa Perry (Jg. 1957) an: Wir müssen verstehen, worüber wir im Leben keine Kontrolle haben: „Die Psychotherapeutin Philippa Perry erklärt, wie uns eine düstere Weltlage beeinflusst – und warum schon ein Stück Papier helfen kann, seelisch gesund zu bleiben.“
Viele Menschen – lesen wir hier – tun sich schwer Unsicherheit auszuhalten. Ich greife von den Allerweltsempfehlungen Philippa Perrys eine auf; dies vor allem, weil sie sich weitgehend deckt mit den von Alexander Kluge (unbedingt noch einmal lesen bzw. anhören) anlässlich seines 80sten Geburtstags gemachten Anregungen. Antje Windmann, die SPIEGEL-Redakteurin, fragt Perry:
„Sie empfehlen Menschen, die sich besser verstehen wollen, ein >Genogramm< von sich zu zeichnen. Eine Art Stammbaum, in dem durch unterschiedliche Linien die Beziehungen zu seinen Familienmitgliedern und Vorfahren illustriert und die einzelnen Personen durch wenige Eigenschaften charakterisiert. Was bringt das?“
Perry antwortet:
„Jeder von uns ist das Produkt einer besonderen Kombination von Genen und hat eine einzigartige Reihe prägender Beziehungen erlebt. Das Genogramm hilft etwa zu erkennen, welche Traumata es in der Familie gab und wie die Folgen auf einen selbst ausstrahlen. Mir hat es deutlich gemacht, wer und was mich wie geprägt hat. In der Familie meiner Mutter sind die Menschen isoliert, sprechen nicht miteinander, in der meines Vaters drehte sich alles um Regeln.“
Perry dreht den Spieß um und fragt Antje Windmann: „Haben Sie mal versucht, ein Genogramm für sich zu zeichnen?“
Windmann darauf:
„Als ich mich auf unser Interview vorbereitet habe.“ Perry: „Und?“ Windmann: „Mir ist noch einmal deutlich geworden, wie wichtig meine Oma für mich war. Sie war eine starke, sehr unabhängige Frau und hat mir schon als kleines Mädchen eingebläut: Lass dir nichts gefallen im Leben.“
Nun ja – manchmal reichen kleine Anstöße und Anregungen, um ein Licht – vielleicht einen Scheinwerfer – anzuschalten; vielleicht unter Perrys Motto: „Fast alles, was uns herausfordert, ist gut für uns und für unsere psychische Gesundheit.“
Also auf geht’s: Nimm dein Bett und wandele – oder wie Alexander Kluge ruft: "Wir müssen uns auf die Socken machen, der Schnee schmilzt weg. Wach auf du Christ - und was noch nicht gestorben ist, macht sich auf die Socken!"
Die Schlüsselstelle im Interview Denis Schecks mit Alexander Kluge lautet:
"Sehn sie, wenn die Zeiten sich so verdichten und beschleunigen, dass sie unheimlich sind - wenn die Zeiten sozusagen zeigen ein Rumoren der verschluckten Welt, als seien wir im Bauch eines Wals angekommen... wenn das alles so ist, dass man sich wie im Bauch eines Monstrums fühlt, dann kommt es darauf an sich zu verankern. Es ist am leichtesten sich zu verankern in dem, was wir in uns tragen! Sehen Sie, wenn wir beide unsere 16 Urgroßeltern nehmen - unter der Zahl werden wir nicht geboren sein - dann können sie sagen, die sind so extrem verschieden und wussten so wenig, in welchen Körpern sie einmal zusammen kommen werden, dass wir eigentlich denken müssten, bei uns müsste Bürgerkrieg herrschen."