Bevor es zu spät ist – welche schwierigen, aber wirklich wichtigen Fragen wir unseren Eltern stellen sollten.
Das ZEIT-Magazin lockt mit diesem Aufmacher auf der Titelseite der ZEIT-Ausgabe vom 24. Oktober 2024 (45/24). Immerhin helfen dabei fünf renommierte Zeit-Redakteur:innen: Andreas Öhler, Johannes Dudziak, Iris Radisch, Malin Schulz und Raoul Löbbert. Sie nähern sich dem heiklen Themenkomplex, indem sie – sozusagen vorgeschaltet – fragen:
„Kennen wir unsere Eltern eigentlich wirklich? Wieso fällt es uns schwer, ihnen die Fragen zu stellen, die wir an sie haben?“ Sie verweisen auf ein neues Buch von Stephan Schäfer – eigentlich zwei Bücher. 100 Fragen hat er in einem Buch versammelt, das in der Tat in zwei Versionen erscheint – eins richtet sich an Mütter, das andere an Väter; es heißt: Das Buch, das bleibt (bei Ullstein).
Die Geschichten, die den genannten ZEIT-Redakteur:innen dazu einfallen sind gewiss mehr oder weniger lesenswert. Wie schon in meinen vorangegangenen Blog-Beiträgen wird hier eine Tür geöffnet, durch die gewiss nicht jeder gehen mag. Natürlich kennen wir unsere Eltern:
„Sie waren da in unserem ersten Moment, und wir sind es vielleicht in ihrem letzten. Aber kennen wir auch den Menschen, der unsere Mutter, unser Vater ist? Wissen wir, wer sie waren, bevor wir sie für immer zu unseren Eltern machten? Und was passiert, wenn wir uns diese Frage – und dieser Frage – wirklich einmal stellen?“
Im ZEIT-Magazin findet sich die Anregung, sich den Eltern auf eher ungewohnte Weise zu nähern und sie eben nicht nur in ihrer Beziehung zu einem selbst zu sehen. Wenn wir sie als Mensch sehen wollten, könnte das auch bedeuten, ihre Fehlbarkeit zu verstehen, ihre Verletzlichkeit zuzulassen – „vielleicht sogar zu verzeihen“.
Die Schwierigkeit bei alledem scheint für viele Kinder darin zu bestehen, dass es kein fixes Koordinatensystem gibt, das es uns erlaubt nach einem verlässlichen Kompass vorzugehen, der uns sagt, was richtig, was normal, was angemessen ist im Verhältnis von Eltern und Kindern. Davon zeugen auch die fünf Geschichten, die im ZEIT-Magazin erzählt werden: Der Vorhang zu und alle Fragen offen: Wie blickst Du auf die Welt? Wofür stehst Du? Warum bist Du nicht einfach gefahren? Wie war es, als Ihr Euch versteckt habt? Welche Geheimnisse hast Du mitgenommen? Fragen, die jeweils einen Kosmos an weiteren Fragen hinter sich herziehen.
Schaut man sich eine dieser Geschichten etwas eingehender an, finden typische Muster festgefahrener, verkrusteter Familiendynamiken. In dieser Geschichte beschreiten zwei Geschwister – Bruder (Bernd) und Schwester (Sabine) – sehr unterschiedliche Wege zu ihrem Seelenheil. Die Scheidung ihrer Eltern (Hannelore und Hans-Peter) wird von beiden im jungen Erwachsenenalter gleichermaßen als verspätete Lösung aus einer toxischen Beziehung empfunden.
Die Schwester (Sabine) wandert früh – nach einem Studium der Architektur – nach Brasilien aus, gründet dort eine Familie, aus der zwei Kinder, ein Junge (Peter) und ein Mädchen (Katja) hervorgehen. Die Ehe wird nach wenigen Jahren geschieden. Der Bruder (Bernd) hingegen bleibt in der Heimatstadt im Odenwald. Nach einem Lehramtsstudium der Fächer Mathematik und Musik arbeitet er als Lehrer am örtlichen Gymnasium, heiratet eine Kommilitonin (Gisela - Grundschullehrerin mit den Fächern Deutsch und Religion). Aus der Ehe gehen ebenfalls zwei Kinder hervor – wiederum ein Junge (Wolfgang) und ein Mädchen (Vera). Der Kontakt zu beiden Elternteilen, die nach der Scheidung keinen versöhnlichen Umgang miteinander pflegen, sondern sich im Streit verbunden bleiben, erweist sich als belastet und ambivalent, bricht zeitweise ab. Während der Bruder sich schließlich darauf einlässt, das elterliche Haus zu übernehmen, vermeidet die Schwester (Sabine) über fast dreißig Jahre jeden Kontakt zu den Eltern. Bruder (Bernd) und Schwester (Sabine) hingegen pflegen brieflichen Kontakt und intensivieren diesen Kontakt in den letzten Jahren mittels regelmäßiger Videokonferenzen. So erfährt die Schwester (Sabine) vom Schlaganfall und Tod des Vaters (Hans-Peter).
Kurt Lüscher (Familie heute: Mannigfaltige Praxis und Ambivalenz in: Familiendynamik 3/2012) erlaubt mit Blick auf die geschilderten Formen der Beziehungsgestaltung eine differenzierte Betrachtungsweise, indem er in dem von ihm vorgestellten Modell grundsätzlich zwischen einer subjektiven und einer institutionellen Dimension unterscheidet. Beide Dimensionen sind durch Dualitäten gekennzeichnet. Er spricht von dynamischen und spannungsvollen Grundverhältnissen. Für die subjektive Dimension nennt er Konvergenz (Annäherung) vs. Divergenz (Distanzierung). Für die institutionelle Dimension spricht er von Reproduktion (Beharren) vs. Innovation (Veränderung). Lüscher entwickelt eine diagrammatische Darstellung und arbeitet vier Grundtypen der Beziehungsgestaltung und des Umgangs mit den dabei auftretenden Ambivalenzen heraus - Übergänge sind selbstredend möglich bzw. erstrebenswert (folgende Wiedergabe im Wortlaut):
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- Typ 1: "Solidarität": Es überwiegen die persönliche Vertrautheit und das Zueinander in überkommenen Lebenswelten und Tätigkeitsfeldern; Ambivalenzerfahrungen werden mit dem Hinweis auf das Gemeinsame weitgehend überspielt oder verdrängt.
- Typ 2: "Emanzipation": Die gegenseitige Wertschätzung orientiert sich an der Vorstellung einer eigenständigen Persönlichkeitsentfaltung in sich wandelnden Lebenswelten; man gesteht sich Ambivalenzerfahrungen ein und bringt diese zur Sprache.
- Typ 3: "Atomisierung": Distanz und Entfremdung sowie sich rasch verändernde Lebenswelten führen dazu, dass man sich auseinanderlebt; mögliche Ambivalenzerfahrungen werden verneint oder kommen nicht zum Tragen.
- Typ 4: "Kaptivation": Man ist sich zusehends fremd und dennoch an überkommene Lebensformen gebunden; die Ambivalenzen äußern sich in Verstrickungen oder in einem instrumentellen gegenseitigen Umgang.
Während die Schwester (Sabine) sehr früh ihr Heil in einer Mischung aus Typ 2 und Typ 3 sucht, kultiviert der Bruder (Bernd) – mit phasenweise unterschiedlichen Gewichtungen - eine Mischung aus Typ 2, Typ3 und Typ 4. In den Grundmustern lassen sich deutliche Unterschiede benennen, die allerdings eine Gemeinsamkeit ausweisen: Beide Kinder suchen Distanz und empfinden eine tief verankerte Entfremdung; Formen persönlicher Vertrautheit mit Blick auf die Eltern sind den Geschwistern gleichermaßen fremd. Während die Schwester (Sabine) den Kontakt – allein schon aufgrund der räumlichen Distanz – abbricht, sucht der Bruder (Bernd) seinerseits – aufgrund der räumlichen Nähe – nach eigenen Formen der Abgrenzung. Zuletzt manifestiert sich das Bedürfnis nach Abgrenzung durch eine fein ziselierte Praxis im Sinne von Typ 4 „Kaptivation“: Man hält an überkommenen Lebensformen fest, beispielsweise durch regelmäßige Besuche, vermeidet dabei aber Formen der Vertrautheit. Das Gemeinsame im Sinne von Herkunft, Generativität und Zugehörigkeit wird überspielt und weitgehend verdrängt. Der Kontakt der Enkelkinder (Wolfgang und Vera) zu ihren Großeltern ist spärlich und wird durch Bernd eher unterbunden.
Durch die Übernahme des elterlichen Hauses ergeben sich andererseits Abhängigkeiten, die Bernd belasten, ihn jedoch nicht daran hindern, den Eltern gegenüber eine Anspruchshaltung zu vertreten. Die damit verbundenen Ambivalenzen äußern sich – im Sinne der Unterscheidungen Lüschers – in einem eher instrumentellen Umgang miteinander. Hinzu kommt, dass die Eltern unabhängig voneinander – möglicherweise aus einem Schuldgefühl heraus – finanzielle Mittel für einen familiengerechten Umbau des übertragenen Hauses zuschießen. Bernd, der seinen Eltern schon früh vorgeworfen hat, ihn nicht in einer Absicht unterstützt zu haben, eine Karriere als professioneller Musiker zu begründen, sieht in der Unterstützung der Eltern eine legitime Entschädigung. Der Ausweg ins Lehramt hat ihn immer belastet, und seine Frühpensionierung nach einem Burnout und einer diagnostizierten Depression lastet er in erster Linie seinen Eltern an – Vater und Mutter hätten sein Leben zerstört. Bernd und seine Frau Gisela vertreten hier unterschiedliche Auffassungen. Gisela fordert von ihrem Mann Bernd mehr Selbstverantwortung ein und leidet eher unter den latenten Spannungen, die in der Folge auch das eigene Familienleben belasten.
Im Folgenden sind es die Enkelkinder, die Bewegung in eine festgefahrene, verkrustete Familienstruktur bringen:
Katja, die Tochter Sabines, entschließt sich gegen den Willen ihrer Mutter Sabine für ein Studium der Architektur in Deutschland. Ohne Wissen ihrer Mutter hat Katja Kontakt zu ihrer Cousine Vera und ihrer Tante Gisela aufgenommen und sich mit Erfolg um einen Studienplatz beworben. Katja findet bei ihrer Tante Unterschlupf und Hilfe bei der Suche nach einer studentischen Unterkunft. Aber vor allem will Katja ihre Oma Hannelore kennenlernen. Sie erzählt, dass zu Hause in Brasilien nie von Deutschland erzählt worden ist. Erst in den letzten Jahren hat die Mutter (Sabine) auf ihre drängenden Fragen reagiert. Nach dem Tod ihres Opas Bernd haben die Konflikte an Schärfe zugenommen und den Entschluss Katjas nach Deutschland zu gehen verstärkt. Sie macht ihrer Mutter Sabine Vorwürfe, sie von ihren Wurzeln abgeschnitten zu haben. Ihr Bruder Peter und ihr Cousin Wolfgang - der Bruder Veras – zeigen je auf ihre Weise Auffälligkeiten. Während Peter inzwischen die dritte Ausbildung zum Mechatroniker begonnen hat, pflegt Wolfgang Kontakte in die rechtsextreme Szene und scheint sich auf diese Weise von seinem Vater abgrenzen zu wollen, den er für einen Spießer und Versager hält. Er hatte in den letzten Jahren heimlich Kontakt zu seinem Opa (Hans Peter), der ihm einen Motorroller finanziert hat.
Katja beginnt im Wintersemester in Darmstadt ein Studium der Architektur, entwickelt eine Freundschaft zu ihrer Cousine Vera und besucht regelmäßig ihre Oma Hannelore. Sie hat viele Fragen und beginnt sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. Ihre Oma zeigt ihre Freude offen und unterstützt ihre Enkelinnen in jeder erdenklichen Weise. Vor allem ermöglicht die Oma Katja über die von ihr gestalteten Fotoalben einen tiefen Einblick in ihre Herkunftsfamilie. Gemeinsam lesen sie „Bevor es zu spät ist“ im ZEIT-Magazin 45/24 und bilden die Keimzelle für neue, unverhoffte Entwicklungen in einem schwierigen Familiensystem. Sie beginnen an Typ 1 der von Lüscher beschriebenen Muster zu schnuppern. Die Oma erzählt, dass sie erst spät, aber gottlob nicht zu spät, auch ihren Frieden mit Opa Bernd gemacht hat. Sie erzählt ihren Enkelinnen, dass kinderlose Paare sich nach Trennungen häufig aus den Augen verlieren. So hat sie es das ein oder andere Mal in ihrem Bekanntenkreis erlebt. Wenn man gemeinsame Kinder hat, ist dies nicht so ohne weiteres möglich. In ihrer eigenen Therapie vor wenigen Jahren hat sie diese Erkenntnis gewonnen. Ihr schuldhaftes befeuern der Konflikte in den Jahren nach der Trennung bedauert sie und hat von sich aus den Kontakt zu ihrem geschiedenen Mann Hans-Peter gesucht.
Dass sie noch zu Lebzeiten ihren Frieden gemacht haben, irritiert ihren Sohn Bernd, der seiner Mutter vorwirft, sie suche ja nur ihr eigenes Heil. Er erinnert sich allerdings, dass er in seiner eigenen Therapie im Zuge seiner depressiven Schübe in Familienaufstellungen solche Dynamiken beobachten konnte, in denen tief zerstrittene Ehepartner ihren Frieden miteinander gemacht hätten. In Gesprächen mit seiner Frau Gisela bekennt er zum ersten Mal, dass er sich in erster Linie als Opfer seiner Eltern sehe. Ihre - Giselas - Appelle an seine Selbstverantwortung habe er immer gekränkt zurückgewiesen. Er habe außerdem das Gefühl, den Kontakt zu seinen beiden Kindern schon vor langer Zeit verloren zu haben. Er bittet seine Frau, gemeinsam mit ihm eine Paartherapie zu machen, woraufhin Gisela ihm entgegnet, sie halte es für sinnvoller, wenn es sich seinen Problem im Rahmen einer eigenen Therapie stelle. Noch sei es nicht zu spät, seinem Leben eine Wende zu geben.