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Kann man sich auf Verlusterfahrungen vorbereiten? Die RZ als Ratgeber

„Es werden politische und kulturelle Formate entwickelt, die auf Verlusterfahrungen antworten, sie transformieren oder versuchen, sich gegen sie zu wappnen.“ (Seite 14) Dies geschehe – so Reckwitz - in aller Ambivalenz. Entsprechende Reaktionsmuster sind uns allen mehr als geläufig. Ihm gehe es um eine nüchterne Analyse der modernen Gesellschaft unter dem Aspekt, in welcher Relation sie sich zu Verlusterfahrungen befinde. So Andreas Reckwitz: Verlust – Ein Grundproblem der Moderne (Suhrkamp Verlag, Berlin 2024). Reckwitz versucht zu beschreiben, wie – und mit welchen Mitteln – die Moderne Verluste unsichtbar macht. Der Buchdeckel gibt in einer knappen Zusammenfassung Einblick in die zugrundeliegenden Annahmen und die Absicht, die Reckwitz hegt:

„Gletscher schmelzen, Arbeitswelten verschwinden, Ordnungen zerfallen. Verluste bedrängen die westlichen Gegenwartsgesellschaften in großer Zahl und Vielfalt. Sie treiben die Menschen auf die Straße, in die Praxen der Therapeuten und in die Arme von Populisten. Sie setzen den Ton unserer Zeit. Während sich die Formen ihrer Verarbeitung tiefgreifend verändern, scheinen Verlusterfahrungen und Verlustängste immer weiter zu eskalieren. Wie ist das zu erklären? Und was bedeutet es für die Zukunft?

Andreas Reckwitz leistet Pionierarbeit und präsentiert die erste umfassende Analyse der sozialen und kulturellen Strukturen, die unser Verhältnis zum Verlust prägen. Unter dem Banner des Fortschritts, so legt er dar, wird die westliche Moderne schon immer von einer Verlustparadoxie angetrieben: Sie will (und kann) Verlusterfahrungen reduzieren – und potenziert sie zugleich. Dieses fragile Arrangement hatte lange Bestand, doch in der verletzlichen Spätmoderne kollabiert es. Das Fortschrittsnarrativ büßt massiv an Glaubwürdigkeit ein, Verluste lassen sich nicht mehr unsichtbar machen. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? Ein wegweisendes Buch.“

Die Rhein-Zeitung verfügt im nördlichen Rheinland-Pfalz als Tageszeitung über eine Monopolstellung. Dies mag in Zeiten der elektronischen Medien nicht mehr viel bedeuten. Gleichwohl ist zu vermuten, dass Menschen – vor allem ältere Menschen – ihren Blick auf und in die Welt nach wie vor an dieses täglich erscheinende Printmedium knüpfen. Mittwochs und samstags gilt der erste Blick den Sterbemitteilungen. Man will wissen, wer gestorben ist und wo man selbst – rein jahrgangsbezogen, also mit Blick auf die Sterbetafel und ihre statistischen Werte – steht. Da ist es doch löblich, dass ein solches Printmedium hier regelmäßige Zugänge eröffnet. Andreas Reckwitz spricht hier von einer typischen zweiwertigen Verlustlogik, die allein die Relation zwischen Subjekt und Objekt des Verlustes kenne.

[Am Rande sei erwähnt, dass in der modernen Gesellschaft eine dreiwertige Verlustlogik – so Reckwitz – an Bedeutung gewinne, in der darüber hinaus eben auch Schuldige, Gewinner und Beobachter eine wichtige Rolle spielen – hier wäre gewiss eine Studie zur Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 aufschlussreich]

Auf Seite 9 ihrer Ausgabe vom 18. Oktober 2024 platziert die Rhein-Zeitung einen Beitrag mit dem Titel: „Warum Abschiednehmen von den Eltern so schwerfällt“. Es sei eigentlich „das normalste der Welt“ ist zu lesen: „Die Zeit mit Vater und Mutter ist begrenzt – Eine Expertin erklärt, wie dieser Gedanke leichter wird“. Was rät sie uns?

Liest man die Einstimmung aufs Thema, hat man spontan die Anwandlung: Das Kind liegt schon im Brunnen – ob es noch atmet, ist fraglich:

„Manchmal macht man sich monatelang keine Gedanken darüber. Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, denkt man auf einmal: >Sie werden alt!< Da muss die Mutter nicht erst mit Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus gekommen sein. Oder beim Vater Demenz festgestellt werden. Manchmal reichen schon die kleinen Gesten, die kleinen Momente, dass einem bewusst wird: Die Zeit meiner Eltern ist begrenzt. Und manchmal scheint ihr Ende sehr voraussehbar.“

Aber hat die Expertin – Antje Randow-Ruddies nicht Recht? - wenn sie sagt: Als Kind friere man das Bild der Eltern sozusagen ein. Dass sie tatsächlich sterben könnten, blenden wir aus – „bis sie irgendwann so gebrechlich werden, dass man sich doch damit auseinandersetzt“.

Tod, Sterben und Trauer unterliegen – wie Reckwitz sagt – strengen gesellschaftlichen Bearbeitungsmodi – bis hin zu der von ihm behaupteten Verlustinvisibilisierung. Dabei ließen sich zwei Wege unterscheiden, in denen ein solcher Prozess stattfinde: „Einerseits eine Einschränkung der Artikulationsmöglichkeit von Verlusterfahrungen, andererseits ihr narrative Umdeutung. Im ersten Fall findet eine Hemmung, im zweiten eine Relativierung statt.“ (a.a.O., Seite 109)

Antje Randow-Ruddies erweitert die Perspektive und weist auf eine generelle Angstbesetzung hin, weil wir uns einerseits damit konfrontiert sehen, dass „wir die Nächsten sind“. Andererseits müsse man sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, ohne die Eltern weiterleben zu müssen. Sie unterfüttert diese Aussicht mit einer bedenkenswerten These:

„Unabhängig davon, welche Bindung man zueinander hat: ob man über Respekt, Liebe und gegenseitige Achtsamkeit oder gar in Hass oder Traurigkeit verbunden ist – ganz egal, wir sind verbunden ein ganzes Leben lang.“

Andreas Reckwitz betont, psychologisches Wissen sei mehr als ein hochspezialisierter wissenschaftlicher Diskurs. Abgesehen davon, dass es im medialen und intellektuellen Feld breit zirkuliere, stelle sich dieses Wissen seit Beginn des 20. Jahrhunderts (und verstärkt in der Spätmoderne) als das zentrale diskursive Feld dar, in dem das moderne Subjekt Begriffe und Zusammenhänge lernt, um sich selbst zu verstehen, zu steuern und zu transformieren.“ (a.a.O, Seite 259)

In der Tat bestätigt die Bindungsforschung die etwas grobkörnige These Antje Randow-Ruddies. Sie führt zu der – zugegebenermaßen – pauschalen Einsicht, dass man selbst gewiss kein gutes Leben haben kann, wenn man die Eltern-Kind-Beziehung nicht zureichend und wertschätzend aufgearbeitet habe und als Leerstelle zurücklasse. Aber über dieses Wissen lässt sich nicht verfügen, wie über mathematisches Grundwissen. Erst in einer reifen Persönlichkeit bilden sich entsprechendes Wissen und mehr noch eine daraus erwachsende erwachsene Beziehungsgestaltung ab.

Volker Kitz wird mit dem Hinweis auf eine uns gewiss vertraute Einsicht zitiert: „Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich scheint.“ Ob wir angesichts des drohenden Verlustes gerne festhalten wollen, an dem, was war – wie Volker Kitz meint – wird vielen von uns vermutlich erst klar, wenn der Verlust eingetreten ist, wenn Mutter und Vater gestorben sind. Freilich ist es dann zu spät sich zu besinnen. Die Vorbereitung auf den Tod – sofern er absehbar ist – kann eine wirksame Maßnahme sein, mit der wir Trauer annehmen und in unser aktuelles Leben integrieren. Verbleibende Zeit zu nutzen – vor allem für Gespräche – sei die wirk- und heilsamste Praxis im Umgang mit unser aller Endlichkeit.

Es gäbe gewiss Vieles zu ergänzen. Im RZ- Artikel fehlt gänzlich der Verweis auf das, was uns die empirische Sinnforschung anrät. Denn es ist durchaus kontrovers, worin Menschen Sinn sehen:

„Schöpfe ich Sinn aus Religiosität oder Spiritualität? Aus sozialem Engagement, Verbundenheit zur Natur, aus Selbsterkenntnis, Gesundheit oder Generativität? Schöpfe ich Sinn aus Herausforderung, Individualismus, Macht, Entwicklung, Leistung, Freiheit, Wissen oder Kreativität? Aus Tradition, Bodenständigkeit, Moral oder Vernunft? Oder auch aus Gemeinschaft, Spaß, Liebe, Wellness, Fürsorge, bewusstem Erleben und Harmonie?“ (Tatjana Schnell/Kilian Trotier: Titelthema Sinn Finden, in ZEIT 44/24, Seite 70)

Wo sehe ich mich – und vor allem: Wo sehe ich meine Eltern in diesem Sinnkosmos. Abgesehen von allen individuellen Besonderheiten weisen die zitierten Autoren darauf hin: „Die zuverlässigste der 26 ermittelten Sinnquellen ist dabei die Generativität. Der Begriff geht auf den deutsch-amerikanischen Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson zurück, der ihn nahezu poetisch definierte als >Liebe in die Zukunft tragen<.“ Tatjana Schnell und Kilian Trotier sind es auch, die darauf hinweisen, dass die Frage nach dem Sinn sich häufig überhaupt erst dann stelle, wenn etwas aus dem Tritt gerate – „wenn ein geliebter Mensch stirbt, wenn man selbst schwer erkrankt, sich trennt oder den Job verliert.“

Wir sehen offenkundig, dass Andreas Reckwitz im großen Format und die Beobachter aus der Medienwelt - im gegebenen Kontext – bestätigen, dass mit Verlust ein Grundproblem der Moderne übergroß in Erscheinung tritt.

Kurze Schlussbemerkung: Liebe in die Welt getragen haben – auf ihre je besondere Weise – alle, an die die RZ ihren Beitrag adressiert, selbst dann, wenn der eigene Kinderwunsch sich nicht stellte oder versagt blieb: Wir alle sind Kinder unserer Eltern. Und sofern wir ein gutes Leben anstreben, spiegeln sich die Voraussetzungen dafür im wechselseitigen Beziehungsverhältnis von Eltern und ihren Kindern.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund