Geht es auch ohne Religion?
Die ZEIT versammelt in ihrer Sparte Glauben & Zweifeln (Nr. 48/21) mehrere Beiträge unter dem Titelthema: Geht es auch ohne Religion? Thomas Assheuer verhandelt dieses Thema unter der Überschrift: Was nach dem Glauben kommt (68-69). Er vertritt die These, dass viele Menschen mit Gott nichts mehr anfangen können und entwirft die Fiktion, es gäbe eines Tages keine Religion mehr. Ich möchte mich gerne dieser Phantasie aussetzen. Zuvor möchte ich allerdings anmerken, dass ich vor mehr als zehn Jahren ähnliche Phantasien geäußert habe - im Rahmen meines zweiten Gedichtbändchens: Die Mohnfrau - ich füge hier einen längeren Abschnitt ein, eingedenk des Bekenntnisses, dass ich auf der Suche nach einem wirksamen Ersatz war:
Fulbert Steffensky legt uns nahe, dass „wer an Gott glaubt, nicht Gott zu sein und Gott zu spielen braucht. Er muss nicht der Gesündeste, der Stärkste, der Schönste, der Erfolgreichste sein.“ Ich frage mich, ob die wunderbaren Ideen Steffenskys ihre tatsächliche Kraft verlieren, wenn der Glaube an Gott fehlt? Oder könnte es möglicherweise nicht gerade umgekehrt sein? Warum brauchen wir diese Gottesidee, um dem „merkwürdigen neuen Leiden“ zu entgehen, das sich im Sinne Steffenskys in einer „überhöhten Erwartung an das Leben und der Subjekte an sich selber“ ausdrückt? Der Katalog, den Fulbert Steffensky auflistet, kommt uns allen vertraut vor:
- „Mein Körper soll fit sein bis ins hohe Alter,
- mein Aussehen schön.
- Mein Beruf soll mich erfüllen.
- Meine Ehe soll ungetrübt und glücklich sein.
- Der Partner soll der beste Liebhaber sein und die Partnerin die beste Köchin.
- Die Erziehung der Kinder soll gelingen.
Solche Totalitätserwartungen an eine Liebe programmieren ihr Scheitern. So ist das Leben nicht.“ Nein, so ist das Leben nicht! Aber warum muss sich Gott zwischen diese nüchterne Einsicht schieben? Warum genügen wir uns nicht selbst und können nicht aus der Einsicht in die wunderbaren Gedanken Fulbert Steffenskys jene Bescheidenheit gewinnen, die uns das Leben in vollen Zügen genießen lässt, und sei es noch so begrenzt? Zeigen uns nicht eben genau diese Grundhaltung so viele kranke, beeinträchtige und behinderte Menschen? Gnade denken heißt mit den Worten Steffenskys, den Mut zum fragmentarischen Handeln zu finden:
- „Die meisten Ehen gelingen halb, und das ist viel.
- Meistens ist man nur ein halb guter Vater,
- eine halb gute Lehrerin,
- ein halb guter Therapeut. Und das ist viel.
Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht am Ende, im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur weil wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber, im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Hier ist uns nicht versprochen, alles zu sein. Souverän wäre es, die jetzt schon mögliche Güte des Lebens anzunehmen und zu genießen; das Halbe nicht zu verachten, nur weil das Ganze noch nicht möglich ist.“ Steffensky nimmt auf Paulus Bezug und stellt mit ihm fest: „Der Mensch ist, weil er sich verdankt.“
Damit spricht Fulbert Steffensky in seiner kleinen Schrift ein Letztes an, das mich zutiefst anrührt und jenseits aller Gottesphantasien zu einem Grundmotiv meines Lebens führt: „Die große Grundfähigkeit des Lebens ist der Dank. Der Dank lehrt uns das Leben zu lieben.“ Für mein überreiches Leben danke ich, konkret, weil ich mich selbst so (über)lebensnotwendig verdanke: der ungewöhnlichen Liebe meiner Eltern, der Liebe meiner Frau und meiner Kinder, der Aufmerksamkeit und Wertschätzung der bedeutsamen anderen, zu denen inzwischen in unfassbarer Weise meine beiden Enkelkinder gehören; beide sind evangelisch getauft, während ich selbst immer noch der Katholischen Kirche angehöre. Thomas Assheuer trägt mit dazu bei, wenn ich dies nun ändern werde.
Thomas Assheuer beginnt mit dem Kirchenvater Augustinus und seiner radikalen Katharsis; Augustinus, der nach den Eskapaden eines Lebemannes zu der Einsicht gelangte, dem Teufel der Leidenschaft widerstehen zu müssen, um fortan in der Wahrheit Gottes zu leben. Den Mann, der von 354 bis 430 nach Christus lebte, bezeichnet Thomas Assheuer als theologischen Giganten:
"Er wurde der größte aller Kirchenväter. Seine lustfeindliche Theologie war der Fels, auf dem der Katholizismus die Kathedrale seiner Dogmen errichtete." Und die Folgen? "Heute, fast zwei Jahrtausende später, erkennt jeder, wozu die Verteufelung des Körpers führt: Das Verdrängte sucht sich dunkle Wege. Zu Tausenden vergewaltigten, missbrauchten und erniedrigten Priester ihre Schutzbefohlenen und schädigten sie fürs Leben. Nach ihrer Selbstoffenbarung stehen nun die Kirchen - vor allem die katholische - in den Augen der Welt da als Gemeinschaft der Kinderschänder und Kongregation der Heuchler."
Auch wenn Thomas Assheuer wenig später feststellt, dass die Gebildeten unter den Verächtern der Katholischen Kirche natürlich wüssten, dass sich das Christentum nicht auf die Sexualmoral des Augustinus reduzieren lasse, gerät die Bilanz zu einen historischen Desaster nahezu singulären Ausmaßes. Dies hängt im Übrigen zentral auch zusammen mit den systemischen Verstrickungen in den Holocaust. Und Thomas Assheuer legt den Finger in die schwärenden Wunden:
- Klerikale Wahrheitsverwalter - so Assheuer - hätten die Verheißung der göttlichen Gerechtigkeit oft als Vertröstungsbotschaft missbraucht und die quälende Frage nach der Ungerechtigkeit im Weihrauchnebel erstickt: "Sie machten glauben, die Menschheit sei durch den Sühnetod Christi hinreichend erlöst, weshalb an Weltverbesserung kein weiterer Bedarf bestehe." Und - by the way - die Kritik kommt aus den eigenen Reihen (und wird mit den Machtmitteln der Glaubenskongregation häufig genug mundtot gemacht):
- Hier passt eine zugespitzte Formulierung des Theologen Johann Baptist Metz, der meint, "von großartigen Ausnahmen abgesehen, habe sich das Christentum von einer 'primär leidempfindlichen' in eine 'sündenempfindliche Religion' verwandelt. Anstatt für die Unschuldigen zu kämpfen, bete es für die Erlösung der Schuldigen (gern auch der Diktatoren)."
Gewiss mag es ein Defizit sein, sich nicht akribisch mit der Geschichte des Christentums auseinandergesetzt zu haben. Die nicht endenden Missbrauchsskandale der Gegenwart und die Unfähigkeit der Katholischen Kirche zu einer grundlegenden Erneuerung (incl. der Infragestellung vieler ihrer Dogmen) gerät in einen merkwürdigen Gegensatz zur historischen Einordnung, die uns Thomas Assheuer - weit ausholend - ins Gedächtnis ruft. Er bezieht sich dabei auf den Ägyptologen Jan Assmann, betont die gemeinsame Wurzel der Weltreligionen und führt dazu aus:
- "Jan Assmann nennt das Zweite Buch Mose, das Buch Exodus, 'die grandioseste und folgenreichste Geschichte, die sich Menschen jemals erzählten' - 'eine Wende der Menschheit'." Wie lässt sich diese gewaltige These begründen? "In der Achsenzeit vor zweieinhalbtausend Jahren schenkte das Judentum der Welt den Universalismus, denn im Gegensatz zu den archaischen Sakralreligionen stand sein Gott nicht aufseiten der Herren, sondern auf jener der Sklaven."
Die Folgen waren beträchtlich und wirken bis heute nach, und wir lesen Assheuers Resümee wie eine Offenbarung. Denn der Katalog der Menschenrechte, die Gründungsimpulse demokratischer Verfassungen und auch die Vorstellung einer umfassenden Solidarität zehrten bis heute vom Geist jener alten Geschichte, von der jüdischen Idee der Gerechtigkeit bis hin zur christlichen Liebesethik.
Eine Welt ohne Religion?
So stellt sich letztlich die Frage, ob denn angesichts dieser gewaltigen Sinnquellen eine Welt ohne Religion überhaupt vorstellbar ist. Darauf antworter Thomas Assheuer - allerdings unter Verlust jeder metaphysischen Grundidee - zunächst einmal lapidar mit der Feststellung: "Nichts ist für die Ewigkeit; was einen Anfang hat, hat auch ein Ende." Er spricht weiter vom Erkalten des "Glutkerns des abendländischen Geistes" und malt ein Szenario an die Wand, das unsere Vorstellungskraft vor eine beachtliche Herausforderung stellt:
"Die moderne Gesellschaft wäre vollständig mit sich allein und säße transzendenzlos in ihrer selbst gebauten Höhle. Als einziges spekulatives Außen bliebe ihr ein kosmischer Konjunktiv - jene möglicherweise existierenden, mit entzücktem Schaudern erwarteten Aliens, die ihrerseit nicht so dumm waren, den eigenen Planeten durch exzessives Verfeuern fossiler Energien an den Rand des Untergangs zu bringen."
Eine Welt ohne Religion - so Thomas Assheuer - wäre endlich den Stachel der Religion los: "Die Moderne wäre endlich frei und grenzenlos - das ewige Experiment des Menschen mit sich selbst." Thomas Assheuer wirft einen Blick in eine von allem ethischen und moralischen Ballast entschlackte Welt mit deutlichen Seitenhieben auf Echt-Zeit-relevante Bezüge:
"Möglich auch, dass machthabende Eliten von einer Art Neo-Antike träumen, einer Gesellschaft mit gezüchteten Menschenklassen, oben die Herren und unten die Sklaven. Wenn heute schon die 2153 Milliardäre so viel besitzen wie 60 Prozent der Weltbevölkerung, dann ist es doch nur folgerichtig, wenn Superreiche sich im Fall der Fälle durch Himmelfahrt auf den Mars retten, während der erbärmliche Rest auf der überhitzten Erde dem Ende entgegenfiebert."
Thomas Assheuer versäumt nicht, solchen Phantasien die durchaus realer anmutenten Szenarien an die Seite zu stellen, die er mit dem Begriff der "reaktionären Disseitsreligionen" bezeichnet. Diese neuen Religionen behaupteten nicht das Leben zu lieben. Sie betrieben eine Heiligsprechung der Macht. Sie seien rückswärtsgewandt, vergötzten nationale Identität, den allmächtigen Staat oder die allwissende Partei (siehe Russland, China, Brasilien). Assheuer nennt auch die Vereinigten Staaten in Person des gerade wieder in Auferstehung begriffenen Donald Trump. All diese Protagonisten betrieben als "falsche Propheten" die pseudoreligiöse Wiederverauberung der Welt mithilfe der Medien:
"Als Trump im Juni 2020 vor der Washingtoner St.-John's-Kirche posierte, hielt er die Heilige Schrift verkehrt herum in die Kamera. So könnte es kommen: Eine gnadenlose Machtreligion zerstört allen demokratischen Fortschritt und läutet ein dunkles Zeitalter ein - den Kampf aller gegen alle, den nicht enden wollenden Konflikt um Einflusszonen, Großräume, Märkte, Rohstoffe."
Wir bemerken erschaudernd, wie religiöse und quasireligiöse Motive und Symbole unseren Alltag durchdringen und von skrupellosen, machtgeilen Despoten instrumentalisiert werden. Aber nicht alle merken dies wirklich und Bert Brecht behält den Überblick: Auch heute wählen die dümmsten Kälber ihre Metzger selber!
Andererseit, ja andererseits lasse die digitale Revolution den Globus zusammenschrumpfen: "Pandemie und Erderwärmung führen brutal vor Augen, was es heißt in eine Weltgesellschaft zu leben, in der alle von allen abhängig sind. Jeder weiß, dass alle Nationen ein universelles gemeinsames Schicksal teilen:"
Weiß das wirkliche jeder und jede???
Abschließend - einfach weil es drängt, und nicht nur an der Ahr die Adventszeit die Gestalt eines beharrlichen Menetekels annimmt: Wenn schon Kirche etwas mit Religion zu tun hat, sollten wir folgende Frage nicht ignorieren und mit der Frage verbinden, was wir denn wissen und wie wir mit unserem Wissen umgehen. Assheuer konstatiert:
"Niemand hindert die Kirche daran, selbstkritisch zu fragen, warum die Umweltschutzbewegungen, die für die Bewahrung der Schöpfung kämpfen, außerhalb ihrer Glaubensgemeinschaften entstanden sind."
Hilft mir dieser Blick durch das vierte Fensterchen meines Adventskalenders? Wie faszinierend ist doch die Idee des Bundes und der gerechten Menschheit. Zu Beginn habe ich auf die Mohnfrau verwiesen. Sie ist ein ungeheurer Schatz, in dem ich unter anderem die Begleitung meines Schwiegervaters durch die Demenz thematisiere. Ich bleibe auf der Suche nach dem, was mich getrieben hat und treibt. Vielleicht wächst die Milde in der Gewissheit, dass der Mensch sich verdankt. Diese Erkenntnis hilft mir im generativen Grundverständnis gleichermaßen die Gewissheit zu finden, dass wir nicht umsonst leben.