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Bleibefreiheit – symbolische Ordnung der Mutter? Was soll das sein?

Eva von Redecker unterscheidet in ihrem Essay Bleibefreiheit (Frankfurt 2023) Zeitfülle und Erfüllte Zeit. Zuletzt - in ihrem dritten Hauptkapitel - spricht sie von Zeit der Fülle. Sie verwendet diese Begriffe im Übrigen redundant: „Verzeitlichte Freiheit ist also Zeitfülle und erfüllte Zeit und Zeit der Fülle… Wenn das redundant klingt, dann ist das gut so…“ (S. 145) Und so lesen wir etwa:

„Ein Zugewinn an Weltwahrnehmung ist wiederum Zeitgewinn: Jeder neue Bezugspunkt entgrenzt unsere Lebensspanne, indem er Anlass zu größerer Befreiungslust oder größerer Bleibefreude bietet. Bleibefreiheit, basierend auf solch initialer Zeitlichkeit, ist erfüllte Zeit aber [...], um das Licht der Welt im Bleibefreiheitsprisma einfangen zu können, müssen wir noch einmal neu bei der Konzeption der Natalität, der Freiheit zum Neubeginn, anknüpfen. Denn bislang klafft in dieser Konzeption eine grundstürzende Lücke: Sie unterschlägt die Mutter.“ (S. 109)

Das nachfolgende Unterkapitel Ordnung der Mutter habe ich aufmerksam gelesen und in seinen zentralen Aussagen und Thesen in meine Denk- und Fühlwelt integriert. Man kann auch umgekehrt sagen, Eva von Redeckers natalitätsbezogene Grundlegung ihres Ansatzes gibt einem Denken und Empfinden Raum, das mir gewissermaßen zukommt, wie ein genetischer Fingerabdruck. Was das unmittelbar und ganz und gar konkret bedeutet, wird in der Auseinandersetzung mit dem Tod deutlich: Den Tod sehen. Es mag sich fast paradox ausnehmen, wenn Eva von Redecker argumentiert, es sei eher ein bestimmter Blick auf das Leben, der der Endlichkeit den Schrecken nehme. Sie spricht von einem „Sinn für erlebte Fülle, die Anlass zur Dankbarkeit bietet“ und zielt auf einen Sinn für übergreifende Zusammenhänge ab, die das eigene Leben überdauern werden:

„Dadurch wird aber der unvermeidliche Tod nicht erträglich. Den eigenen überlebt man schließlich nicht. Und den der anderen erlebt man nie im vollen Sinne mit: Man kann ihnen das Sterben nicht abnehmen, nicht mal mitfühlen. Mitleid mit Sterbenden ist eigentlich ein Kategorienfehler. Denn das Letzte teilt man doch nicht. Der letzte Moment spaltet sich immer auf in ein Ende für die einen und einen Verlust für die anderen. Wenn es gut geht, kann man über die Kluft hinweg Beistand leisten: den Tod sehen und ihm standhalten. Auch das hieße Bleiben.“ (S. 55)

Wir finden hier im Grunde genommen, alles was wir gleichermaßen benötigen für eine Selbstbegrenzung wie für eine Selbstvergewisserung. Das nicht hintergehbare Fundamentum beruht auf der knallharten Feststellung Eva von Redeckers, der unvermeidliche Tod werde durch nichts erträglich, und den eigenen überlebe man schließlich nicht.

Die damit verknüpfte Selbstbegrenzung mag Menschen dazu bewegen, Trost in Jenseitsvorstellungen zu suchen (und auch zu finden). Dies bleibt ein offenes Spiel, bei dem  der ungedeckte Scheck einer Auferstehung des Fleisches (des Leibes) am jüngsten Tag für gläubige Christen zur Gewissheit gerät, gleichwohl in der Exegese – auch für Gläubige - vielfältige Ungereimtheiten offenbart.

Die erwähnte Selbstvergewisserung bleibt gleichermaßen eine diesseitige. Eva von Redecker gibt zu bedenken, aus erlebter Fülle, resultiere möglicherweise Anlass zur Dankbarkeit:

Ein Sinn für übergreifende Zusammenhänge, die das eigene Leben überdauern werden.“ (S. 54)

Wir geraten damit an einen Scheidepunkt, bei dem die einen einstimmen werden, während sich andere verständnislos abwenden. Es handelt sich häufig genug dabei nicht nur um eine schlichte Abwendung von Unzumutbarem – mehr noch blockiert eine Mischung aus Empörung und strikter Verweigerung den Zugang zu etwas ganz und gar Elementarem. Gewiss so elementar, dass Menschen ohne daran anschließen zu können, sich selbst und den Urgrund verlieren, der sie zu Menschen macht, die sich ihres Mensch-Seins bewusst sind, und die gleichzeitig in der Lage sind, dieses Bewusstsein in eine soziale Praxis zu überführen. Mit einer solchen Praxis ist ein zuträgliches Miteinander im Sinne einer wechselseitigen Bereicherung gemeint. Es geht Eva von Redecker um ein besonderes menschliches Vermögen. Sie schreibt:

„Wenn Muraro die Wichtigkeit der inneren Haltung, den Übergang von Verleugnung zu Dankbarkeit betont, dann zeigt sich darin ein besonderes menschliches Vermögen. Es ist ein Vermögen zur Wahl, aber eben auch zur Wahl des Ungewählten. Man sucht sich die Mutter nicht aus. Aber ob man sie in allen folgenden Ersetzungen anerkennt, schon.“ (S. 140)

Die generative Dimension dieser schlichten Anregungen liegt nicht nur auf der Hand. Zunächst einmal gäbe es ohne Generativität nichts, worüber hier zu sprechen wäre. Wir alle wären nicht! Dass wir sind, und wie wir sind, lässt sich ohne die generative Dimension nicht einmal denken. Ganz gleich, wie man das Pferd aufzäumt, ob man es nun von vorne oder von hinten zu reiten gedenkt, Brüche im Zusammenspiel generationenübergreifender Grundmuster im Umgang miteinander setzen sich in Familiendynamiken fort und fort; fast bin ich geneigt zu sagen: sie pflanzen sich von Generation zu Generation fort. Wer dem Modus der Dankbarkeit als Urmotiv sozialen Miteinanders keine Bedeutung beizumessen vermag, der wird sich nicht fragen müssen, warum therapeutische Intervention und Begleitung immer Vorrang beanspruchen werden bei dem Versuch sich nicht völlig im Selbstpol (Autismus) zu verlieren oder sich den Geltungsansprüchen eines Fremdpols auszuliefern, in dem sich ungezählte Erwartungen der Außenwelt zu einem Berg von Fremdansprüchen auftürmen: Wer bin ich und wenn ja wie viele?

Vertrauen wurde von Niklas Luhmann vor über 50 Jahren als Reduktion sozialer Komplexität verstanden. Für urvertrauliche Beziehungen im intergenerativen Zusammenhang gibt es rein formal betrachtet vermutlich keine angemessenere Definition. Vertrauen in sozialen Kernbeziehungen, wie sie die Mutter-Kind-/Vater-Kind-Beziehung darstellen, ist in seiner Totalität von Reduktion nicht zu überbieten. Selbst wenn in sozialen System, insbesondere im System der Familie, solche Mechanismen im Sinne einer grundlegenden Praxis angemessen ausgebildet sind, vollzieht auf der anderen Seite ein familiales Miteinander gewiss nicht bruchlos. Gleichwohl ist auch für die beispielsweise mit der Pubertät zentral ausgelösten Prozesse der Individuation, die sich – wie Helm Stierlin sagt – immer sowohl mit als auch gegen die bedeutsamen Anderen vollziehen muss, dann gewiss eine Basis geschaffen, in der sich die Beteiligten nicht gänzlich verlieren.

Der Mensch ist des Dankes fähig, weil er sich verdankt. Schon das Geschenk der Geburt ist unermesslich. Was will man noch -  sagt Luisa Muraro. Die Kost, die uns damit angeboten wird, erscheint vielen unverträglich. Aus meiner Sicht sprechen Muraro und von Redecker hingegen etwas an, das den uns gegebenen Möglichkeitsraum erst zu einer vollen Entfaltung bringt:

„Die symbolische Vermittlung der Freiheit, die Muraro immer wieder als Kreisbewegung beschreibt, ist also weder eine Todesvorwegnahme noch eine Geburtswiederholung. Sie ist eine Mutterbenennung, eine Bezugnahme, die in den Grenzen unserer Unabhängigkeit den Ursprung unserer Freiheit ausmacht.“

Die folgende Bemerkung mag den fundamentalen Zusammenhang, um den es hier geht, aufdecken, ohne dass der Mythos der Mutterschaft überstrapaziert wird:

„Unabhängig von der Qualität der Beziehung zur realen Mutter – dass diese schrecklich sein kann, lässt Muraro durchblicken -, festigt sich die eigene Freiheit genau in dem Moment, in dem wir ihr ihren symbolisch zentralen Platz  einräumen [...] Wir sind unfrei geboren, aber eben nicht allein. Alle Weitergeburten zur Freiheit müssen wir erst recht nicht allein vollbringen. Die Souveränitätsanmaßung, also der gängige Freiheitsbegriff des Besitzindividuums, wird aus dieser Perspektive regelrecht unkenntlich. Er ist nichts weiter als ein Herumstochern in >matter Natur<, bei dem der richtige Anfang nie gefunden wird.“ (S. 116)

Der richtige Anfang? Eva von Redecker verwendet Begriffe wie Befreiungslust und Bleibefreude. Ein richtiger Anfang ergibt sich für mich im Rückblick – sozusagen aus der faktischen Erfahrung, was denn zum Beispiel Befreiungslust und Bleibefreude bedeuten könnten. Dies gelingt – wie meist – nur im Gewärtigen einer nie zu vermeidenden Ambivalenz. Das Sterbetagebuch meiner Mutter ist im Endergebnis und mit Abstand betrachtet ein Dokument der Befreiung; eine Befreiung, die ein solche sein konnte, weil kein Jota, kein My ausgelassen wurde, den Tod richtig zu sehen – seine Unerträglichkeit und seine Unabänderlichkeit. Herkunft, Dank für Anschub, liebevolle Zuwendung, Begleitung und vorbehaltlose Unterstützung konfigurieren in der mir zugekommenen Ausprägung eine besondere Qualität. Zuweilen lässt sich beobachten, dass das Scheitern privater wie beruflicher Ambitionen nicht selten den Eltern, zuweilen auch in Sonderheit der Mutter zugeschrieben wird. Verharrt man in einer solchen fremdvalidierten Zuschreibung von Versagens- und Enttäuschungscoreographien kann man weder frei werden für sich selbst noch für ein aktives und selbstbewusstes Gestalten seines Möglichkeitsraums. Der Begriff der Befreiungslust gewinnt genau hier Berechtigung und Kontur.

Bleibefreude mag sich einstellen, wenn sich Elternschaft im generativen Geschehen zur Großelternschaft wandelt und erweitert. Im besten Fall erfüllen sich zum zweiten Mal - und in ungemein validierterer Weise - alle Erwartungen, die sich profaner Weise mit der Erfahrung der Elternschaft verbinden. Hinter der Tatsache ein Leben anzustoßen, es in liebevoller Zuwendung zu begleiten und dann noch zu erleben, wie sich dies kreislaufförmig wiederholt, und dass einem in diesem Spiel eine Doppelrolle zugestanden wird – als Eltern und als Großeltern – deutet sich das Mysterium an, das Bestandteil eines erfüllten Lebens ist. Von da aus gewinnt Eva von Redeckers schlichte Feststellung ihre (durchaus bittere) Überzeugungskraft, dass der letzte Moment sich immer aufspalte in eine Ende für die einen und einen Verlust für die anderen: „den Tod sehen und ihm standhalten. Auch das hieße Bleiben.“ (S. 55)

Wilhelm Schmid hat sich an der ersehnten, gleichwohl missverständlich interpretierten Dimension dieser Bleibefreiheit versucht, indem er zeigen möchte, wie man den Tod eines geliebten Menschen (seiner Frau) überlebt (ZEIT 11/24, S. 58):

„Auch wenn es nachweislich mit jedem Menschen passiert, kann ich mir nicht ernsthaft vorstellen, irgendwann tot zu sein. Sterblich fühle ich mich nur an unguten Tagen. Wenn ich schlecht gelaunt und kränklich bin, halte ich nichts für realer als den Tod. An guten Tagen hingegen halte ich den Tod für vollkommen irreal. Wie ist es möglich, dass das Wunderwerk des Körpers, der so voller Leben ist, und all das Fühlen, Denken, Reden, Tun und Lassen eines Ich einmal zu Asche wird? Wie kann ein ausgewachsener Mensch zu einem solchen Häuflein schrumpfen? Die Stärke des Grabes: Der sinnliche Eindruck des Ortes ruft übersinnliche Gedanken wach. Für wen oder was lebe ich? Lebe ich so, dass es mir schön und bejahenswert erscheint? Es hilft bei der Orientierung im Leben, sich in Gedanken immer wieder an seiner Grenze aufzuhalten. Von hier aus fällt es leichter, neuen Mut zu schöpfen und wieder Sinn im Leben zu finden, mit Freuden zurück ins Leben und hinaus in die Welt zu gehen. Der Umgang mit dem Tod ist der Schlüssel zum Leben.“

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund