Zwischen Einsicht und Larmoyanz
Karl Ove Knausgard - Lieben, 15. Aufl., München 2013 (Originalausgabe: Oslo 2009)
„Ertrug ich den schrillen, kranken Ton nicht, der überall in der Gesellschaft erklang, der von all diesen Pseudo-Menschen und Pseudo-Orten, Pseudo-Ereignissen und Pseudo-Konflikten ausging, durch die wir lebten, all das, was wir sahen, ohne daran teilzunehmen, sowie die Distanz, die das moderne Leben dadurch zu unserem eigenen, eigentlich unverzichtbaren Hier und Jetzt geschaffen hatte? Wenn es so war, wenn ich mich nach mehr Wirklichkeit, mehr Gegenwart sehnte, müsste ich dann nicht bejahen, was mich umgab? Und mich nicht ausgerechnet davon fortsehnen? Oder reagierte ich vielleicht auf das Vorgefertigte an den Tagen in dieser Welt, auf diesen Schienenstrang der täglichen Routine, dem wir folgten und der alles so vorhersehbar machte, dass wir in Volksbelustigungen investieren mussten, nur um einen Hauch von Intensität zu verspüren? Wenn ich zur Tür hinausging, wusste ich jedes Mal, was passieren, was ich tun würde. So war es im Kleinen, ich gehe zum Einkaufen in den Supermarkt, ich setze mich mit einer Zeitung ins Café, ich hole die Kleinen im Kindergarten ab, und so war es im Großen, vom ersten Einschleusen in die Gesellschaft, dem Kindergarten, bis zum abschließenden Ausschleusen, dem Altenheim […] Und Europa, das immer mehr zu einem einzigen großen und gleichförmigen Land zusammenwuchs. Das Gleiche, das Gleiche, alles war gleich. Oder ging es womöglich darum, dass das Licht, das die Welt erleuchtete und alles in ihr verständlich erscheinen ließ, ihr gleichzeitig jeglichen Sinn entzog? Lag es vielleicht an den verschwundenen Wäldern, an den ausgestorbenen Tierarten, an den alten Lebensweisen, die niemals zurückkehren würden?“ (S. 87ff)
Peter Sloterdijk versieht das Cover seiner Monographie "Du mußt dein Leben ändern" - ebenfalls 2009 erschienen - mit dem knappen Text:
">Du mußt dein Leben ändern!<. Die Stimme, die Rilke im Louvre zu sich sprechen hörte, hat sich inzwischen von ihrem Ursprung gelöst. Binnen eines Jahrhunderts ist sie in den allgemeinen Zeitgeist eingeflossen, ja, sie ist zum letzten Inhalt all der Kommunikation geworden, die um den Globus schwirren. Es läßt sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universeller ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann."
Können wir die These Sloterdijks von einer wachsenden Einsicht bestätigen? Wenn es nur um die Einsicht geht - möglicherweise. Die maßgeblichen Entscheider großer Player im Weltmaßstab nehmen sich allerdings gegenwärtig aus, wie ein hirnloser Zellklumpen - wie der letzte Dreck (ich spreche hier von Putin und Xi Jinping). Dieser Eindruck wird an endzeitlicher Qualität gewinnen, sollte es der infantilen Verkörperung und Repräsentanz der hirnlosen Masse in den USA gelingen, noch einmal DAS UNAUFHEBBARE NICHTBESCHEIDWISSEN DER MEHRHEIT im Sinne Jan Philipp Reemtsmas für sich nutzen zu können.