Eva von Redecker - Bleibefreiheit III (hier: Bleibefreiheit IV)
hier: Bleibefreiheit I und Bleibefreiheit II
Den Tod sehen (Seite 48-55)
Es mag ungewöhnlich sein, ein Buch zu besprechen – zu rezensieren – sozusagen im Prozess seiner Rezeption, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Es ist vermutlich die ungewöhnlichste, ursprünglichste Lektüre, die ich jemals vorgenommen habe. Eine so radikal selbstbild- und weltbildverändernde Lektüre, wie beispielsweise die Luhmannscher Theoriefacetten, bewegt mich inzwischen seit Jahrzehnten und sie scheint mich bis an mein Lebensende zu begleiten.
Die Lektüre von Eva von Redeckers Bleibefreiheit hingegen greift in mein Fühlen und Denken ein wie ein Tsunami. Gleichzeitig erscheinen ihre Erkenntnisse und sprachmächtigen Inselgewinne so tief in mir angelegt und verankert, dass mir aber auch gerade nichts des Gelesenen unvertraut erscheint. Einer einundvierzigjährigen Frau gelingt es spielend, Sprach- und Fühlwelten zu begründen bzw. anzusprechen, die auf einen umfassenden Resonanzboden treffen.
In keinem anderen Kapitel scheint dies deutlicher zu werden als Den Tod sehen (Seite 48-55). Es sind ja keine wirklich neuen Erkenntnisse, die uns da vermittelt werden. Aber in der Nüchternheit, Klarheit und im angebotenen Wechselbezug von theoretischer Durchdringung und mittelbarer praktischer Todeserfahrung vollziehen sie sich in einer Tonlage, die mir in der Form bislang nicht begegnet ist – sieht man einmal ab vom Sterbetagebuch, das ich selbst in der Begleitung meiner Mutter zum Tode hin, sozusagen just in time, verfertigt habe; aus purer Not im Übrigen. Seine Entzifferung ist mit Hilfe von Eva von Redecker im Nachhinein mit einem Abstand von genau 20 Jahren mehr als eine Anlehnung an die von ihr angebotenen Unterscheidungen. Zumindest wird mir überdeutlich, warum dieses Buch BLEIBEFREIHEIT eine solch fulminante Wirkung auf mich hat.
Eva von Redecker beginnt mit einer Bezugnahme auf Kathryn Schulz (eine US-amerikanische Essayistin). Sie schreibt: "Die Menschen, die wir lieben, hören mit dem Tod auf zu sein, so endgültig, wie Wasser aus einem Glas fließt, wenn man es umdreht." Von Redecker nutzt diese Art die daseinsbezogene conditio, um Sterblichkeit als "unverrückbares Faktum" in den Raum zu stellen und betont gleichzeitig, wie schwer es sei, zu diesem Faktum eine klarsichtige Haltung zu finden - zumal in einer Kultur, die so stark wie die unsrige auf die Auslagerung des Todes baue. Eva von Redecker öffnet nun ihre private Erfahrungswelt recht radikal und schonungslos und illustriert diese Schwere am Beispiel des Sterbens ihres Vaters und ihrer damit verbundenen Haltung bzw. Irritation.
"Komm mir nicht damit, das vertrage ich gerade nicht. Anzusprechen, dass ein naher Mensch todkrank ist oder im Sterben liegt, verläuft oft wie ein Coming-out aus der Hölle."
Es ist weder ausgemacht noch eine Selbstverständlichkeit, dass Kinder ihre (Schwieger-)Eltern im Sterben begleiten, sofern sich diese Konstellation ergibt. Todesarten und Umstände des Sterbens gibt es sicherlich ungezählte. Eva von Redecker findet sich wieder und begreift sich in der Begleitung ihres Vaters, die eine in mehrfacher Hinsicht facettenreiche Herausforderung darstellt. Dies mag vielleicht auch deshalb so erscheinen, weil sie einem langen Prozess Erinnerung und Sprache abringt - zweifellos ein nicht alltägliches Unterfangen. Dies wird bereits zu Beginn ihrer Aufzeichnungen deutlich:
"Das Verrückte am Krankheitsverlauf meines Vaters war die Eskalation. In den meisten Fällen ist es natürlich nicht so, dass die Entscheidung für das Leben zu kämpfen, die Todesarten vervielfältigt. Hier schon. Eine unvollständige Liste der sogenannten Therapiefolgeerkrankungen seiner Leuklämie umfasst Pilzinfektion, Lungenbluten, Koma, Epilepsie, Psychosen, Wassersucht, Verlust des Immunsystems und mehrmonatiges Fieberdelirium. Jede von ihnen malte ihren eigenen Tod - in einem Fall auch Mord - an die Wand. Und durch alle hindurch kämpfte mein Vater einen verzweifelten Kampf um Freiheit als Situationsbeherrschung. Der Tod - die hohe Wahrscheinlichkeit, dass er sterben würde - wurde darin niemals erwogen, selbst die beiden (sic!) Male nicht, als die Ärzte ihn zum Sterben nach Hause entließen. Ich kreide mir es immer noch als Versagen an, aber es schien mir wirklich unmöglich, dieser Option, indem man sie ansprach, irgendetwas von ihrem Schrecken zu nehmen. Ihm kreide ich es natürlich umso mehr an. Aber er glaubte nicht an die Niederlage, und er konnte den Tod nicht anders denn als solche begreifen (Seite 49)."
Eine ungewöhnliche - ja provokative Vorstellung von BLEIBEFREIHEIT:
Nun mag sich manche(r) fragen, was dies alles mit der titelgesetzten BLEIBEFREIHEIT zu tun haben soll. Wie so häufig, springe ich an's Ende des Kapitels, um mit Eva von Redeckers Resümee den Zusammenhang herzustellen. Dort argumentiert sie, es könne möglicherweise eher ein bestimmter Blick auf das Leben sein, der der Endlichkeit den Schrecken nehme: "ein Sinn für erlebte Fülle, die Anlass zur Dankbarkeit bietet. Ein Sinn für übergreifende Zusammenhänge, die das eigene Leben überdauern werden."
"Dadurch wird aber der unvermeidliche Tod nicht erträglich. Den eigenen überlebt man schließlich nicht. Und den der anderen erlebt man nie im vollen Sinne mit: Man kann ihnen das Sterben nicht abnehmen, nicht mal mitfühlen. Mitleid mit Sterbenden ist eigentlich ein Kategorienfehler. Denn das Letzte teilt man doch nicht. Der letzte Moment spaltet sich immer auf in ein Ende für die einen und einen Verlust für die anderen. Wenn es gut geht, kann man über diese Kluft hinweg Beistand leisten: den Tod sehen und ihm standhalten. Auch das hieße Bleiben (Seite 55)."
Ganz gewiss können Eva von Redecker und die vielen Menschen, die den Tod gesehen haben und ihm standhalten, nicht gewiss sein, dass sie sich damit für das eigene Sterben qualifiziert haben. Aber wo sich die BLEIBEFREIHEIT zu einer Haltung des Standhaltens durchringt, ergeben sich überhaupt erst jene Bedingungen einer Freiheit die das Beliebigkeitszufällige nicht mit dem Schicksalszufälligen verwechselt. Auch dazu hat Eva von Redecker eine Überzeugung:
"Friedlich dem Tod entgegenzusehen, verlangt uns keine übergroße Versöhnung mit dem Sterben ab. Im Gegenteil. Den Tod wahrzuhaben heißt, ihm entgegenzuarbeiten. Das ist ja, wozu Arbeit eigentlich da ist, anstatt das Leben der Reichen und Phantombesitzer zu unterfüttern. Es klingt vielleicht hart, auf der Unerträglichkeit des Todes zu bestehen [...] Mir scheint, dass sich so etwas wie die Annahme der Sterblichkeit gerade nicht im direkten Blick auf den Tod einstellt. Es ist eher ein bestimmter Blick auf das Leben, der der Endlichkeit den Schrecken nimmt: ein Sinn für erlebte Fülle, die Anlass zur Dankbarkeit bietet. Ein Sinn für übergreifende Zusammenhänge, die das eigene Leben überdauern werden (Seite 54)."
Daran schließt sich obige Vorstellung von BLEIBEFREIHEIT an (siehe obiges Zitat, Seite 54)