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Zur Welt kommen – zur Sprache kommen (im Andenken an meine liebe Tante Annemie)

Der nachfolgende Text dient in erster Linie dazu, eine These zu validieren, die Maximilian Probst in Anlehnung an Heinz von Foerster formuliert (Maximilian Probst Teil III). Er behauptet hier, Heinz von Foerster habe mit seinem neuen ethischen Imperativ – Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst – richtiggelegen, genau wie Nietzsche mit seinem prophetischen Satz: „Vielleicht gab es noch nie so ein offenes Meer.“ Nur – meint Maximilian Probst – müsse man wohl hinzufügen: für Männer. Von Maximilian Probst (1977) trennt mich (1952) eine Generation. Ich gehöre dem Jahrgang 1952 an. Als zutiefst prägend und irritierend – mit Blick auf den gewaltigen, galaktischen Unterschied zwischen Männern und Frauen, was den Möglichkeitsraum angeht – erwiesen sich die Beobachtungen meiner Tante und ihres Schicksals in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren. Vor allem der Titel der nachfolgenden Auskopplung soll signalisieren, dass nur – und ich behaupte: nur und ganz und gar exklusiv – der Zugang zu Bildung gleichbedeutend ist mit dem Sloterdijkschen Versprechen: Zur Welt kommen – zur Sprache kommen (Suhrkamp – Frankfurt 1988). Innerhalb des sozialen Milieus, dem ich entstamme, kam man selbstverständlich zur Welt, aber in den seltensten Fällen zur Sprache. In der Verfügung über welterschließende und weltbeschreibende Sprache manifestieren sich im besten Fall die Aneignung differenzierten Wissens und damit qualifizierte Zugänge zu einer komplexen Welt. Die abschließenden Sätze in Sloterdijks Frankfurter Vorlesungen (Seite 175f.) lauten:

„Meine Damen und Herren, Gedichte und anderes frei Gesagte sind Atemschiffchen, die sich in Offene aussetzen. Daher sind freie Worte wichtiger als große. Doch kommt es vor, daß die freien sich als die großen erweisen. Ein Gedicht von Paul Celan spricht vom Auftauchen des unbedingten eigenen Wortes:

WEGGEBEIZT vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten – das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.

Aus-
gewirbelt,
frei
der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
den Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und –tischen.

Tief
in der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches Zeugnis.

 

Wie schon angedeutet enthält der nachfolgende Text das erste jener Atemkristalle, aus deren Zusammenballung inzwischen eine kleine Lawine erwachsen ist (siehe: Das Leben ein Klang und Die Mohnfrau) – Atemkristalle im Sinne des Auftauchens des unbedingten eigenen Wortes:

 

Zur Welt kommen – zur Sprache kommen - Spurensuche III (Auskopplung aus Kurz vor Schluss II, Seite 101-112)

Geht es aber sehr viel grundlegender noch einmal darum, den ursächlichen Einflüssen auf die Spur zu kommen, die mich in der Tat zur der Überzeugung brachten, es könne – im Sinne Adornos – kein richtiges Leben im falschen geben, so muss man in der Tat auf die von Dr. Bauer – dem Schulleiter während meiner Zeit auf dem Are-Gymnasium – geäußerten Zusammenhänge und die schlichte Feststellung zurückkommen, es sei das Vorrecht einer jeden jungen Generation, die Welt an einem selbstgesetzten Ideal zu messen, solange Welt keine Wirklichkeit, sondern nur Vorstellung sei. Da hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.

Meine Unduldsamkeit gegenüber Zuständen, die befriedigende Weltverhältnisse nicht einmal ansatzweise erkennen ließen, hatte ihre Wurzel zuerst einmal im privaten Raum, nämlich in meiner Familie: Meine Kindheit in der Kreuzstraße in Bad Neuenahr, am Ostende der Stadt, war eine gemeinsame mit meiner Cousine Gaby und meinem Bruder Wilfried. Meine Cousine lebt heute noch im umgebauten Elternhaus unserer Mütter (der Kreuzstraße 111). Das Elternhaus meines Vaters haben wir nach dem Tod meiner Mutter an die Tochter einer Freundin aus Kinderzeiten verkauft. Auch sie – die Freundin aus Kindertagen – lebt heute noch gemeinsam mit ihrem Mann in unmittelbarer Nachbarschaft, eng befreundet mit meiner Cousine.

In der Kindheit gehörte das Vater-Mutter-Kind-Spiel zu unserem alltäglichen Spielevorrat. Beide Elternhäuser verfügten über ein gemeinsames Garten-Areal. Wenn wir unter uns waren oder sein wollten, dann war dies unser bevorzugtes Terrain. Gaby kochte Petersiliensuppe, ich kurvte mit dem Rädchen durch den Garten, kam irgendwann von der Arbeit und Willi musste Gabys Suppe essen und unseren Anweisungen folgen. Im Rückblick erstaunt mich dieses Arrangement, weil Vater-Mutter-Kind schon damals – als wir im Alter von sechs bis zehn Jahren waren – aus ganz unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Motiven zustande kam. Gaby kannte Vater-Mutter-Kind nur bruchstückhaft. Während Willi und ich tagtäglich erlebten, wie das funktionierte – Vater-Mutter-Kind(er) –, lebte Gaby mit ihrer Mutter alleine im Obergeschoss des Hauses unserer Großeltern. Der Vater – unser Onkel Fred – lebte in Köln und hatte dort eine neue Liebe gefunden. Darüber wussten wir allerdings nichts. Unser Onkel Fred war Handelsvertreter und reiste durch die ganze Republik, um Pflege- und Kosmetikprodukte der Firma Schwarzkopf zu vertreiben. Er konnte also nicht zu Hause sein, weil er ja unterwegs war und arbeiten musste. Aber er kam an den Wochenenden zu Besuch, manchmal auch an Wochentagen, um sich zeitig wieder auf den Weg zu machen, weil er ja arbeiten musste. Gaby freute sich immer auf ihren Papa, der ihr – wenn er da war – immer seine volle Aufmerksamkeit widmete. Die Tante – unsere Tante Annemie – war ein ruhiger und zurückhaltender Mensch. Sie war so ruhig und zurückhaltend, dass man eigentlich nie merkte, ob es ihr gut oder schlecht ging. Sie war halt still, ihr Lachen ein Lächeln und sehr verhalten, immer mit einem kleinen Schuss Verlegenheit einhergehend. Für meinen Bruder und mich war dieses immer gleichbleibende, unaufgeregte gemeinsame Leben – Hausbacke an Hausbacke – vollkommen normal. Nie fiel uns irgendetwas auf, weil alles so war, wie es immer war. Unsere Cousine war ein aufgewecktes, lebenslustiges Kind, mit dem wir tagtäglich zusammen waren, weil vor allem die beiden Schwestern über ihre Eltern – man konnte fast meinen – einen gemeinsamen Hausstand pflegten. Alle Feste feierten wir gemeinsam, jeden Tag begegneten wir uns – vor allem im gemeinsamen Garten.

Gaby war ein Einzelkind, und als Einzelkind war sie auch verschlossen. Viel später – sehr viel später – hat sie uns erzählt, dass sie schon im Alter von etwa zehn Jahren im Wäscheschrank ihrer Mutter auf Dokumente gestoßen sei, die sie zwar nicht zur Gänze verstand, die ihr aber so viel Einblick in die merkwürdige Art des Familienlebens eröffneten, dass sie seither wusste, dass ihre Eltern geschieden waren. Sie hat das für sich behalten. Uns hat sie erklärt, dass sie diese Information fest und tief in sich verkapselt hat, mit niemandem darüber geredet hat, sich niemandem anvertraut hat, weil sie Angst hatte, dass dann vielleicht der immer herbeigesehnte Kontakt zu ihrem geliebten Papa hätte abbrechen können. Das Bild der Tante Annemie hat sich denn auch erst nach und nach als ein wirklich problematisches und in hohem Maß belastetes herausgestellt, als sich mir die Zusammenhänge aufdrängten zwischen der Art und Weise wie Gaby mit ihrer Mutter zusammenlebte und den zunehmenden – oder doch zumindest in meiner Wahrnehmung sich stärker ausprägenden – Stimmungsschwankungen meiner Tante; Stimmungsschwankungen, die einhergingen mit einer latenten und immer offener zutage tretenden Antriebsschwäche. Schließlich prägte sich ein Krankheitsbild aus, das ärztlicher Expertise bedurfte und das man seinerzeit mit dem Befund einer endogenen Depression klassifizierte - es fehlte dann im Zeitgeist der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht viel, um schon einmal für verrückt erklärt zu werden und in Andernach zu landen (Landesnervenklinik Andernach, in der auch meine Tante sich behandeln ließ - alternativ dazu die Ehrenwall’sche Klinik in Ahrweiler).

Lebt man Tag für Tag in einem engen Verbund – Mutter-Vater-Kinder in dem einen Haus, Großmutter-Großvater sowie Mutter-Kind im Nachbarhaus – ist der Blick für das Offensichtliche verstellt. Fürs Verstellen gibt es ein unschuldiges Nicht-Sehen-Können und ein schuldhaftes Nicht-Sehen-Wollen. Etwa im Alter von siebzehn Jahren begann ich die Welt zunehmend durch diese Brille zu sehen und zu bewerten; erste Gedichte entstanden – das Auftauchen des unbedingten eigenen Wortes - und ich konfrontierte meine Mutter mit meinen Einsichten: Der Tante geht es schlecht, weil niemand ihre schiefe Stellung im Leben sehen wollte! Sie wird wohlmöglich verrückt! Das Gestell, in dem sie sich bewegt, führt zu dauerhaften seelischen Verkrümmungen mit somatischen Kollateralschäden. Wie meine Tante faktisch verrückt wurde - an den Rand geschoben wurde - in einem Beziehungsgeflecht, in dem eine andere Frau in Köln inzwischen ihren Platz besetzt hatte, konnte von uns niemand wirklich durchschauen. Meine Tante ist im Übrigen 2004 - ein Jahr nach meiner Mutter, ihrer Schwester, verstorben. Die Platzhalterin in Köln, die liebe Magret lebt heute noch, umsorgt und versorgt von der Tochter der verrückten Frau in Neuenahr.

Man kann nun exemplarisch zeigen, wie der Zugang zu Bildung – ich war inzwischen Oberstufenschüler – Voraussetzungen schafft, die sozialen Beziehungen in einem Familienverbund (mit möglichen Verrückungen) durch andere Brillen zu betrachten. Das führte dann auch zu ersten Konflikten. Wenn dieser Zugang einbricht wie ein Frühlingserwachen und diese Brillen die Wirklichkeit wie einen Abgrund erscheinen lassen, bleibt dies (auch) für den Beobachter nicht folgenlos: Für die Erklärung meines Unbehagens gab es eine klassische Blaupause. Geliefert hat sie Sigmund Freud mit seiner Abhandlung über das Verhältnis von Kultur und Unbehagen, also Unlust und Leid (Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930). Die Quellen der Unlust und des Leids bekommen erstmals konkrete Begriffe und Gesichter. Dass wir alle nach Lustvermehrung streben, leuchtete mir unmittelbar ein. Genauso leuchtete mir ein, dass dies als grundsätzliches Prinzip nicht realisierbar sei; vor allem die Außenwelt erschien mir als die entscheidende Quelle von Unlust. Ich begriff für mich und die beobachteten Widersprüche den Widerstreit von Lustprinzip und Realitätsprinzip als Sesam-Öffne-Dich, das mich in die Lage versetzte die entsetzliche Wirklichkeit nicht nur zu sehen, sondern auch zu erklären. Als wichtigste Quelle des Unglücks erschien die Kultur bzw. die Art und Weise, wie sie die menschlichen Beziehungen in einem Zwangskorsett einengte. Der Urkonflikt trat auf den Plan, indem ich mir die Idee zu eigen machte, dass Triebbefriedigung permanent unterlaufen bzw. unterbunden würde und damit einen strukturellen Gegensatz zu individueller Freiheit in die Welt trage. Das ganz und gar Unerträgliche an dieser Konstellation beruhte auf der gleichzeitigen Annahme, dass es aber doch die Liebe sei, die uns von all dem heilen könne, ja müsse! Die Liebe als Urmotiv der Familie – zumindest der Familie, wie ich sie kannte. Die Liebe umschloss in meiner Vorstellung nicht nur Sexualität, zudem noch in einer vollkommen idealisierten Vorstellung, sondern alle Formen und Spielarten einer liebevollen Zuwendung – und dies zuvorderst in der Gestalt der Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern unter ganz besonderer Betonung der Mutter-Kind-Beziehung.

Nun hatte ich meine Theorie und geriet zunehmend in die Lage, die realen Verhältnisse daran zu messen!!! Was war los mit meiner Tante? Um meinen nachhaltigen Schock vorwegzunehmen – weil er sich in aller umfassenden Dramatik erst mit einer Zeitverzögerung von Jahrzehnten einstellte –, will ich hier etwas in den Raum stellen, was mir meine Cousine – jedenfalls in dieser Umfänglichkeit – erst nach ihren eigenen Lebenskrisen offenbarte. Dass sie es in ihrer gesamten Kindheit, in ihrer Jugend, in ihrem Erwachsenenleben, in der Zeit als sie ihre Mutter zum Sterben brachte, nicht ein einziges Mal erlebt habe, dass ihre Mutter – offen und offensiv – körperliche Nähe, Zärtlichkeit, Schmusen, die oxytocin-geschwängerte Atmosphäre eines vorbehaltlosen Kuschelns, Liebhabens erlaubt oder gesucht habe, macht mich – indem ich es hier aufschreibe – immer noch vollkommen fassungslos (meine Cousine hat dies u.a. niedergelegt in einem Brief an die kleine Gaby – entstanden durch Anregungen im Rahmen einer Therapie). Meine Cousine Gaby ist ein herzlicher, liebevoller Mensch, der seine Liebe in so vielen untauglichen wie tauglichen, für sie unzuträglichen wie zuträglichen Lebenssituationen verströmt (hat), dass sich für mich auch heute noch mehr Fragen als Antworten aufdrängen.

Klar war, dass man in einem eng geschnürten Korsett nicht zu sich selbst kommen kann, wenn die Kultur – die ungeschriebenen Gesetze – jemanden zwingen, sich zu verstellen – ein Leben lang. Unsere Großeltern, die Eltern meiner Mutter und meiner Tante, sind 1968 bzw. 1970 verstorben. Mir ist Jahrzehnte später glaubhaft vermittelt worden, dass unser Großvater bis zu seinem Tod nichts gewusst hat von einer Scheidung – diese Wahrheit hatten Mutter und Tochter tief in sich vergraben, auch verborgen vor der Enkelin bzw. der eigenen Tochter, die ihr eigenes Wissen, das sie zwischen Bettwäsche und Lavendel entdeckt hatte, ebenfalls tief in sich als Geheimnis aufbewahrte. Aber was bedeutet das? Kann man sich ein Leben in Einsamkeit und Lüge in diesem Ausmaß überhaupt nur annähernd vorstellen? Gaby, Willi und ich – wir spielten Vater-Mutter-Kind. Meine Tante spielte über Jahre mit Onkel Fred und Gaby Vater-Mutter-Kind. Es gibt viele Fotos, auf denen die kleine Familie zu sehen ist. Und es gibt unzählige Fotos, die Gaby mit ihrem Vater zeigen. Wie soll man da nicht verrückt werden, wenn man so verrückt worden ist?

Unser Onkel Fred war in Bad Neuenahr eine Legende – eine Fußballlegende. Jeder kannte ihn, und fast alle bewunderten ihn. Dass dieser charmante Kölner Junge mit dem linken Bums in Bad Neuenahr schon Vater war, bevor er meine Tante Annemie heiratete, war einerseits so etwas wie ein offenes Geheimnis, andererseits aber auch viel weniger. Solche Tatbestände wurden nicht kommuniziert, darüber wurde nicht gesprochen (der klassische weiße Elefant) – sie wurden so nachhaltig verschwiegen und verdrängt, dass selbst die unmittelbar Beteiligten der Amnesie anheimfielen. Immerhin hat sich der Sohn Onkel Freds – Gabys Halbbruder – seinem Vater an einem Rosenmontag in den 90er Jahren vorgestellt. Der Schock für Onkel Fred lag allein schon darin begründet, dass er plötzlich seinem Ebenbild gegenüberstand. Sag mir heute einer, wie das funktioniert hat? Es ist ja nicht so - würde Christiane Hoffmann sagen -, dass alles, was wir nicht erinnern, nicht mehr da ist!

Tatsache ist und bleibt, dass Fred Annemie heiratete. Annemie war eine schöne Frau – gleichzeitig ein Seelchen. Der richtige Mann an ihrer Seite hätte dieses Seelchen nicht nur als schöne Frau gesehen, er hätte all ihre Qualitäten, all ihre besonderen Seiten zum Blühen und Klingen gebracht. Aber dazu hätte er diese Frau aufrichtig lieben und sehen müssen – in der Haltung einer ganz und gar zweifelsfreien Höchstrelevanz. Aber unser Onkel Fred war nicht nur ein Frauenheld; er war offenkundig ein Mann, der eine selbstbewusste, tatkräftige Frau an seiner Seite benötigt hätte, jemand, der ihm Grenzen setzte; also das gerade Gegenteil von meiner Tante Annemie. Natürlich sehe ich heute im Konzert der Nachgeborenen ein großes Glück darin, dass aus dieser Verbindung die Cousine Gaby hervorgegangen ist; auch wenn ihr Leben von Anfang an nicht unter einem glücklichen Stern stand. Fred spielte das Spiel mit Netz und doppeltem Boden, bei dem man eine Frau – wie bei einem billigen Taschenspiertrick – einfach verschwinden lassen kann. Man fühlt sich an ein Hütchenspiel erinnert, bei dem die Protagonisten so schnell verrückt werden, dass niemand mehr sagen, kann, wer wann wo ist! Es war fast ein klassisches Doppelleben – aber eben nur fast. Fred hatte lange schon wieder eine Ehefrau in Köln; er war ja rechtmäßig geschieden. So kam er – der Vatermann – in unregelmäßigen Abständen zu Besuch, zu Ausflügen und Unternehmungen, und fuhr abends wieder in seine Arbeitswelt. Die Arbeitswelt war irgendwann nicht mehr die eines Handelsvertreters, sondern die eines kleinen Hoteliers in prominenter Lage, unmittelbar am Dom.

Das alles geht mich nicht wirklich etwas an. Die Anmaßung in den frühen siebziger Jahren war hingegen verständlich, weil mir diese Welt und die Menschen in ihr tagtäglich vor Augen standen – gleichwohl vollkommen unverständlich blieben. Noch aus dem Bertelsmann-Lesering – da war ich allenfalls 16 – war mir ein Kompendium von Schriften des Philosophen Karl Jaspers zugekommen. Es liegt hier vor mir; es ist unter allen Büchern das in vielfacher Hinsicht besonderste! Zerlesen, mit Bleistift unterstrichene Passagen, da es noch keine Textmarker gab; es hat in allen existentiellen Krisen immer Botschaften parat gehabt, die mich nicht haben verzweifeln lassen. Um die Bedeutung meiner Tante für mein Weltverständnis aufzuschließen, gibt es – neben der Freudschen Lektion – noch heute wesentliche Anstöße. Die wenigen Sätze Karl Jaspers‘ zum Alter entfalten heute erst ihre volle Wirkung. Ich bin inzwischen siebzig Jahre alt:

„Ein Rückblick auf das eigene Leben, zumal im Alter, bringt in eine zweideutige Verfassung. Es ist, als ob man etwas abschlösse, was noch im Gange ist… Das Bewusstsein bewegt, das Wesentliche noch nicht gesagt, das Entscheidende, das sich ankündigt, noch nicht gefunden zu haben. Daher wird ein (philosophierender) Rückblick zu einem besseren Ausgang des Plans für künftige Arbeit. Das Sicherweitern der Vernunft ist nicht eingeschlossen in den biologischen Lebenskreis. Man kann in die für das Alter paradoxe Stimmung geraten, der Blick öffne sich auf Grund der geistigen Erfahrungen in neue Weiten.“

In der – innerhalb der zusammengestellten Schriften – integrierten Kleinen Schule des philosophischen Denkens überschreibt Jaspers einen Abschnitt mit Anker in der Ewigkeit. Darunter finden sich in Kapitel XI und XII Ausführungen über Liebe und Tod. Beide Kapitel sind für mein Denken mit Blick auf diese existentiellen Ewigkeitsthemen richtungsweisend geblieben. In der Phase des Sturm und Drangs, die gleichbedeutend war mit einer zweiten Geburt, in der man zur Welt kommt, indem man zur Sprache kommt, nahmen sich meine eher verzweifelt anmutenden Versuche zu beschreiben, was mich innerhalb der großen Familie bedrängte, dilettantisch aus. Und dennoch triggern Paul Celans Sprachblitze auch hier schon die Absichten. Hier will jemand mit dem Strahlenwind seiner Sprache das bunte Gerede des Anerlebten wegbeizen – das Genicht, dem Weg bahnen durch den menschengestaltigen Schnee, ihn zum Büßerschnee machen, eintreten in die gastlichen Gletscherstuben, eintauchen in die Zeitenschrunde, die nie ganz heil werden wird, die Atemkristalle ausstoßen zu einem unumstößlichen Zeugnis :

 

efliH oder: Land des Schweigens - Land des Lächelns (1970)


–Eine Frau zerbricht,
ohne Kraft gebiert sie die Krankheit,
provoziert das Mißverständnis,
als das sie ihr Leben langsam begreift.
Leben in sich –
Mikrokosmos:
Fehlentwicklung der stofflosen Materie,
die ausbricht in schütterer krankhafter Anomalie.
Lächelnd begrüßt man (die) Ursachen,
mit denen,
als die man lebt,
als die man redet über Zerredbares,
als da sind Gärten und Krankheit;
die selbst sich entpuppt als Paradoxon!

In wem, worin sei efliH,
die Hilfe?
Gewiß in niemandem,
dessen Stimmbänder
programmiert
zerreden die Wirklichkeit!


Soweit ich mich erinnere, ist dieser erste Versuch etwas mir Unheimliches zur Sprache zu bringen, das einzige Gedicht, das meine Mutter je von mir gelesen hat. Ich habe sie damit konfrontiert und habe gefragt, was los sei mit der Tante? Aber ich habe nicht nur gefragt – ich habe gleichzeitig angeklagt: Ihr könnt doch nicht alle einfach zusehen, wie die Tante verrückt wird! Aber sie war ja schon lange verrückt worden - und ihre unmittelbare Umgebung hatte daran weder Anteil noch Schuld. Onkel Fred hatte die Hütchen in der Hand und bestimmte, wer wann unter welchem Hütchen zu erscheinen hatte!

Die philosophischen Erörterungen zu einer Vorstellung von Liebe, wie sie Karl Jaspers entfaltet, haben mich 2007 wieder eingeholt. Sehr viel weiter unten wird seine Patenschaft aufleben und dann einen reifen – zumindest gereiften – Wanderer zwischen den Welten antreffen. Anfang der siebziger Jahre traf die Jasper‘sche Lektion mit der Freud‘schen zusammen. Mit einem Paukenschlag erhellte sich mir die missliche Lage meiner Tante: Primeln reagieren unmittelbar auf Liebes-, pardon, auf Wasserentzug; sie lassen buchstäblich die Köpfe hängen und zeigen ihre prekäre Mangelsituation an. Mir kam es so vor, dass meine Tante den Kopf dauerhaft hängen ließ, weil alle lebenserhaltenden Versorgungsleistungen auf ein Minimum abgesenkt waren. Die vitalisierenden Austauschbeziehungen zu den Nächsten waren so sehr geschrumpft, dass auf Augenhöhe ebenso wie nach oben, wo Eltern immerhin sich noch sorgten – wie nach unten, wo jemand gleichermaßen mit seinen Würzelchen in der Luft hing und nach Zuwendung lechzte, ein stetiger Mangel das Leben prägte. Meine Tante trottete Jahr um Jahr, wie der Esel dem Wagen – mit dem frischen Grün vor Augen – hinterher, ohne die geringste Chance, sich daran auch nur einmal laben zu dürfen. Das Opfer, das sie zum Wohlergehen ihrer Tochter brachte, ließ sich offenkundig nicht erweitern zu einer aktiven, liebevollen Zugewandtheit der eigenen Tochter gegenüber. Wenn ich versuche Freud‘sche Begriffe wie Lustvermehrung (im Sinne eines Lustprinzips) im Zusammenhang mit meiner Tante zu denken, drängen sich unmittelbar die Begriffe von Unlust und Leid in den Vordergrund. Meine Tante kam mir – bis auf wenige Jahre der Ausnahme – vor, wie das Ebenbild einer mater dolorosa, einer Schmerzensmutter, in deren Entbehrenserfahrung eigener Lust sich die emotionale Spärlichkeit der eigenen Tochter gegenüber spiegelte. Lust meint hier – vielleicht – am wenigsten sexuelle Lust –, sondern vielmehr das Bedürfnis nach Anerkennung, noch elementarer das Bedürfnis danach, überhaut zuerst einmal gesehen zu werden. Schwer verständlich bleibt die Zurückhaltung auch da, wo sich ein Gegenüber anbot, wo der männliche Blick mit Avancen einherging, und schlicht ein Interesse ihr gegenüber ganz einfach als Frau signalisierte. Die Kränkungserfahrungen müssen galaktischen Ausmaßes gewesen sein, und die daraus resultierenden Ängste vor Enttäuschung so grabentief, dass man kaum von einer Freiheit der Wahl reden mag. Im Brief meiner Cousine an die kleine Gaby erhält diese Annahme weitere Nahrung durch den Hinweis, dass die beiden Schwestern – meine Mutter und meine Tante – 1955 wieder etwa zur gleichen Zeit schwanger gewesen sein müssen. Während im November 1955 mein Bruder Wilfried geboren wurde, stellte sich für meine Tante – bei aller Last und aller Not – auch noch das Mega-Trauma einer Totgeburt ein; Gaby hätte eine Schwester gehabt, so wie ich einen Bruder hatte. Im Rückblick baut sich das Bild einer riesigen Glocke auf, unter der die Tante wohl nie einen anderen Klang gehört hat als den, dass im Leben alles schief läuft, was schief laufen kann. Sie hatte für sich Murphys Gesetz als lebensbegleitenden basso continuo angenommen.

Wut, Enttäuschung, Entrüstung sind gewiss umso ausgeprägter, je machtloser man vor einer Situation bzw. einem Zustand verharren muss. Meiner Mutter gegenüber war ich ungerecht und selbstgerecht gleichermaßen; meinen Vater sah ich in der Angelegenheit gar nicht erst in der Verantwortung. Die Keimzelle des Unbehagens in der Kultur lag zweifellos in der mütterlichen Linie begründet – in einem Lügengespinst, das die einen schützen sollte und die anderen nicht schützen konnte. Die Oma – die moralische Instanz der Familie – war wider Willen Mitwisserin des Ehedesasters; auch der juristischen Konsequenz einer Scheidung im erzkatholischen Mief der Voreifler. Sie schützte ihren jähzornigen Ehemann (vermutlich vor sich selbst); keiner hätte dafür garantieren wollen, dass der dem Stenz aus Kölle nicht ans Fell gehen würde. Die kleine Gaby, die der umfänglichsten und wirksamsten Schutzbastion bedurft hätte, konnte niemand schützen; sie sorgte für sich selbst durch Wohlgefallen und Willfährigkeit; ihre oberste Zielsetzung bestand im unbedingten Erhalt des Kontakts zum geliebten Papa – um jeden Preis.

Zur Welt war – neben Franz Josef und Wilfried, in einem anderen Leben – ja schon Ursula gekommen. Aber zur Welt kommen bedeutete bei uns nicht quasiautomatisch auch zur Sprache zu kommen. Zur Sprache kam eben nichts, außer Alltäglichem, Beiläufigem und Nebensächlichem – das bunte Gerede des Anerlebten. Über allem, was das Leben und seine Dynamik in der Familie ausmachte, herrschte tiefes Schweigen. Nein, das trifft es nicht in angemessener Weise. Das Tabu, das ein Schweigegebot hätte auslösen können, wirkte ja selbst im Verborgenen. Das teuflische an einer solch verzwickten Gemengelage liegt ja gerade darin, dass sich niemand auskennt, niemand etwas Genaues nicht weiß und – wenn überhaupt – nur im Trüben fischt. So kam es, dass sich über Jahre und Jahrzehnte die Fragen selbst rarmachten und begannen ein Versteck-Spiel zu treiben. So muss es nicht verwundern, dass uns das Fragenstellen selbst abhandenkam. Tief im Verborgenen kontrollierte die Scham das Miteinander. Wir alle lebten miteinander in einem wohlbegründeten Modus der Dankbarkeit. Dies verhalf dem Tabu zu einem komfortablen Dasein; einmal ganz davon abgesehen, dass das Leben ja nach vorne treibt und gelebt sein will – mit Kind und Kegel, mit so vielen Träumen, Hoffnungen und Erwartungen. So lebten wir alle – nun ja, Adorno würde sagen – unser richtiges Leben im falschen. Die übergroßen weißen Elefanten hatten sich häuslich eingerichtet und begleiteten uns ein langes Lebenlang durch Kindheit und Jugend. Jeder konnte sie sehen, aber keiner durfte sie anfassen oder über ihre Existenz ein Wort verlieren. Da tut es doch gut und lenkt die Aufmerksamkeit in eine ganz andere Richtung, wenn man einfach mal gut 1000 Kilometer südostwärts schaut – in die Nähe von Wien, nach St. Pölten oder nach Mistelbach – wo gewichtige Akte von Hildes Geschichte spielen:

Dort kam es in den frühen 60er Jahren in einer Familie zu einem nachhaltigen, heftigen Streit, weil jemand sich traute an einem Tabu zu rütteln. Franz Streit war nicht heimgekehrt. Ein paar spärliche Informationen gab es ja schon weiter unten zu lesen. Er hinterließ Frau und zwei Kinder, die im ehrfürchtigen Respekt vor ihrem Vater von der Mutter erzogen wurden. Dass Franz nicht nur Vater von zwei Söhnen war, sondern dass er im Rheinland eine Blutsspur hinterlassen hatte, so dass ihm dort genau zwischen den beiden Söhnen eine Tochter geboren wurde, hatte er bei seinem letzten Besuch in der Heimat der Mutter anvertraut. Die Mutter ihrerseits hatte sich irgendwann ihrer Tochter – der Julie – anvertraut, weil sie mit dieser Gewissenlast nicht alleine leben konnte. Wie sein Vater, war Werner Panzersoldat geworden und hatte während des Mauerbaus in stetiger Alarmbereitschaft eine ferne Ahnung davon bekommen, was dies wohl im Ernstfall bedeuten könnte (dass Werner Soldat in der Bundeswehr sein konnte, war eine Folge seiner Entscheidung – im Gegensatz zu seinem Bruder Gert – die deutsche der österreichischen Staatsangehörigkeit vorzuziehen. Gerda Streit, die Mutter, stammte aus Duisburg und war Deutsche). Bei einem seiner Besuche in Österreich nahm ihn sein Bruder bei der Ankunft beiseite und bereitete ihn auf dicke Luft vor. Etwas Ungeheuerliches war geschehen: In einem Streit zwischen der Gerda, ihrer Mutter, und der Julie, ihrer Tante und somit Schwägerin der Mutter (von der gesagt wurde, sie sei die Lieblingsschwester von Franz gewesen), hatte die Julie der Gerda in ihrer Wut – vielleicht auch in wohlüberlegtem Kalkül? – an den Kopf geworfen, sie solle doch endlich mal den Franz vom Altar holen. Diese Heldenverehrung sei ja nicht auszuhalten, wo doch jeder wisse, dass der Franz noch eine Tochter in Deutschland habe. Die Entrüstung und der Schock saßen gleichermaßen tief und lösten die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Fest steht nur, dass die beiden Söhne Franz Streits von da an nie mehr der Gedanke losgelassen hat, diese Schwester zu finden – ihre Suche war ziel- und erfolglos, so ganz anders als die Bemühungen ihrer Schwester.

Ein kleiner Abschnitt – einfach so eingefügt in den Gedankenfluss – verändert das Bild einer heilen Familie, gar einer Familienidylle nachhaltig. Die Kreuzstraße 113 - dort lebte Hilde, die ältere Schwester Annemies, mit ihrer Familie – war ein ehrenwertes und vor allem ein offenes Haus. Es wäre ein lohnendes Unterfangen die Geschichte dieses Hauses und seiner vielen Bewohner zu erzählen (siehe Kurz vor Schluss II, Kapitel 14, 15 und 16).

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund