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Stellen Sie sich Ihre Familie einmal als Haus vor

Weihnachten – das Fest der Familie. Bildet man Lehrer aus, fragt man sich, ob es in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs – zuletzt hat uns Zygmunt Bauman den Begriff der Postmoderne nahe gebracht – so etwas wie basics gibt? Selbst ein relativ nüchtern daher kommender Soziologe wie Karl Otto Hondrich stellt in einem fast privat anmutenden Vermächtnis – Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft – Begriffe wie Geborgenheit, Zugehörigkeit und Entschiedenheit in den Mittelpunkt seiner offenherzigen – tendenziell eher Resignation ausstrahlenden – Analysen. Aus zwei Motiven heraus habe ich einerseits die konkrete Erfahrungsseite vieler Studierender mit Blick auf ihren familiären Hintergrund erfragt, auf der anderen Seite habe ich sie gebeten ihre Wünsche und Erwartungen zu formulieren.

2005 ist eines dieser Beispiele in Kopfschmerzen und Herzflimmern (S. 25-30) eingeflossen. Ich gebe es hier wieder – fast 16 Jahre später -, um deutlich zu machen, dass mit dem zunehmenden Verlust von Sicherheit und Dynamisierung gesellschaftlicher Fliehkräfte die Not so vieler nicht geringer wird. Weihnachten hingegen erfüllt bis in die Gegenwart – wie ein Brennglas – die Funktion den damit vielfach enttäuschten Sehnsüchten Gehör zu verschaffen. An dieser Stelle drängt es sich geradezu auf, dass meine Arbeit sehr viel umfassender und differenzierter angelegt ist, als dies in einem Adventskalender sichtbar werden kann. Soziologische Studien, vor allem aber auch systemische Ansätze in der Familientherapie spielen dabei eine wichtige Rolle. So verlinke ich hier lediglich einen Beitrag, dem ich ursprünglich ein eigenes Türchen widmen wollte. Aber da auch in der eigenen Familie lange nicht jeder durch diese Tür gehen will, lasse ich es bei einer Verlinkung bewenden, denn der Beitrag selbst steht schon seit Jahren in meinem Blog. 

Wenden wir uns den Erfahrungswelt einer jungen Studentin zu: Von den hunderten so genannter „Lerntagebüchern“, in denen Studierende ihre Geschichten erzählen, um ein wenig Klarheit und Unterscheidungsvermögen in ihre Lebensmotive und -visionen zu bringen, stelle ich hier eines vor, das mich gleichermaßen berührt wie sensibel gemacht hat für die Nöte gerade junger Menschen, die nolens volens in krisenhafte Familiendynamiken – ausgelöst häufig durch Trennungen – verstrickt werden. Und insofern spiegelt sich in diesen Geschichten auch die „große Zahl“ wider? Nach wie vor ist es so, dass mehr als die Hälfte aller Ehen in Deutschland geschieden werden.

Angeregt durch mehr oder weniger konkrete Fragen  und Impulse gewinnt man eine Sensibilität für Unterschiede und erfährt gleichermaßen, wie ausgeprägt Bedürfnisse und Phantasien sind, wenn es darum geht, durch Trennungsprozesse verursachte Kollateralschäden zu heilen.

Im Folgenden nun die Geschichte, erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau, mitten im Staatsexamen, nach einem Leben, für das die Achterbahn am ehesten als Sinnbild stehen mag; aber eben auch an einem Haltepunkt, der nach 26 Jahren gleichermaßen die Enttäuschungen und Zumutungen wie das Wachstum und die Ressourcen zur Lebensbewältigung sichtbar werden lässt:

„Als ich sieben war, trennten sich meine Eltern. Meine ganze bisher bekannte Lebenssituation veränderte sich. Wir verkauften unser Haus, meine Schwester zog zu meinem Vater, ich blieb bei meiner Mutter… Meine Eltern sind beide Akademiker und standen damals voll im Beruf. Durch die Trennung wurde ich auch von meiner Schwester getrennt. Ich besuchte meinen Vater jedoch regelmäßig. Meine Mutter arbeitete sehr viel, so dass ich die meiste Zeit allein war. Zu dieser Zeit besuchte ich die Grundschule, danach wechselte ich auf das Gymnasium. Meine Leistungen wurden sehr schnell schlechter, und ich musste die Schule verlassen. Über eine Hauptschule, die Berufsfachschule fand ich wieder den Einstieg ins Gymnasium. Es war schwierig den Anschluss zu finden – sowohl inhaltlich als auch sozial. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon den unbedingten Willen, das Abitur zu machen. Mit neunzehn hatte ich es geschafft.“

Wer oder was wäre Dir in dieser Situation denn eine Hilfe gewesen?

„Ich denke, ich hätte als Kind einen Halt gebraucht. Meine Eltern trennten sich, als ich sieben war. Sie waren in dieser Zeit nicht belastbar, sehr mit sich selbst beschäftigt – auf der Suche nach sich selbst. Ich habe gemerkt, dass ich mich nicht auf sie verlassen kann. Es wäre wichtig gewesen, dass sie mir z.B. in der Schule geholfen hätten. Ich habe gelernt, das alles alleine zu machen, und ich bin dadurch sehr früh sehr selbstständig geworden. Meine Mutter hat in der Nacht geweint. Mein Vater war nicht da, er hatte ständig wechselnde Beziehungen. Vielleicht hätte ich meine Bedürfnisse stärker zum Ausdruck bringen müssen – aber mit sieben? Ein einschneidendes Erlebnis war, als ich meine Mutter eines Morgens betrunken antraf. Sie konnte einfache Fragen, die ich ihr stellte, nicht mehr beantworten. Da begriff ich, dass ich stärker sein muss als sie. Sie war total hilflos. Ich kann mich noch genau an meinen Schulweg an diesem Morgen erinnern. Ich kam mir ganz orientierungslos und verloren vor. Die Trennungszeit meiner Eltern und ihr diesbezügliches Verhalten über Jahre prägten meine gesamte Schullaufbahn. Ich habe nicht gelernt zu lernen und zu fragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Ich hatte nie eine Hausaufgabenbetreuung. Meine Eltern haben meine vorgegebene „Stärke“ dankend angenommen und mich damit etwas überfordert. Ich habe gelernt, mich wirklich nur auf mich selbst zu verlassen. Auch heute habe ich noch manchmal Probleme damit.“

Wenn wir in der Folge diesem „Einzelfall“ noch ein wenig Aufmerksamkeit widmen, dann sicherlich nicht, um die Welt als Jammertal zu beschreiben, sondern um das Leben – zwischen Liebe und Wahnsinn – in seinen unterschiedlichsten Facetten und in seinen Wirkungen auch „fallbezogen“ spürbar zu machen: Interessant ist die Antwort der jungen Frau auf den Impuls, sich „die eigene Familie einmal als Haus“ vorzustellen:

„Es ist sehr klein, liegt dunkel im Schatten von großen Bäumen. Von der Grundkonstruktion her wäre es schön, es ist aber sehr wackelig und leider baufällig. Dort, wo Steine runterfallen, wird es notdürftig zusammengeflickt. Die Bewohner leben auf verschiedenen Ebenen – es gibt kein gemeinsames Zimmer. Ich wohne im untersten Stockwerk, mein Vater im Zweiten, meine Schwester im Dritten, meine Mutter wohnt im Vierten. Wenn man sich gemeinsam treffen möchte, trifft man sich auf dem Platz vor dem Haus. Dies geht aber nicht immer, wegen der Wetterverhältnisse. Dann trifft man sich eben nicht. Das Haus ist auf Liebe gebaut, dieser Boden hält jedoch nicht alles aus. Es gab schon ein paar Mal Erdbeben, dabei ist der Grund etwas abgesackt. Aber es hält. Nur das Haus wird dadurch etwas schief und brüchig. Wenn die Bewohner das Haus betreten, müssen sie immer durch meine Etage. Dabei machen sie Unordnung und ich muss immer wieder aufräumen. Dadurch komme ich manchmal nicht dazu, meine Arbeiten zu erledigen. Ich bin gerade dabei, für die anderen Bewohner eigene Zugänge zum Haus zu bauen. Eigentlich finde ich, dies könnten sie auch selbst machen. Sie sind damit nicht ganz einverstanden, da es für sie unbequem ist. Oft ist es so, dass sie bei mir rumsitzen und ständig irgendetwas von mir wollen. Das nervt mich. Sie haben auch ständig Fragen an mich. Ich möchte mich manchmal auch nur auf mich selbst konzentrieren. Aber ich kann immer zu ihnen kommen. Sie denken immer, dass ich stark bin.“

Wir erfahren hier, wie Moderne und Postmoderne im Sinn Zygmunt Baumans ineinander übergehen, wie das ständige Verschieben und das ständige Erodieren von Sicherheitsbedürfnissen auf der einen Seite und ein ausgeprägter Freiheitsdrang auf der anderen Seite ganz konkrete Wirkungen hervorbringt, die für die Beteiligten nur schwer auszuhalten und zu handhaben sind. Auch wenn die Gesellschaft als Ganzes auf die Erweiterung von Freiheitsgraden drängt, für Kinder allemal überwiegt das Grundbedürfnis – wie Karl Otto Hondrich zu recht feststellt – nach Geborgenheit, Zugehörigkeit und Entschiedenheit derer, die für sie Verantwortung tragen. Das ist eine Botschaft, die dem geschäftigen Getue, dem ganzen Klimbim um das Weihnachtsfest herum ein sinnhaftes Äquivalent verschaffen kann. Also machen wir uns auf die Socken, um mit Alexander Kluge zu reden; das Weihnachtsfest kann ja auch ein Fest der Besinnung sein.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund