Alex Schulman - VERBRENN ALL MEINE BRIEFE (Teil IV)
Siehe hier: Teil I, Teil II, Teil III
Nun ja, ich will nicht sagen, dass mich die Liebesgeschichte - die Affäre -, um die es hier geht, langweilt. Ich habe selbst Liebesgeschichten beobachtet und war selbst verstrickt in Liebesgeschichten. Und ja - ich habe die 70 im Februar überschritten, bewege mich in einem ruhigen Fahrwasser. Alex Schulman (AS) schreibt auf Seite 117 seiner Aufzeichnungen über seine Großmutter: "Noch nie hat sie einen Menschen getroffen, der sich so leicht von seinen Gefühlen überwältigen lässt. Darin ist er Svens absoluter Gegensatz." Was Karin Stolpe an Olof Lagercrantz fasziniert, wie er in seiner Liebesblödigkeit agiert, das muss man schon selber lesen (ich bekomme keine Provisionzahlungen von dtv!).
Ich will lediglich das Ausmaß jener Verliebtheit ansatzweise vermitteln; einer Liebe die sich ja letztlich - als unerfüllte Liebe - nicht wirklich beweisen können wird ("Die unerfüllte Liebe ist die wahre Liebe" - ich glaube Pablo Neruda). Olof Lagercrantz hält in seinen Tagebüchern jene Liebe fest, die sein Leben so grundlegend verändert. Denn es ist eben keine kurze Liebelei - wie AS registriert -, die aufflammt und wieder erlischt. Noch Jahrzehnte später - er ist eine schwedenweit bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens (er wird in späteren Jahren Chefredakteur der Tageszeitung Dagens Nyheter) - feiert er ihre singuläre Begegnung in jener Tageszeitung Dagens Nyheter "als das kostbarste in meinem Leben":
"Eine Wildrose einst in einer Sommerlandschaft in Uppland brannte sich in meine Netzhaut ein. Ich sah sie nicht nur mit meinem äußeren Auge, sondern als Teil einer höheren Wirklichkeit. Sie brannte im Inneren meines Auges wie ein kleines Ewigkeitslicht, und ich spürte, dass sie niemals erlöschen würde. Meine Seele schien mir durch mein Auge hinauszuwandern, durch die Blüte hindurch in eine unbekannte Ewigkeit, die mir ein intensives Glücksgefühl und die Empfindung von Ruhe und Kraft schenkte. Einige Erlebnisse dieser Art waren das Kostbarste in meinem Leben. Neben ihnen wurde alles andere bedeutungslos (Seite 93f.)."
So fängt es an und so geht es weiter. Aus der Unmittelbarkeit des Erlebens entspringt dabei eine andere Intensität als aus den nachgetragenen Liebesbekundungen:
"Ich verliebte mich hoffnungslos. Mein Herz schlug in der Nähe der Geliebten so heftig, dass ich in Atemnot geriet und nicht mehr sprechen konnte [...] Es gab nur einen Ausweg - den Tod... (Seite 94)."
In Trost für meine Geliebte - vierzig Jahre nach den Ereignissen von 1932 veröffentlicht - ist immer noch zu lesen:
"Ich wurde samt Wurzeln aus der Erde gerissen und kümmerte mich von Stund an um nichts anderes als um meine Liebe [...] Wenn ich in ihrer Nähe bin, fließt mein Blut mit solcher Kraft zum Herzen, dass ich glaube, ohnmächtig werden zu müssen [...] Ich bin wie von Sinnen. Ich bete morgens und abends zu Gott, dass er sie mich lieben lässt (Seite 95)."
Ja, die Verrückten unter uns werden der Gnade Gottes teilhaftig, wie George Steiner (Errata - Bilanz eines Lebens, München 1999) meint. Und diese Verrückten - Olof Lagercrantz gehört zweifellos zu ihnen - sind bereit, ihre persönliche, öffentliche und materielle Existenz aufs Spiel zu setzen. Sie sind bereit sich selbst und anderen unaussprechliche Schmerzen zuzufügen, die sich manchmal einschreiben in das Seelenpergament anderer. Am 27. Juni 1932 sucht Olof Lagercrantz die unmittelbare Konfrontation und attackiert Sven Stolpe in aller Öffentlichkeit in der Stiftung Sigtuna:
"Es ist doch lächerlich von Ihnen, dass Sie nicht zu Ihrem piefigen Frauenbild stehen können [...] Ich sage nur zwei Dinge: Erstens: Der Protagonist im Roman Feige leidet an einer Zwangsneurose, die mit einem Mutterkomplex, Frauenhass, Hyperintellektualität, Idealismus, Sexualstörung, Narzissmus, Konservatismus und Wahnvorstellungen einhergeht. Zweitens: Diese Figur gibt es im wirklichen Leben, und die heißt Sven Stolpe."
Olof Lagercrantz deckt in nuce und sozusagen just in time die paranoide und zutiefst gestörte Persönlichkeitsstruktur seines Kontrahenten Sven Stolpe auf - eine Enthüllung, die auch Stolpes Enkel Alex Schulman mehr als 80 Jahre nach den Ereignissen klar vor Augen steht. Denn auch Sven Stolpe gehört zu den Verrückten - er gehört zu ihnen auf eine in der Tat vollkommen grenzüberschreitende Weise, in einer Weise, die wir zweifellos als überaus pathogen begreifen müssen (ich habe den Tatbestand des Verrückt-Werdens und des Verrückt-Habens in Kurz vor Schluss II, Seite 14-19 übrigens einer Neudefinition unterzogen - nicht zuletzt, weil ich selbst zu den Verrückten gehör(t)e).
Alex Schulman deckt Facette für Facette die abartige Seite - hier trifft das Adjektiv toxisch den Kern - seines Großvaters auf (Großväter hütet euch vor euren Enkeln):
"Ich weiß jetzt, was sich hinter diesen Zügen verbirgt. Desillusion, Narzismus und Eisamkeit. Ein schwerkranker Mensch mit Wahnvorstellungen, die ihn für alle, die ihm nahekamen, gefährlich machten (Seite 269)."
Wie kommt Alex Schulman zu dieser vernichtenden Auffassung? Auf Seite 289 nimmt diese Sichtweise das Ausmaß eines generationenübergreifenden düsteren Damoklesschwertes an:
"Sven Stolpe war die Wurzel des Dunklen in der Familie, aber mit seinem Tod war der Fluch nicht gebrochen, das Gift lebte weiter. Es brach keine neue Zeit des Verständnisses und der Versöhnung an."
Was meint Schulman mit diesem apokalyptischen daherkommenden Menetekel?
Sven Stolpe wollte seine Frau, Karin Stolpe, mitreißen in einen erweiterten Suizid. Der Ehebruch seiner Frau - die Entdeckung des sexuellen Attentats auf ihn - trifft auf sein Trauma des Vaterverlusts. Die Verantwortung für diesen Vaterverlust schreibt Sven Stolpe jener Hure zu, die ihm und seiner Mutter den Vater/den Ehemann genommen hat - V E R R A T!!! Alex Schulman leistet Detektivarbeit. Er beginnt mit der Lektüre der Romane seines Großvaters. Ich zitiere bewusst eine lange Passage, um den Erkenntnisprozess, der AS schockiert spürbar zu machen:
"Wenn ich mich jetzt also an Stolpes Romane mache, werden es keine drei Bücher pro Tag. Es geht zäh voran, zumindest anfangs, als ich noch nicht weiß, wonach ich eigentlich suche. Aber nach dem fünften oder sechsten Buch bin ich gefangen von einer Entdeckung, die mir keine Ruhe lässt: Er schreibt immer über dasselbe Thema. Die Personen wechseln, die Umgebung ändert sich, Jahrzehnte vergehen, aber er erzählt dieselbe Geschichte, jedes Mal. Ich verstehe das nicht. All diese Leute, die sich wissenschaftlich mit Sven Stolpes Literatur beschäftigen - warum hat das nieman von ihnen bemerkt?
Ich lese Welt ohne Gnade. Der Protagonist Wilhelm Canitz versucht, als guter Christ mit der Untreue seine Frau umzugehen, geht dabei jedoch unter. Mittsommernacht - Amtsgerichtsdirektor Rutger Leopold ist in der Ehe betrogen worden. Für Leopold wird dieser Verrat zum entscheidenden Ereignis seines Lebens. Spiel in den Kulissen - das Leben des politischen Journalisten Hans Graber zerbricht, als er feststellt, dass seine Frau ihn mit Premierminister Herbert Falk betrügt. Sakrament - der berühmte Schauspieler Erik Leopold stellt fest, dass seine Frau ihm untreu ist, lässt sich scheiden und lebt fortan ein Leben in Dunkelheit. Feige, Döbeln, Frau Birgitta lächelt, Madame Sallerin, Kupferschmid Alexander, Eisenbrüder - sämtliche Romane kreisen um dasselbe Thema. Sven Stolpes literarisches Werk ist eine pulsierende, offene Wunde. Er scheint wie besessen davon, Frauen zu gestalten, die ihre treuen Männer betrügen. Die Grundeinstellung ist immer christlich, die Ehe ist heilig, trotz Krisen trennt man sich nicht. Aber der Rest des Lebens verläuft niemals glücklich.
Da ist ein Pathos, das mit jedem Buch, das ich lese, wächst. Sven Stolpe benennt niemals, was ihm in jenem Sommer zugestoßen ist. Er trägt den Schmerz allein, sein Leben lang. Es waren seine Bücher, in denen er um Hilfe rief, als ob er in einem nach dem anderen brüllte: Ich gehe unter! Es war seine Art, das Trauma zu verarbeiten, er versuchte, sich davon zu befreien, indem er darüber schrieb. Es misslang ihm immer wieder - und er versuchte es in jedem Buch aufs Neue. Deshalb sind seine Werke die Wiederholung ein und desselben Ereignisses, des sexuellen Attentats, dem Sven Stolpe im Sommer 1932 ausgesetzt wurde [...]
Ich setze mich an einen freien Fenstertisch und nehme das Buch heraus, das ich gerade beginnen will, den letzten Roman, den ich noch lesen muss. Leicht, schnell und zart aus dem Jahr 1947. Es ist ein großartiger Titel. Ich werde sofort in die Handlung reingezogen. Der Protagonist Edvard Kansdorf findet einen Brief, den seine Frau einem anderen Mann geschrieben hat. Ihm geht auf, dass sie ihn betrügt. Damit beginnt für den jungen Mann eine Höllenfahrt. Je weiter ich lese, desto schrecklicher wird sein Leben. Am Ende des Buches sucht er den Liebhaber seiner Frau auf und stellt ihn zur Rede. Und dann geht der Protagonist unter.
Wieder dasselbe Thema: die Untreue der Frau gegenüber ihrem Mann. Mir kommt eine unangehnemer Gedanke, der mir keine Ruhe lassen will. All diese Variationen liederlicher, treuloser Frauen, Roman für Roman. Ist es meine Großmutter, über die er da schreibt?
Ja, es ist Karin Stolpe, seine Großmutter!
Hier: Teil V