Herbstimpressionen zum 3. Oktober
Der 3. Oktober – vor mehr als fünfzig Jahren leitete das erste Oktoberwochenende für viele Jahre in der Jugend und im jungen Erwachsenenleben die hohe Zeit des Jahres ein: Kirmes. Vorfreude und Freude auf dieses Fest, das auch im Zeichen des Erntedanks stand. Durch Rainer Maria Rilke schreibt sich die Bitte – vielleicht die Sehnsucht –, der Herr möge seinen Schatten auf die Sonnenuhren legen und zuweilen auf den Fluren die Winde loslassen: „Befehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein.“
Nicht erst seit 2022 legen sich die düsteren Schatten nicht enden wollender Sommer auf die einstmals gemäßigte Klimazone Mitteleuropas; südlichere Tage mögen manche herbeisehnen, weil sie glücklich(er) sind, da wir mehr und mehr Elemente mediterranen Klimas gewärtigen müssen. Meine Sehnsucht ist eine andere; und ich bin glücklich, dass ich den Regenmacher zur Seite legen kann und dass es endlich wieder einmal nachhaltig regnet.
Auch haben wir unser Haus gebaut und sind nicht allein. Doch wachen wir und lesen, schreiben lange Briefe. Und wir wandern in den Alleen unruhig hin und her – viele (Junge) regelmäßig immer wieder freitags. Es treiben nicht die Blätter (allein). Wir treiben in der Zeitenwende und reiben uns die Augen:
Die Kirchweih – bei uns schlicht Kirmes genannt – steht in einem engen Zusammenhang mit dem Erntedank: Wenn das Jahr im letzten Viertel angekommen ist, der Sommer gut war und die Ernte eingefahren, wird in unserem Kulturkreis erst einmal gefeiert. Nach dem Erntedank kommt Kirchweih, ein fröhliches Fest, verbunden mit gutem Essen, Trinken und Tanz. Kathrein stellt uns den Tanz ein. Die ruhige Zeit, die besinnliche, beginnt mit Allerheiligen. Erinnerungen werden wach, man schaut zurück ins vergangene Jahr. Die Zeit des Geschichtenerzählens beginnt. So kann man es in einer Beschreibung des Dachauer Forums lesen. In meinem 71sten Lebensjahr verdichten sich die Kindheitserfahrungen mit den von mir still für mich gepflegten Traditionen, indem ich durch Feld und Flur gehe und danach schaue, ob der Sommer gut war. Nun staune ich, weil der Sommer schlicht elend trocken, zu heiß – schier unerträglich lang erschien. Wie tief mögen Pflaumen- und Nussbäume wohl wurzeln? Ich finde den Hinweis: Der Pflaumenbaum besitzt eine Hauptwurzel bis tief in den Erdboden hinein. In den obersten Schichten befinden kleinere Wurzeln. Das Volumen des Wurzelballens ist ähnlich groß, wie die Baumkrone – ähnlich bei Walnussbäumen: hinsichtlich der Breite und auch im Boden beanspruchen Walnussbäume ihren Platz. Sie zählen zu den Tiefwurzlern. Deshalb gedeihen sie am besten in tiefgründigem Boden, der ein starkes Wachstum der Pfahlwurzel zulässt. Sie ist ungewöhnlich stark und wächst rübenartig verdickt. Von dieser Hauptwurzel gehen die Seitenwurzeln ab, die sich wiederum teilen. Auch in diesem extrem trockenen Sommer haben die Wurzeln Wasser gefunden.
Pflaumenbäume und Nussbäume finden sich in meiner Gemarkung zu Hauf. Und ich staune, welche Fülle, welche Pracht ihre Ernte verspricht. Nur werden sie zu großen Anteilen nicht geerntet und verrotten stattdessen zu Hauf. Ihre Vermarktung lohnt sich bei den Preisniveaus offenkundig nicht. Es mangelt schlicht an Erntehelfern. In der mir unmittelbar zugänglichen Gemarkung mögen sich vor allem Unmengen verfaulender Früchte nur in Zentnern bemessen lassen; im ganzen Land mögen es tausende von Tonnen sein, die keine Chance haben in den Kreislauf unserer Ernährung einzugehen. Ein solcher Befund wäre vor 70 Jahren – in meinem Geburtsjahr – unvorstellbar gewesen. Das gewissenhafte, akribische Sammeln von Fallobst, das Abgehen der Kartoffelfelder gehörte zu den frühesten Erfahrungen, die sich in meinem Langzeitgedächtnis, aber offenkundig auch in meinem Habitus tief verankert haben.
Aber ich bin ja auch geboren worden etwas weniger als sieben Jahre nach dem Tag, den ein deutscher Bundespräsident am 8. Mai 1985 erstmals vor allen Westdeutschen als Tag der Befreiung in Erinnerung rief – eine Befreiung, die Millionen von Zivilisten und Soldaten, denen Deutschland den Krieg aufgezwungen hatte, das Leben gekostet hat. Manch einer von uns in den 50er Jahren Geborenen erreicht heute – und immer noch – eine Spätscham, wenn wir begreifen, dass wir mehr als siebzig Jahre in Frieden, Freiheit und Wohlstand leben durften. Dass sich hier eine starke pazifistische Haltung bei vielen ausbilden konnte, wer mag dies kritisieren? Gleichwohl kann auch Ihnen nicht verborgen bleiben, wie dieser freiheitliche Rahmen begründet worden ist, in dem jeder seiner Facon nach glücklich werden darf – Millionen lassen tiefe Bewegung zu, wenn sie Marius Müller-Westernhagens Freiheit intonieren.
Auf meiner Wanderung durch die regennasse Flur mit mehr und mehr gefülltem Rucksack kam mir der Gedanke, dass andere Völker auch heute noch (und wieder) kämpfen müssen um das, was uns geschenkt worden ist. Das Verteidigungsbündnis, in dem wir uns wechselseitigen Schutz versprechen, steht für eine defensive Grundhaltung – nie in ihrer Geschichte hat dieses Bündnis selbst einen Krieg vom Zaun gebrochen.
Einen guten Freund habe ich einmal gefragt, ob er meine (unsere) Hilfe erwarte, wenn eines Tages unverhofft jemand seine Haustüre aufbreche und ihn auffordere umgehend seine Wohnung zu verlassen – sie gehöre jetzt ihm. Er könne zu seinen Bedingungen in einer Kammer sein Leben weiter fristen. Mir kam der Gedanke, wie selbstverständlich wir in einem Rechtsstaat Widerstand gegen eine solch willkürliche, dem Recht des Stärkeren geschuldete Vorgehensweise mobilisieren würden (ja ich weiß, dass es sehr wohl subtilere Formen der Gewalt auch in unserem Gemeinwesen – so z.B. der Gentrifizierung – gibt!). Gibt mir dann jemand zu bedenken, mit dem Rechtsstaat sei es eben auch bei uns nicht allzu weit her, dann gräme ich mich wegen eines schwindenden Differenzierungsvermögens bei vielen Deutschen; Deutsche, vor allem viele Deutsche, die mehrheitlich der ehemaligen DDR den Rücken gekehrt und nicht nur Reisefreiheit im Sinn gehabt haben.
Wir lebten auch vor dem 24. Februar 2022 nicht in der besten aller Welten; aber in der besten Welt, die wir Deutsche je kennengelernt haben; einer Welt in der Gleichschaltung (und auch Selbstgleichschaltung) keine Chance haben und auch keinen Widerhall erzeugen (mit Ausnahme derer, die ihr Denken im Sinne von Verschwörungstheorien einer Gehirnwäsche unterziehen).
Am 3. Oktober 2022 will ich nicht feiern, sondern mich besinnen. Ich will eintreten dafür, dass meine Kinder und Enkelkinder in Freiheit leben dürfen, wie ich es durfte und darf; allerdings in einer Welt die mehr und mehr gefährdet ist durch unseren Egozentrismus und unsere Selbstsucht. Putins Zivilisationsbruch möge uns dazu befähigen, dies zu erkennen. Sorgen wir dafür, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder noch in einer freien Welt leben dürfen, die nicht durch unseren sozialen und ökologischen Vandalismus zugrunde gerichtet wird.