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Der Überfall Russlands auf die Ukraine - Parallelen zum Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion

(für meinen Freund Herbert)

Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette traten 1984 als Herausgeber mit einem Buch an die Öffentlichkeit, das unter dem Titel Unternehmen Barbarossa den deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 dokumentierte und analysierte. In einer erweiterten Neuausgabe von 2011 findet sich auch die Vorbemerkung zu einer 1990 erschienenen Taschenbuchausgabe. Höchst aufschlussreich - mit Blick auf den derzeitigen Diskurs zum Überfall Russlands auf die Ukraine - finden sich folgende Bemerkungen, die ich hier auch zu einem besseren Verständnis meines Dialogs zwischen Franz und Jurij - mit kurzen eigenen Kommentaren versehen - wiedergebe:

Einleitend halten Ueberschär und Wette fest: „Bei dem deutsch-sowjetischen Krieg handelte es sich um den größten Gewaltexzeß in der modernen Menschheitsgeschichte, in dem insgesamt mehr als dreißig Millionen Menschen getötet wurden. Dieser Krieg schuf zugleich die Voraussetzungen für die Vernichtung des europäischen Judentums (S.8).“ Vor dreißig Jahren – so kann man heute rückblickend feststellen – wurde auch der sogenannte Historikerstreit ein für alle Mal entschieden:

„Im Zusammenhang mit dem sogenannten Historikerstreit von 1985 bis 1987 wurde wieder einmal der Versuch unternommen, den Beginn dieses Krieges mit der ‚Präventivkriegsthese‘ zu erklären: Hitler habe zwar angegriffen; er sei damit jedoch Stalin, der ebenfalls Angriffsabsichten verfolgt habe, nur zuvorgekommen. Diese – im Fahrwasser der zeitgenössischen NS-Propaganda segelnde und den wahren Tatbestand verschleiernde – Behauptung wurde im Laufe der öffentlichen Debatte erneut und, sofern Argumente zählen, erfolgreich zurückgewiesen. Es bleibt dabei: Der 22. Juni 1941 steht für den klassischen Fall eines Angriffskrieges, durchgeführt von der Wehrmacht der Deutschen Reiches auf Befehl ihres ‚Führers‘ und Oberbefehlshabers Adolf Hitler (S.9).“

Interessant sind nun die einleitenden Bemerkungen Ueberschärs und Wettes aus dem zeitgeschichtlichen Blickwinkel von 1990:

„Ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges im Jahr 1941 ist vieles in Bewegung geraten, was als Folge dieses Krieges jahrzehntelang Gültigkeit hatte. In den osteuropäischen Ländern finden revolutionäre Veränderungen statt. Die beiden deutschen Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden waren, sind zur staatlichen Einheit zusammengewachsen. Diese und andere Vorgänge lassen Politiker vom ‚Ende der Nachkriegszeit‘ sprechen. Gleichzeitig werden jedoch in nicht wenigen europäischen Ländern historische Erinnerungen an den deutschen Nationalstaat und dessen Machtpolitik wach. Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass auch unter den sich verändernden Bedingungen des Zusammenlebens in Europa ein ‚Schlussstrich‘ unter die Geschichte nicht gezogen werden kann (S.9).“

Uebeschär und Wette erzählen im Folgenden eine Episode, die verdeutlichen soll, inwieweit der deutsch-sowjetische Krieg von 1941 bis 1945 für uns auch heute noch eine Bedeutung hat. Dabei geht es vor allem auch um das von Ueberschär und Wette beobachtete „Abschmelzen traditionsreicher Feindbilder“. Dazu passt im Übrigen die historische Rede Wladimir Putins vor dem Deutschen Bundestag 2001, in deren Verlauf er laut Wortprotokoll sagt: „Heute müssen wir mit Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei.“ Zu der von Ueberschär und Wette bemerkten Episode:

„Ein junger sowjetischer Journalist besuchte im Jahre 1990 die Bundesrepublik Deutschland. Er war Gast bei einer Gebirgsjägereinheit der Bundeswehr, der erste russische Gast übrigens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er sprach mit jungen wehrpflichtigen Soldaten, die ihm die Frage vorlegten: ‚Warum haben die Russen eine so starke konventionelle Armee?‘ Die Antwort des Redakteurs von Radio Kiev lautete bezeichnenderweise: ‚Die meisten Politiker in der Sowjetunion gehörten bis vor kurzem zu denen, die den Schock vom unerwarteten Überfall Hitlers noch erlebt haben. Die Angst, dass sich das wiederholen kann, saß tief in ihrer Seele (S.9).“

Ueberschär und Wette deuten dies als logisches Sicherheitstrauma, das bei der politischen und militärischen Führung der Sowjetunion wie auch bei der sowjetischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet sei und das sich möglicherweise erst jetzt allmählich zu lösen beginne.

So mag es denn auch nicht verwundern, dass Ueberschär und Wette (1990) davon ausgehen, dass wir vermutlich Zeugen einer fundamental neuen Entwicklung seien, die aus den Gewalttaten der Vergangenheit und dem Vorhandensein moderner Massenvernichtungswaffen gleichermaßen die einzige angemessene Konsequenz zöge:

Wir stehen am Beginn eines tiefgreifenden Wertewandels  und der Gestaltung einer Ost und West übergreifenden Friedensordnung (S. 9).“

Mit größter Bestürzung lese ich nun die abschließende Vorbemerkung Ueberschärs und Wettes, da wir auf dramatische Weise eines Besseren - pardon eines Schlechtern - belehrt werden:

„Die Grundaussagen dieser Beiträge (in der vorliegenden Publikation, Verf.) sind in den letzten Jahren in mannigfacher Weise bestätigt worden. Je weiter die Forschung voranschreitet, desto deutlicher wird zumal das Ausmaß, in dem sich die deutsche Wehrmacht an diesem Vernichtungskrieg beteiligte. Viele Menschen wollen davon nichts wissen. Aber das Leugnen oder Verdrängen dieser historischen Schuld führt uns nicht weiter, sondern nur die genaue Kenntnis des schrecklichen Geschehens und der Mut zur Wahrheit. Die Gestaltung des künftigen Friedens zwischen Deutschen und Russen und damit die endgültige Überwindung früherer Feindverhältnisse kann dauerhaft nur gelingen auf der Basis exakter historischer Erinnerung an jene Zeiten, in denen Gewalt und Inhumanität Exzesse feierten (S. 10).“

Gewalt und Inhumanität feiern Exzesseseit dem 24. Februar 2022 - seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine (fast 81 Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die damalige Sowjetunion). Die Parallelen sind unübersehbar. Es handelt sich um den klassischen Fall eines Angriffskrieges! Nicht nur Putin selbst leugnete bis zuletzt seine Absichten einer militärischen Sonderoperation in der Ukraine. Er verschleierte und leugnete seine Kriegsabsichten. Sarah Wagenknecht – Putinversteherin – trat mit breiter Brust bei Anne Will für ihre Überzeugung ein, dass Russland niemals die Absicht habe, die Ukraine militärisch zu attackieren (ab 8:46!!!).

Skrupellos und dilettantisch zugleich zeigt sich vor der Weltöffentlichkeit das ganze verbrecherische Ausmaß des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Politische Lehren aus dem Weltenbrand mit dem katastrophal gescheiterten Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion wurden vor allem auch von Seiten der sowjetischen bzw. der russischen Führung nicht gezogen. Nicht einmal militärisch waren und sind die Generalstäbler der russischen Armee in der Lage, Lehren aus dem deutschen Desaster zu ziehen. Deutsche trugen ihren verbrecherischen Krieg fast vier Jahre lang auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion aus. Die russische Armee steht bereits nach knapp sechs Wochen mit dem Rücken zur Wand. Sie ist nicht in der Lage ihre Absichten strategisch und taktisch umzusetzen, sieht sich mit gravierenden logistischen Defiziten konfrontiert; ihre Soldaten sehen sich gezwungen zu plündern und zu brandschatzen. Sie hinterlässt ein klägiches, erbärmliches Bild. Sie kann ihren Terror nur mit ihrer Luftwaffe, ihren Raketenwerfern und schwerstem Gerät in die Ukraine hinein tragen. Der ehemalige Angehörige der 9. PzDiv der deutschen Wehrmacht Franz (siehe oben) hat dem armen - im Alter von 23 Jahren geopferten Jurij - drastisch vor Augen geführt, woran er und seine Kameraden scheitern. Die Arschkriecher um Putin herum könnten ihm genau diese Lektion vermitteln, dann würde er die Kampfhandlungen sekündlich wegen ihrer Aussichtslosigkeit einstellen. Für seine militärische Sonderoperation hat er nicht die geringste moralische oder politische Legitimation. Genau diese fundmentale Erkenntnis spiegelt sich in der gebrochenen Moral seiner Soldaten wider. Sie wissen, dass sie von einem gewissenlosen Despoten verheizt werden - wie weiland die deutsche Jugend vor Moskau, in Stalingrad, in der Ukraine und auf allen anderen Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund