Heute einmal etwas ganz anderes - mit Max Frisch
Der Januar neigt sich dem Ende zu - mein siebzigster Geburtstag nähert sich mit Riesenschritten; ein wenig mehr noch als 21 Tage bis zum 21. Februar. Heute morgen anregend bis verstörend wirkende Klolektüre (habe die Idee, im Rezeptionsverhalten so etwas zu begründen wie die Klo-lectures). Mir fällt halt immer wieder auf, wie blitzartig solch kleine apercus Fenster für einen Weitblick öffnen. So heute morgen - mir fällt noch einmal der Klappentext ins Auge: "Im August 2009 meldeten die Feuilletons eine Sensation: In einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teil des Max-Frisch-Archivs in Zürich war das Typoskript eines bisher unbekannten Werks des Schweizer Autors gefunden worden: 184 Seiten, von Frisch auf Tonband diktiert, von seiner Sekretärin in die Maschine getippt. Der Autor selbst hatte auf der Titelseite notiert: 'Tagebuch 3. Ab Frühjahr 1982'." Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Zürich, starb dort am 4. April 1991) hatte also eben erst seinen 71. Geburtstag hinter sich.
Er schreibt auf Seite 151: "Natürlich werden wir einmal senil. Früher oder später. Es ist nur die Frage, ob ich es bemerke, bevor man es mir zu sagen hat, und was tue ich dann? Vor sieben Jahren in der Bar des Gramercy Park Hotels: eine Besoffene quatschte jedermann an, ich wartete auf Marianne und Inger und Mark. Die Besoffene, etwa fünfzigjährig, wurde vor die Tür geschickt. Als wir später, zwei Paare also, auf die Straße traten, stand die Besoffene noch immer da und grölte ohne Zuhörerschaft herum, wir versuchten ihr auszuweichen, aber vergeblich. LOOK AT THIS OLD DIRTY MAN WITH THE TWO YOUNG GIRLS, THIS OLD DIRTY CRACKY MAN! Ich war nicht bloß im Augenblick verschreckt, Mark stoppte sie mit einem unflätigen Slang-Wort, ich blieb noch eine Weile betroffen, Marianne fand den Vorfall durchaus verständlich: eine besoffene Person spricht eben aus, was sie sieht."
Information zum Kontext (auch Klappentxt): "Max Frisch lebte zu dieser Zeit in New York, zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Alice Locke-Carey, bekannt als 'Lynn' aus der Erzählung Montauk. Ihr ist dieses 'Tagebuch 3' gewidmet, und vermutlich fällt das abrupte Ende der Aufzeichnungen mit der Trennung von der Amerikanerin im Frühjahr 1983 zusammen."
Auf Seite 152 ist weiter zu lesen: "Mein Wohlgefallen an dieser Frau, auch wenn sie ab und zu die Grazie verliert und ihre Geduld mit mir, meine Geduld aus Verständnis dafür, dass es schwer ist für sie, zum Beispiel wenn am Strand die jungen Männer gehen, meine gelassene Zuneigung auch dann, wenn ich meinerseits das ein oder andere vermisse, wenn ich als Europäer befremdet bin, wenn sie Tolstoi nur aus einem Film kennt und Shakespeare kaum und wenn Fragen, die mich bewegen, ihr im Grunde gleichgültig sind, so dass es nicht zum Gespräch kommt - dieses fast bedingungslose Wohlgefallen (Dankbarkeit für ihre Gegenwart) ist ein Zeichen fortgeschrittener Senilität."
Wie angemerkt, werde ich in Kürze siebzig. In meinem weiteren Bekanntenkreis gibt es alte Männer mit jungen bzw. jüngeren Frauen; es gibt eine Mehrzahl von Paaren im gemeinhin tolerierten Altersabstand, zu dessen Bemessung man nicht mehr als die Finger an einer Hand benötigt; es gibt Singles jeden Alters - und es gibt mich, den nach wie vor (mörderischen) Beobachter (seiner selbst und seines Umfeldes). Man tritt anderen auch schon zu nahe, wenn man sich selbst ein wenig die Blöße gibt (dazu gibt es nichts Aufschlussreicheres als den Beitrag Peter Sloterdijks zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen: Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen). Wenn ich selbst meine Dankbarkeit für meinen kontingenzgeschwängerten Lebensweg (da - was die mächtige Rolle des Zufalls, der Kontingenz angeht - unterscheide ich mich nicht wirklich von anderen) bekenne (mit diesem radkikalen Bekenntnis einer tiefempfundenen Dankbarkeit mag ich möglicherweise eine abweichende Sichtweise vertreten), dann überzeugt mich - ohne dass ich mich selbst entblößen muss - wie Max Frisch die Hosen herunter lässt und dabei nicht einmal mehr ein Feigenblatt in Reichweite sieht. Montauk ist erstmals 1975 erschienen (in Tagebuch 3 klingt dies alles nach - bis zu dem Aus- und Hilferuf auf Seite 137: "ich bin alt, ich bin alt." Da war Max Frisch 72 Jahre alt - möglicherweise hängt diese Klage zusammen mit dem Umstand, das Leben mit einer 30 Jahre jüngeren Frau zu teilen).
Mit Odo Marquardt bin ich der Auffassung, dass wir allesamt weit mehr unsere Zufälle als unsere Wahl sind. Die Reichweite dieser Annahme wird uns allen bewusst, wenn wir versuchen, unser eigenes Leben einmal unter dem Gesichtspunkt von Planung und Lenkung zu erzählen. Allein unter dieser Maßgabe mag es verwundern und verblüffen, wenn einer der Großen der Weltliteratur – eben jener Max Frisch – mit über sechzig Jahren seine poetische Lebensbilanz in Form einer Selbstbefragung: Liebe, Eifersucht, Schuld, Altern… mit folgender Einleitung aus Michel Montaignes Essais versieht:
„Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser, es warnt Dich schon beim Eintritt, dass ich mir darin kein anderes Ende vorgesetzt habe als ein häusliches und privates… Ich habe es dem persönlichen Gebrauch meiner Freunde und Angehörigen gewidmet, auf dass sie, wenn sie mich verloren haben, darin einige Züge meiner Lebensart und meiner Gemütsverfassung wiederfinden… Denn ich bin es, den ich darstelle. Meine Fehler wird man hier finden, so wie sie sind, und mein unbefangenes Wesen, so weit es nur die öffentliche Schicklichkeit erlaubt… So bin ich selber, Leser, der einzige Inhalt meines Buches; es ist nicht billig, dass Du Deine Muße auf einen so eitlen und geringfügigen Gegenstand verwendest. / Mit Gott denn, zu Montaigne, am ersten März 1580.“
Montauk – im Klappentext lesen wir:
„Montauk – das ist der indianische Name der Spitze von Long Island. In dieser Abgeschiedenheit verbringt der Erzähler (mit großer autobiografischer Nähe zu Max Frisch) ein Wochenende mit Lynn, einer dreißig Jahre jüngeren Amerikanerin, die er auf einer Lesereise in New York kennengelernt hat. Die Episode dieser Altersliebe wird zum Anlass, vergangene Erfahrungen und verdrängte Gefühle assoziativ Revue passieren zu lassen.“
Ich stelle Max Frisch nur kurz die Frage, ob er sein Leben so geplant hat und ob er je die Idee hatte, etwas davon zu revidieren (2017, 26 Jahre nach dem Tod Max Frischs lässt Volker Schlöndorff Nina Hoss die Hauptrolle in Montauk interpretieren). Max Frisch selbst gibt interessante Antworten: Das Triviale zuerst: Auf Seite 103 der Spiegel-Edition von Montauk (2006/2007) bemerkt der Max-Frisch-Erzähler lakonisch:
„Sein Körper lässt ihn empfinden, dass er im Augenblick da ist. Manchmal fragt er sich beiläufig, was er mit seinen Jahrzehnten eigentlich gemacht hat.“ Was hat er gemacht?
Unter den vielen Vermerken mit der Selbstvergewisserung „My Life as a man“ (Philipp Roth entlehnt, der ihm – Max Frisch – die Erstausgabe in New York by the way überreicht) steht auf Seite 88: „Wenn ich zufällig in einem Konzert-Foyer zum Beispiel, die Mutter meiner Kinder sehe: ihr Gesicht, scheu mit einem Zug von Harm, der schon immer gewesen ist, ein gutes Gesicht, in den späten Jahren sogar offener, aber für immer ein Gesicht voll betroffener Unschuld – bin ich betroffen; ich sehe sie mit Hochachtung und verwundert, dass ich der Vater ihrer drei Kinder geworden bin.“
Max Frisch widmet seinem Schulfreund W. gut 15 Seiten (S. 25- 40) der Referenz mit ernüchterndem Resümee: Er erinnert sich, jenen Freund W. vor Jahren in Zürich zufällig auf der Straße (Limmatquai) von weitem gesehen zu haben. Ob er ihn – Max Frisch – ebenfalls gesehen hat, bleibt offen. Jedenfalls unternimmt Max keine Anstrengungen, jenen Freund zu erreichen, ihm überhaupt zu begegnen. Denn – fragt er sich: „Was soll W. mit meiner lebenslänglichen Dankesschuld?“ Wir erfahren im Verlauf seiner Erinnerungen, dass jener Freund W. – aus reichem Hause – ihm sein ganzes Studium bezahlt hatte:
„Später hat W. mir ein ganzes Studium bezahlt: 16 000 Franken (was damals mehr wert war als heuer) für vier Jahre; also 4000 Franken im Jahr.“ Zehn Seiten später (S. 40) kommt Max zu der Schlussfolgerung: „Die Summe, die mir seinerzeit ein Studium ermöglicht hat, habe ich nie zurückerstattet; es hätte ihn verletzen müssen, denke ich, es hätte seine Generosität sozusagen annulliert. Als ich W. neulich in Zürich erkannt habe, bin ich betroffen gewesen: Bewusstsein von Dankbarkeit, kein Gefühl. Ich habe ihm auch nicht geschrieben, dass ich ihn auf der Straße erkannt habe. Heute interessiert es mich nicht einmal mehr, was W. über unsere lange Geschichte denkt. Das vor allem macht mich betroffen. Ich meine, dass die Freundschaft mit W. für mich ein fundamentales Unheil gewesen ist und dass W. nichts dafür kann. Hätte ich mich ihm weniger unterworfen, es wäre ergiebiger gewesen, auch für ihn.“
Hier zwingt sich mit Fulbert Steffensky die Einsicht auf, dass der Mensch ist, weil er sich im wesentlichen verdankt - oftmals und immer wieder! Manchmal reicht allein diese Einsicht – aber in der Regel nicht ohne die handelnde, bekennende Konsequenz aus dieser Einsicht abzuleiten! Sonst droht Unheil!
Denn der Mensch ist, weil er sich verdankt. Solche Einsichten begleiten die intime Selbsterforschung Max Frischs fortwährend, ohne dass man auch nur annähernd den Eindruck gewinnt, dass er aus seinen Einsichten Konsequenzen zieht. So gerät er nicht nur zu einer armen, sondern geradezu zu einer armseligen Seele - (S.160):
„Ich bin jetzt älter geworden als mein Vater und weiß, dass die durchschnittliche Lebenserwartung demnächst erreicht ist. Ich will nicht sehr alt werden. Meistens bin ich mit jüngeren Leuten zusammen; in sehe den Unterschied in allem, auch wo sie vielleicht keinen Unterschied sehen können, und manches lässt sich nicht erklären; dann rede ich auch von Arbeitsplänen. Unter anderem weiß ich, dass es sich verbietet, eine jüngeren Frau an diese meine Zukunft binden zu wollen.“
Ja, diese Einsicht, dass es sich verbietet, eine erheblich jüngere Frau an die eigene Zukunft binden zu wollen, ist und bleibt ein Männerding. Aber auch dazu gehören letztlich immer zwei.
Es gibt einen weiteren Protagonisten, den ich über die Maßen schätze, und der vor allem aus ähnlichen Erfahrungen, wie sie uns Max Frisch hier offenbart, andere Schlüsse zieht. Man kann es bei Karl Otto Hondrich, dem Andernacher Jungen und Soziologen von Weltruf, nachlesen.
Ob solche Einsichten Max Frischs Lebensweg beeinflusst hätten? Nicht nur den armseligen Vater Max Frisch:
„Wenn ich zufällig in einem Konzert-Foyer zum Beispiel, die Mutter meiner Kinder sehe: ihr Gesicht, scheu mit einem Zug von Harm, der schon immer gewesen ist, ein gutes Gesicht, in den späten Jahren sogar offener, aber für immer ein Gesicht voll betroffener Unschuld – bin ich betroffen; ich sehe sie mit Hochachtung und verwundert, dass ich der Vater ihrer drei Kinder geworden bin.“
Nein, auch dem Liebhaber Max Frisch ist man geneigt die Frage zu stellen: War es das alles wert? Der letzte Nachmittag mit Lynn – in Montauk – klingt mit folgenden Sätzen aus (S. 162):
„Wir mussten jetzt nur noch den genauen Ort finden, wo man sich trennt, und auf den Verkehr achten; wir nahmen uns an der Hand, als wir die Avenue zu überqueren hatten, und liefen. FIRST AVE / 46TH STREET, das war der Punkt offenkundig, wir sagten: By, kusslos, dann ein zweites Mal mit erhobener Hand: HI. Nach einigen Schritten ging ich an die Ecke zurück, sah sie, ihre gehende Gestalt; sie drehte sich nicht um, sie blieb stehen, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Straße überqueren konnte.“
Wer möchte denn da mit Max Frisch tauschen? Ich jedenfalls nicht - um kein Geld und keinen Ruhm in der Welt.