(M)Ein Adventskalender (16) heute öffnen wir das sechszehnte Türchen/Fensterchen
Dies ist ein kleiner Vorabdruck, mit dem wir schon einen Blick wagen aus dem 24. und damit letzten Fensterchen meines Adventskalenders. Viel Kontext habe ich gestrichen, um wenigsten anzudeuten, wie unbefangen und unbeschwert unser Weihnachtserleben in der Kindheit war. Aus meinen Kindheitserinnerungen ragt ein Heiliger Abend mit großer Strahlkraft heraus, weil er mir ganz und gar besonders und einzigartig vorkommt, nicht zuletzt, weil er uns die immer heiß ersehnte weiße Weihnacht bescherte. Es muss eine Weihnacht Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, vermutlich noch bevor mein Vater sich das erste eigene Auto - immerhin ein Mercedes 180 mit Weißbandreifen - leistete. Denn er zog mit uns - mit meinen Bruder Willi, meiner Cousine Gaby und natürlich mit mir - in der Dämmerung los - auf die andere Seite der Ahr, wo hoch über Bad Neuenahr ein Bergfriedhof Heimstatt bot für die, die schon gegangen waren. Kleinen Zwergen gleich zogen wir frische Spuren durch den Neuschnee und fühlten uns wohlbehütet, geborgen in der Aufmerksamkeit und Fürsorge der Erwachsenen.
Wie auf einer Postkarte kommt mir dieser Spaziergang durch die verschneite Winterwelt vor, erfüllt von einer eigentümlichen Spannung. Den Heiligen Abend und die Bescherung vor Augen wanderten wir durch die schneeerfüllte Luft hinein in die Dämmerung; hinein ins Dunkel, in die Friedhofsruhe – immer in der beruhigenden Gewissheit, dort ein wenig zu verweilen, das Leben zu fühlen, innerlich jauchzend schon in der Vorfreude auf das, was uns erwartete; in der Gewissheit, dass wir zurückkehren würden in die warme, strahlende Stube, wo das Christkind noch am Werk war, und wo sich alles nur um uns drehen würde.
Während ich so phantasiere, spüre ich wieder die Kälte, eingemummelt in warme Kleider und sehe vor mir das weihnachtliche Motiv einer weißen Friedhofslandschaft. Wir stehen am Grab meiner Großeltern. Unser warmer Atem malt helle Schleier in die kühle Schneeluft. Mein Vater zündet eine Kerze an; auf fast allen Gräbern flackern die schwachen, zarten Lichter der Erinnerung. Und so oft ich später an sein Grab kam, jemand war schon vor mir da. Auf jenem Grab, in dem auch seine Eltern begraben sind, brannte eine Kerze für ihn. Nur fünf Meter und eine Gräberreihe trennen ihn heute von seinem Sohn, Willi (meinem jüngeren Bruder), und Gabys Vater liegt zwei Gräberreihen entfernt, alle ganz nahe beieinander. Und 2003 bzw. 2004 haben dort, im großelterlichen Grab mütterlicherseits meine Mutter und meine Tante, Gabys Mutter, ihre letzte Ruhe gefunden. Von meiner Herkunftsfamilie leben nur noch meine Schwester und ich – und meine Cousine Gaby gehört wie eh und je dazu. So sind wir heute in der Unterzahl und es gibt nicht mehr so viele, die eine Kerze entzünden.
Aber damals an diesem Heiligen Abend wird uns der Rückweg zum Fest. Es hat wieder zu schneien begonnen mit dicken und doch so leicht daher schwebenden Flocken: Die menschenleeren Straßen und die Parks vermitteln eine behagliche Ruhe, alles geschäftige Leben ist erstorben und weicht einer weihevollen Stille. Doch in uns brennt die Fackel erblühenden Lebens. Im schwachen Licht der Straßenlaternen tänzeln und glitzern die feinen Schneekristalle wie pulverisiertes Lametta. Der Schnee hüllt Dächer und Straßen, Bäume und Plätze in ein festliches Weiß. Alles deckt er zu und weckt in mir eine Art beharrlichen Gleichmuts, der mich wie ein basso continuo in meinem Leben immer wieder besänftigen und ermuntern wird. Jeder Schritt im weichen, frischen Schnee führte uns damals hinein in ein Leben, das uns an diesem Tag herrlich und endlos erschien. Wir gehören zusammen, fühlen uns verbunden, und so tauchen wir ein in die festliche Stimmung – immer noch Vorfreude. Und niemand ist allein! Alle Fenster leuchten, manche hell wie der Weihnachtsstern, andere heimlicher und flackernd wie ferne Gestirne. Aber alle verheißen das Weihnachtsfest. Und alle Menschen kommen zusammen, die zusammengehören. Alle? Erst Jahrzehnte später - im Nacherleben dieser heiligen Stimmung - kriechen unter der geschmolzenen und mürbe gewordenen Schneedecke Fragen ans Tageslicht: Wie wohl Gaby das alles erlebt haben mag. Gaby, deren Eltern - meine Tante und mein Onkel - zwar geschieden waren, dies aber gewissermaßen im Verborgenen lebten, um ihrer Tochter einen Rest an Geborgenheit zu verbürgen. Im Alter von zehn Jahren hatten wir in unseren bescheidenen Vorstellungen von der Welt noch kein wirkliches Bewusstsein davon, was denn ein Scheidungskind wäre, und viel weniger noch Begriffe paratfür den Fall, dass Eltern getrennte Wege gehen. Ob wir durch die große Familie und unsere Gemeinsamkeit das Fehlen ihres Vaters ein wenig abgemildert haben? Das Trauma, ein Scheidungskind zu sein, überwinden nicht alle. Manch eine(r) trägt sein Leben lang an dieser Kränkung, die uns Geborgenheit nimmt und Zugehörigkeit zutiefst in Frage stellt. Wie glücklich darf ich mich schätzen, dass ich alle Liebe, alle Fürsorge und alle Anerkennung dieser Welt bis zum letzten Atemzug meiner Eltern tief in mich aufnehmen durfte. Sie leben weiter in der Liebe, die durch mich in meine Kinder und Enkelkinder übergeht.
In diesem Jahr 2021, das durch die schreckliche Flut im Juli vielen Menschen im Ahrtal Haus und Wohnung und in viel zu vielen Fällen die Liebsten genommen hat, feiern wir in der großen Familie mit unseren Kindern und Schwiegerkindern, mit unseren Enkelkindern, mit den Schwiegereltern Annes das Weihnachtsfest gemeinsam. Leo lernt nach seinem Beinbruch das Laufen wieder - gemeinsam mit seiner Schwester. Und aus Bad Neuenahr und Ahrweiler kommen meine Schwester und meine Cousine dazu - ein großes Fest, wie es früher einmal in der Sippe üblich war.