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(M)Ein Adventskalender (12) heute öffnen wir das zwölfte Türchen/Fensterchen

Erich Renners Andere Völker - andere Erziehung - Eine pädagogische Weltreise (Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2001) enthält ein Kapitel über Großeltern (S. 121-127). Der erste Satz lautet: "Großeltern kommen in der Diskussion über Erziehung bei uns nicht mehr vor." Erich Renner berichtet unter anderem über großelterliche Fürsorge bei den Sioux-Indianern:

"Im Mittelpunkt der alten Sioux-Gesellschaft stand die Tiyospaye, die erweiterte Familiengruppe, die elementare Jagdgemeinschaft, die die Großeltern, Onkel, Tanten, Schwäger und Schwägerinnen, Cousins und Cousinen einschloss. Die Tiyospaye war wie ein warmer Mutteleib, der alle umgab, Kinder waren nie allein, wurden ständig umsorgt."

Die Weißen zerstörten die Tiyopaye -  nicht zufällig, sondern aus politischen Gründen, ist zu lesen. Die eng verbundenen Clans war aus der Sicht der Weißen eine Barriere im Sinne ihre Fortschrittsverständnisses. Deshalb wurden die Tiyospaye auseinandergerissen, die Sioux wurden auf Kernfamilien geschrumpft: "Man nötigte jedem Paar seinen eigenen Landanteil auf und versuchte ihm 'die Vorteile eines gesunden Egoismus' beizubringen, 'ohne den eine höhere Zivilisation unmöglich ist'." Wir alle wissen, welche Folgen dieses Vorgehen der weißen Mehrheitsgesellschaft letztlich hatte. Gehen wir noch einmal auf die Bedeutung der Großeltern in der indidanischen Kultur ein. Hier ist zu lesen, dass die Großeltern auch den Grundstein für die spirituelle Orientierung ihrer Enkel im späteren Erwachsenenleben legen.

Erich Renner gibt in der Folge einen kurzen Einblick in eine offenkundig exemplarische Großvater-Enkel-Beziehung aus dem Kulturkreis der Sinti und Roma:

Dabei steht eine Schilderung des Sinto Boko Winterstein im Vordergrund: "An meinen Großvater, Stefan Winterstein, hab ich sehr gehangen. Er hat mich manchmal an der Hand genommen und gesagt'Hopp, wir gehen ein bisschen spazieren." Bei diesen Spaziergängen vermittelt der Großvater Boko seine Art zu glauben und die Welt zu sehen. Boko kommt zu der Überzeugung, dass er seinen Großvater lieber gehabt hat als seinen Vater. : "Wenn ich Schläge bekommen hab, hat mein Großvater mir immer geholfen. 'Lass ihn gehn, geh weg', hat er dann zu meinem Vater gesagt und mit ihm gescholten. 'Lass den Bub gehn', hat er gesagt und mich festgehalten. Dann war ich geborgen bei ihm. Ich hab ihn gern gehabt, oioioi. Den hab ich gern gehabt, meinen Großvater."

Eine ziemlich triviale Geschichte, bei der der Überzeugung Bokos, den Großvater lieber als den Vater gehabt zu haben, ein ebenso triviales Motiv zu Grunde liegt; dieser Eindruck drängt sich zumindest auf und mag durchaus vielschichtigere Hintergründe haben. Ich habe Boko Wintersteins Schilderung hier festgehalten, weil er den Begriff der Geborgenheit verwendet. Eine ähnliche Unterscheidung zwischen den Eltern und Großeltern gibt im Rückblick auf meine Kindheit und Jugend keinen Sinn. Es kommt mir mit Erich Renner abschließend eher darauf an, nicht nur zu bedauern, dass die Rolle der Großeltern sich in einer globalisierten, dislozierten Gesellschaft relativiert hat, sondern zu zeigen, wie es anders sein kann. Dazu die abschließende Bemerkung Erich Renners:

"Die Großelterngeneration sollte nicht alle als Aufbewahrer der Enkelgeneration in Anspruch genommen werden, sondern ganz bewusst, wo es nicht ohnehin spontan der Fall ist, als Vermittler ihres Erfahrungswissens. Zu diesem Erfahrungswissen gehört auch die persönliche Erzählung, der Bericht, das Gespräch über die Vergangenheit, die zehn, zwanzig oder dreißig Jahre zurückliegt. Darin wird erzähltes Wissen einfließen, das auf Eltern und Großeltern der Großelterngeneration zurückgeht. Wichtig ist hier die Vermittlung persönlichen Erlebens und Betroffenseins. Auf der anderen Seite sollte sich die Großelterngeneration selbst als Erzähler und Betreuer zur Verfügung stellen, wie es in manchen Gemeinden oder Stadtvierteln schon geschieht. Es wäre denkbar, regelrechte Erzähl- und Betreuungsdienste von Senioren für Junioren aufzubauen."

Erich Renner gibt hier Anstösse, die mir persönlich selbstverständlich erscheinen. Ich schreibe und erzähle selbst gegen das an, was Odo Marquardt narrative Atrophie nennt. Die Menschen sind ihre Geschichten. Für meine Enkelkinder habe ich noch vor ihrer Geburt mit Aufzeichnungen begonnen, die ich handschriftlich in Kladden eintrage. Diese Kladden werden ihnen - ebenso wie alles, was ich aufschreibe, einen Zugang eröffnen zu den Fragen, die uns alle umtreiben. Wo komme ich her? Was bedeutet das für die Beantwortung der Fragen: Wer bin ich? Wer will/kann ich sein? Wo kommen meine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern her - immer eingedenk der von Alexander Kluge so ungemein überzeugend in den Raum gestellten Feststellung, dass wir ohne unsere 8 Urgroßeltern nicht die sein würden, die wir sind.

Die letzten Eintragungen in Leos aktuelle Kladde ist mir nicht so leicht von der Hand gegangen - 14 Tage vor Weihnachten. Seit letzten Donnerstag befindet sich unser Leo mit seiner Mama in der Kinderklinik, weil er sich eine Fraktur des rechten Oberschenkelknochens zugezogen hat. Es geht ihm schon besser, und wir hoffen, dass er Anfang nächster Woche auch wieder zu Hause bei Papa, Mama und Jule sein wird, bei Tanten und Onkel - und natürlich bei den Großeltern.

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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