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Wie man Ich wird – Zeit, Emotion und Synchronizität

Harald Welzer versucht uns in seiner Publikation Das kommunikative Gedächtnis – Eine Theorie der Erinnerung (vierte Auflage, München 2017) Hinweise zu vermitteln, wie wir verstehen lernen, wie sich ontogenetische und phylogenetische Entwicklung vollziehen; Prozesse, die – wie er in Anlehnung an die Forschungslage meint – „konstitutionell auf permanente Veränderung ausgelegt sind“.

Insbesondere Menschen könnten ihre famose Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umwelten realisieren, „weil sie eine co-evolutionäre Entwicklungsumwelt geschaffen haben, die sie von den biologischen Vorgaben der Evolution emanzipiert hat.“ Ich habe mich bereits an anderer Stelle mit den Anregungen Harald Welzers auseinandergesetzt.

„Diese Emanzipation wurde möglich durch zwei humanspezifische Gedächtnisfunktionen: erstens durch die Fähigkeit zum autonoetischen Erinnern, das ein Arbeitsgedächtnis mit einer gewissen Kapazität voraussetzt, und zweitens durch die Auslagerung von Gedächtnis in andere Personen, in Institutionen oder in Medien.“

Begriffliche Hilfen: Ein autonoetisches Gedächtnis ist sich seiner selbst bewusst und daher reflexiv:

"Es ermöglicht das Warten auf bessere Gelegenheiten, das Überstehen problematischer Situationen, das Entwickeln effizienterer Lösungen, kurz, es erlaubt Handeln, das auf Auswahl und Timing beruht. Ein solches Gedächtnis schafft Raum zum Handeln und entbindet vom unmittelbaren Handlungsdruck; es schafft genau genommen erst jenen Unterschied zum Agieren und Reagieren, den wir als 'Handeln' bezeichnen (111)."

Die Faszination, die im übrigen zu diesem Blog mit seinen Beiträgen und vor allem auch zu den inhaltsschweren Verdichtungen führt - Demenztagebuch, Hildes Geschichte, Lebenslauf - basiert auf der zweiten Prämisse, die Harald Welzer setzt:

"Zweitens und damit zusammenhängend, schafft ein reflexives Gedächtnis die Möglichkeit, Gedächtnisinhalte zu externalisieren, aus dem Organismus herauszuverlagern [...] bis zur Herausbildung von Schriftsprachen haben Menschen ganz einzigartige Formen der Repräsentation von Gedächtnisinhalten geschaffen, die zum einen Entlastung von Handlungsdruck, zum anderen die soziale Weitergabe von Erinnertem erlauben. Menschen können Informationen aufbewahren und kommunizieren; sie können sie mit der Erfindung von Schrift schließlich sogar an Menschen weitergeben, mit denen sie räumlich oder zeitlich überhaupt nichts verbindet."

Die Auslagerung von Gedächtnisinhalten in Medien übt jene Faszination aus, die bei mir unterdessen zu diesem gleichermaßen enorm mäandernden wie Ordnung schaffenden, fast täglich Spuren hinterlassenden Bloggeschehen führt. Die vergebliche Sehnsucht danach, mit Blick auf die eigenen Großeltern und Eltern über vergleichbare Aktivitäten spurenmächtige Hinterlassenschaften aufzufinden, kehrt sich um in den Versuch mit eigenen Absonderungen Hinterlassenschaften zu begründen. Die angedeutete Sehnsucht offenbart ja einerseits das Bedürfnis Handlungsmotive, aber auch Handlungsumstände zu verstehen, die zu dem geführt haben, was sich z.B. konkret an Familiendynamiken herausgebildet hat. Die Ergebnisse dieser Dynamiken formieren sich ja ihrerseits in einem gleichermaßen individuell wie kollektiv wirksamen Familiengedächtnis, das die Mitglieder der Sippe im weitesten Sinne auf je unterschiedliche Weise umtreibt. Auch darüber - kann man sich vorstellen - mögen wohl die Jüngeren und Jüngsten (vielleicht in dem Maß, in dem sie selbst älter werden) spekulieren; vielleicht würden sie gerne mehr erfahren über die Beweggründe und konkreten Handlungen und Unterlassungen derer, aus denen sie hervorgegangen sind. Handlungsmächtig (zuweilen auch lähmend) werden solche Motive zumal dann, wenn man sich selbst und wenn die eigenen Lebensumstände fragwürdig werden!

Harald Welzer spricht ja - und dies bedeutet eine zweifelsfrei positive Konnotation - von der enormen Möglichkeit der kulturellen Weitergabe von Erfahrungen. Sie beschleunige die langsame biologische Evolution mit den Mitteln des Sozialen. Im Umkehrschluss könnte dies aber auch bedeuten, dass solche (positiven) Beschleunigungen in dem Maße unterbleiben, wie sich ein Kollektiv einer Weitergabe von Erfahrungen verschließt/verweigert. Und dafür mag es in vielen Familien gute Gründe geben.

Denn die von Harald Welzer beschriebene Praxis ergibt sich - bezogen auf einzelne Kollektive, wie sie durch Familien in ihrem Sippenkontext repräsentiert werden - ja nicht als Selbstläufer:

"Menschen können ihre Erkenntnisfortschritte in der Bewältigung von Umweltanforderungen über Zeiten und Räume hinweg weitergeben, so dass die  jeweils folgenden Generationen auf der Basis der gemachten, in soziale Praktiken überführten Bewältigungserfahrungen ihre Entwicklungsmöglichkeiten auf jeweils höhreren Erfahrungsniveaus entfalten können (112)."

Eine Bedingung für die Ausbildung eines autobiographischen Gedächtnisses liegt nach Harald Welzer in der Fähigkeit begründet ein Vorher von einem Jetzt und einem Nachher differenzieren zu können; setzt also die Ausbildung eines Zeitbegriffs voraus. Er exemplifiziert dies mit folgendem Beispiel:

"Das autobiographische Gedächtnis ist erwacht, wenn ein dreijähriges Kind davon berichten kann, dass es gestern im Kindergarten vom Stuhl gefallen ist und sich dabei weh getan hat (113)." Harald Welzer spricht von einem "temporal organisierten Selbstkonzept".

Dem autobiographischen Gedächtnis kommt nach Welzer eine entscheidende Bedeutung zu. Er versteht es als biopsychosoziale Instanz, die das Relais zwischen Individuum und Umwelt, zwischen Subjekt und Kultur repräsenentiert:

"Das autobiographische Gedächtnis erlaubt nicht nur, Erinnerungen als unsere Erinnerungen zu markieren, es bildet auch die temporale Feedbackmatrix unseres Selbst, mit der wir ermessen können, wo und wie wir uns verändert haben und wo und wie wir uns gleichgeblieben sind (119)."

Auf ein Kollektiv bezogen kommt dem autobiographischen Gedächtnis dabei die zentrale Bedeutung zu, seine Mitglieder für sich erweiternde und diversifizierende soziale Gruppen anschlussfähig, soziabel zu machen. Dabei riskiert Welzer einen Balanceakt, indem er den Wunsch nach Kontinuität alternativlos stellt und dabei Gefahr läuft, den anderen Pol, nämlich Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit zu relativieren:

"Der Wunsch nach Kontinuität ist nicht nur ein individueller Wunsch; ohne Kontinuität der Identität ihrer Mitglieder könnten eine soziale Gruppe und eine Gesellschaft nicht funktionieren, weil Kooperation - die zentrale Kategorie menschlichen Daseins - nur dann gewährleistet ist, wenn Menschen verlässlich heute dieselben sind, die sie gestern waren und morgen noch sein werden (119f.)."

Aber wie werden wir diese Menschen? Mit Lev Wygotsky, Daniel Stern und Michael  Tomasello geht Harald Welzer davon aus, dass die gesamte Entwicklung eines Kindes nach der Geburt von den kulturellen und sozialen Handlungen und Techniken abhänge, welche die ihm vorausgehende Figuration co-evolutionär entwickelt habe. Im Sinne des Handlungsaspekts geht er soweit zu behaupten, dass Menschen nichts verinnerlichten, wenn sie sich entwickeln, "sondern dass sie im Zusammenhang mit anderen praktisch lernen, was sie brauchen, um in einer gegebenen Sozialität zu funktionieren und zu einem vollwertigen Mitglied dieser Sozialität zu werden". Allerdings müssen wir auch hier zunächst einmal feststellen, dass solche Transformationen nur historisch konnotiert werden können. Sie repräsentieren den jeweiligen Wandel der Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erziehungsformen ("und damit der Bilder und Vorstellungen, was 'gut für ein Baby' ist und wie man es zu behandeln hat"). Ein weiterer Aspekt liegt nach der Auffassung der zitierten Autoren "in der Verschiebung der Balance zwischen interpersonalen und intrapersonalen Regulationen" - und damit zwischen Selbstzwang und Fremdzwang; aus Fremdregulationen werden Selbstregulationen.

Von besonderem Interesse erscheint mir das Transformationsmodell der Emotionsregulierung, dass hier in fünf Entwicklungsphasen Gestalt annimmt:

  • "In den ersten beiden Lebensjahren entwickelt sich ein System der interpersonalen Regulation, mit dessen Hilfe das Kind 'ein differenziertes, durch Ausdrucksymbole vermitteltes Emotionsrepertoire' aufbaut und sich zugleich eine Reihe von Bewältigungserfahrungen etablieren (122)." Naheliegend ist der Hinweis, dass die Regulierungen in dieser Frühphase nahezu ausschließlich interpersonaler Ausprägung sind, da Kinder in dieser Phase nocht nicht in der Lage sind, selbst etwas zu tun, was der Regulation ihrer Befindlichkeit dienen würde.
  • Zwischen drei und sechs Jahren verändert sich dies. Selbstkonzepte konturieren sich über symbolische Ausdrucksformen und vor allem aufgrund "einer deutlich wachsenden Erwartung des sozialen Umfelds, das Kind möge sich doch 'benehmen' oder 'still sein' oder 'artig sein'. Das bedeutet wohl immerhin, dass Kinder sowohl fähig werden sowohl zu einer "intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation als auch zu einer interpersonalen reflexiven Emotionsregulation". Dies zeige sich zunehmend in der Fähigkeit Emotionen spielerisch zu simulieren, indem es beispielsweise so tut, als ob es traurig wäre.
  • Die dritte Entwicklungsphase führt zu einer potentiellen Entkopplung von realen Gefühlslagen und ihres Ausdrucks. "Das heißt: Was zuvor für einen Beobachter sichtbar war - heftige Zorn, große Freude, massive Verunsicherung -, wird nun zu 'mentalen Ausdruckszeichen', die nach innen eine bestimmten Zustand signalisieren, während das Gesicht und die Körperhaltung neutral bleiben (123)."
  • Eine vierte und fünfte Entwicklungsphase bezieht sich auf Adoleszenz und Erwachsenenalter und lässt sich in der zentralen Frage bündeln, wie in einer grundlegenden Entwicklungsdynamik mit Blick auf die Ontogenese aus Fremdzwängen Selbstzwänge werden: "Jeder weiß, wie unreguliert, direkt und außenorientiert die emotionale Welt eines Kleinkindes ist, wie impulsiv und unberechenbar die eines pubertierenden Jugendlichen und wie gedämfpt und innengeleitet die einer Person im mittleren Erwachsenenalter sein kann (123)."

Den besonderen Clou des Modells von Holodynski und Friedlmeier (die Autoren, auf die sich Harald Welzer im folgenden in besonderer Weise stützt, sieht er in der Annahme, dass der "Individuationsprozess von vornherein als ein sozialer gedacht wird (das ist im übrigen weder originell oder neu: Bei Helm Stierlin ist bereits die Rede davon, dass Individuation nur als ein Prozess sowohl mit als auch gegen die bedeutsamen anderen zu begreifen ist). Bei Welzer liest sich dies folgendermaßen:

"Alles, was ontogenetisch geschieht, ist ein Verlauf von der regulativen Sozialität, in der und mit der das Kind sich entwickelt, hin zu jener Individualität, in der soziale Zwänge, Restriktionen und Gefühlsregulationen in die Innenwelt verlegt sind (124)."

Bezogen auf die Gedächtnisentwicklung bedeutet dies, dass sie vom Sozialen hin zum Indviduellen verlaufe - nämlich

"vom Säugling und Kleinkind, das ohne episodisches Gedächtnis in einem Universum des So-Seins exisitert und das die Quellen von Erinnerungen nicht unterscheidet, zum Vorschulkind, das über wachsende temporale Differenzierungen eine Situierung seines Selbst in der Zeit gewinnt und schließlich über den Spracherwerb und ein kognitives Selbst ein autobiographisches Ich wird, das die früheren und künftigen Erfahrungen in einer Lebensgeschichte integriert, die sozial und individuell zugleich ist" (124).

Was sind denn vollwertige Mitglieder einer Sozialität?

Woran lassen sich nun Kriterien und Anhaltspunkte gewinnen, ob sowohl heranwachsende als auch erwachsene Menschen im Zusammenhang mit anderen praktisch lernen bzw. gelernt haben, was sie brauchen, um in einer gegebenen Sozialität zu funktionieren und zu einem vollwertigen Mitglied dieser Sozialität zu werden???

Die Frage, wie man Ich wird (und was man für ein Ich wird) entscheidet sich wohl maßgeblich an der Entstehung von Selbstkonzepten, die eben früh beginnt. Welzer beschreibt, dass sich Selbstkonzepte zwischen drei und sechs Jahren richtungsweisend konturieren; nicht nur über symbolische Ausdrucksformen, sondern vor allem aufgrund "einer deutlich wachsenden Erwartung des sozialen Umfelds, das Kind möge sich doch 'benehmen' oder 'still sein' oder 'artig sein'." Das bedeute immerhin, dass Kinder sowohl fähig werden sowohl zu einer "intrapersonalen emotionalen Handlungsregulation als auch zu einer interpersonalen reflexiven Emotionsregulation!"

Als fast Siebzigjähriger weiß ich, wovon ich rede. Intrapersonale emotionale Handlungsregulationen waren in den letzten Monaten - im Nachgang zu den Ereignissen vom 14. Juli 2021 gewiss partiell mangelhaft. Es hat eine Zeit gebraucht, bis eine interpersonale reflexive Emotionsregulation möglich wurde - zum Beispiel in dem Bekenntnis: Ich habe Fehler gemacht! Um dies bekennen zu können, muss man eben die Splitter im eigenen Auge schmerzhaft spüren und sich von der Hybris verabschieden, soziale Verwerfungen immer nur dadurch begreifen zu wollen, dass sie sich zuvorderest mit den Balken in den Augen der anderen erklären lassen. Dazu möchte ich gerne eine Geschichte erzählen:

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund