Errata - Bilanz eines Lebens - George Steiner und Hubert von Goisern - Teil I
so der Titel, unter dem George Steiner seine Lebensgeschichte veröffentlicht hat (Carl Hanser Verlag, München Wien 1999). Im Klappentext ist zu lesen, dass es sich um die Geschichte eines Juden handelt, der zwar von den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten verschont blieb, "der aber sein Leben lang von der Frage bewegt wurde, wie sich innerhalb der hochentwickelten europäischen Kultur ein mörderischer Antisemitismus breitmachen konnte". Die Lektüre dieses Buches treibt mich persönlich an die Grenzen einer über Jahrhunderte gewachsenen Gelehrsamkeit, eines Bildungsverständnisses und eines damit verbundenen Habitus, der sich ganz offenkundig nicht ohne weiteres jemandem erschließt, der sich versteht - verstehen muss - als Privilegierter, dessen Bildungsgang und dessen Zugang zu Bildungsgütern sich nicht von selbst versteht - jedenfalls nicht auf eine so selbstverständliche Art und Weise, wie sie sich in einer durchaus brachial anmutenden Weise offenbart, wie sie George Steiner in seiner eigenen Bildungsbiografie und der damit verbundenen väterlichen Strenge beschreibt:
"Erst später wurde mir die Investition von Hoffnung wider alle Hoffnung, von wachsamer Erfindungsgabe, die mein Vater auf meine Bildung verwendete, klar. Und dies in Jahren privater und öffentlicher Pein, als die bittere Notwendigkeit, angesichts des immer näher rückenden Nazismus für uns eine Zukunft zu finden, ihn emotional und physisch erschöpft zurückließ. Ich staune immer noch über den liebevollen Scharfsinn seiner Kunstgriffe. Kein neues Buch wurde mir erlaubt, solange ich nicht für ihn eine Zusammenfassung des Buches geschrieben hatte, das ich zuletzt gelesen hatte. Wenn ich die ein oder andere Passage nicht verstanden hatte - die Auswahl und die Vorschläge meines Vaters zielten sorgfältig über meinen Kopf hinweg -, sollte ich sie ihm laut vorlesen. Oft lässt die Stimme einen Text klarwerden. Wenn das Missverstehen bestehen blieb, sollte ich die fragliche Stelle mit eigener Hand abschreiben. Daraufhin gab sie dann gewöhnlich ihren Kern frei."
Diese - zuletzt von George Steiner angedeutete - Methode, sowohl des lauten (Vor-)Lesens als auch des handschriftlichen Abschreibens wichtiger und auch fragwürdiger Textstellen entspricht seit mehr als zwanzig Jahren einer autodidaktischen Selbstverpflichtung; und nebenbei bemerkt: Auch ohne väterliche Wachsamkeit ist mir in den letzten Jahren - und in Sonderheit in der Abgeschiedenheit der Covid-geschuldeten Isolation - das Privileg zugewachsen, mich täglich der Aufgabe der Textarbeit zu unterziehen. Spuren dieser Selbstverpflichtung ergeben sich aus meinem Bloggeschehen, dass inzwischen mit über 200 Beiträgen ein intesiv vernetztes Eigenleben zu führen beginnt.
George Steiner wird vom Carl Hanser Verlag als "der letzte intellektuelle Kosmopolit unserer Tage" bezeichnet. Kosmopolit wurde George Steiner aufgrund der politischen Exzesse mitten im zwanzigsten Jahrhundert - in Paris geboren, dort eingeschult absolvierte er nach der Flucht der Familie 1940 das French Lycée in New York und machte 1947 das Baccalauréat; 1944 erhielt er die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten. Er wuchs dreisprachig auf (Französisch, Deutsch, Englisch), schrieb und sprach in fünf Sprachen. Dagegen nehmen sich die Bildungsbiografien der von mir repräsentierten Bildungs-Aufsteiger aus, wie das Glimmen einer Glühbirne gegen das Leuchten der Sonne.
Was lerne ich nun von George Steiner und warum widme ich ihm einen eigenen Beitrag in meinem Blog?
Gegen Dummheit hilft nur Bildung - das ist eine der Lehren aus dem Aufstieg der Nationalsozialisten (aber nur eine unter anderen Lehren). Bei George Steiner lese ich:
"Ich definiere einen 'Klassiker' in der Literatur, in der Musik, in den Künsten, in der philosophischen Argumentation als eine bedeutende Form, die uns 'liest'. Sie liest uns mehr, als dass wir sie lesen (anhören, wahrnehmen). An dieser Definition ist nichts Paradoxes oder gar Mystisches. Jedesmal, wenn wir uns auf ihn einlassen, stellt uns der Klassiker in Frage. Er fordert unsere Ressourcen von Bewusstsein und Intellekt, von Seele und Leib heraus (so vieles an primärer ästhetischer und sogar intellektueller Reaktion ist körperlicher Natur). Der Klassiker fragt uns: 'hast du verstanden?'; 'hast du verantwortlich neu imaginiert?' 'bist du bereit, die Fragen, die Möglichkeiten verwandelten, bereicherten Seins, die ich gestellt habe, in Angriff zu nehmen?'"
Ich mache jetzt etwas Ungewöhnliches und beanspruche für mich den Begriff des Klassikers einseitig dadurch zu definieren, dass ich nicht - wie Steiner - auf die klasssischen Bildungsgüter zurückgreife, sondern mir als Protagonisten Hubert von Goisern aussuche. Er hat etwas fertiggebracht, dass einer vollkommenen Einlösung der von George Steiner aufgeführten Kriterien entspricht: Er hat verstanden; er hat verantwortlich neu imaginiert und ist bereit die Möglichkeiten eines verwandelten, bereicherten Seins, nicht nur in Angriff zu nehmen, sondern sie uns als Bildungserlebnis nahe zu bringen; ein Bildungserlebnis, das unweigerlich die Konsequenz eines Nie wieder! nach sich zieht. Also hier mit dem Link zu Hubert von Goisern die Einladung über George Steiners Maßstäbe nachzudenken - und mit Hubert von Goisern nicht nur darüber.
Fortsetzung morgen!