Selbst der Tod hat sich verändert?
Ich möchte Armin Nassehi und Irmhild Saake (in: DIE ZEIT, 3/21, S. 48) fragen, ob sie nicht eher das Sterben meinen? Der Vater meines Schwiegersohnes, Thomas, ist gestern morgen gestorben - zu Hause, im Kreise seiner Lieben. Wenn es einen unmittelbaren Trost gibt, dann den, das genau dies möglich war. Ich weiß, dass Hans-Josef in der Gewissheit des Unausweichlichen darum gebeten hat, einen Hospizplatz zu bekommen. Dass er nun doch zu Hause sterben durfte, habe ich ihm von Herzen gewünscht. Weder Annerose noch Markus oder Thomas müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie etwas versäumt haben. Über den Tod wissen wir nichts; über das Sterben immerhin einiges. Armin Nassehi und Irmhild Saake forschen nach eigenem Bekunden seit fast zwanzig Jahren über Todesbilder, über Palliativmedizin und über Bilder und Erwartungen des "guten Sterbens". Für mich als Lebenden, für den auch schon im beruflichen Kontext Fragen zu Tod, Sterben und Trauer einen wesentlichen Schwerpunkt bildeten, ist die folgende Passage in beider ZEIT-Beitrag die eindringlichste:
"Was die Logik des Familialen für sterbende Menschen oft so wichtig macht, ist nicht unbedingt das Sterben zu Hause, sondern der vertraute Umgang der Nächsten zu ihnen [...] Die Logik des Alltäglichen läuft meistens so mit, ohne dass es besonders regisitriert würde... Sie läuft mit, weil diese Logik immer mitläuft. Das Mitlaufen selbst ist die Logik - mit all den auch schwierigen Konsequenzen etwa für die geschlechtliche Arbeitsteilung solcher Aufgaben:"
Derzeit - so Nassehi und Saake - laufe all das eben nicht so mit! All das? "Und wenn es nur der gleiche Kuchen ist, den man immer schon mitgebracht hat, oder diesselben Geschichten über die Verwandtschaft, die man immer schon gehört hat, Wir unterschätzen diese Logik - gerade wir, die wir nach bedeutungsvollen Verarbeitungsformen suchen."
Auch ich möchte trösten - Annerose, Markus und Kathrin, Thomas und Laura, die Enkelinnen von Hans-Josef, Paula und Johanna. Ein Trost liegt einfach darin, Hans-Josef nicht alleine gelassen zu haben. Armin Nassehi und Irmhild Saake schreiben, Covid und das Sterben unter Covid mache auf etwas aufmerksam, das sonst selten auffalle: "wie sehr auch Sterbende noch so leben wollen, wie sie es stets getan haben - mit all den Abgründen von Banalität, die einem Leben jene Kontinuität verleiht, die es braucht." Banalität sei hier kein herabwürdigender Ausdruck: "Banalität ist der Modus des Alltäglichen, den Covid überall infrage stellt".
Im Sinne dieser Banalität lasst uns erinnern, was wir miteinander gehabt haben: Gemeinsame Urlaube, Begegnungen, Feiern mit der Offenbarung unserer Besonderheiten und auch unserer Schrulligkeiten. Dieses Wir ist in der Gegenwart dünn geworden. Heiraten Kinder, verbinden sie durch diese Heirat an sich fremde Menschen zu dem, was wir Sippe nennen. Manchmal geht genau das gar nicht; manchmal spüren wir alle miteinander, wie sehr uns diese Sippenbildung bereichert.
Für mein eigenes Erwachsenwerden war vermutlich keine Erfahrung bedeutsamer, als die Begleitung meiner Mutter in ihren letzten Monaten, Wochen und Tagen. Mein Schwiegervater durfte zu Hause sterben nach einer langen, langen Leidenszeit, meine Schwiegermutter musste im institutionellen Kontext - im Pflegeheim - sterben; maßgeblich unter dem Diktat der durch Covid erzwungenen Kontakteinschränkungen. Für meine Frau, für mich und unsere Kinder war es ein kleiner Trost, dass sie im hohen Alter von fast 97 Jahren Anfang August 2020 sterben durfte, genau in der Phase der Lockerungen, als wir ihre Hand halten durften und sie in ihren letzten Wochen begleiten konnten.
Ich möchte abschließend auf etwas aufmerksam machen, das mich persönlich im Nachgang zum frühen Tod meines Bruders immer eindringlicher beschäftigt und was Armin Nassehi und Irmhild Saake folgendermaßen zur Sprache bringen:
"Das kontaktlose Sterben unter Covid-Bedingungen macht auf einen Umstand aufmerksam, den wir in unserer eigenen Forschung deutlich herausarbeiten konnten [...] Der Diskurs über das 'gute Sterben' ist zumeist ein Diskurs darüber, wie es gelingen kann, dass Sterbende ihr Schicksal annehmen können. Und je mehr man ahnt, dass dies schwierig wird, desto mehr entsteht die Erwartung, dass noch etwas zu klären ist, dass man sich am Ende des Lebens noch einmal mit dem gesamten Leben auseinandersetzen sollte, dass man Bilanz ziehen müsste, um eine Art Abschluss zu erreichen, um letzte Schulden auszugleichen. In solchen Bildern mit typischerweise ökonomischen Metaphern steckt auch eine Menge an sehr mittelschichts- und bildungsorientierten Erwartungen, die literarisch überhöht werden.: Im Sterben und angesichts des nahenden Todes muss alles mit einer besonderen Bedeutung aufgeladen werden. Der beste Sterbende wäre dann der sprechende und reflektierende Sterbende, der die schwierige Situation des Sterbens im Krankenhaus für die professionellen Betreuer dadurch entschärft, dass er dem Unvermeidlichen zustimmt und in eigener Regie dafür eine Form findet."
Aber so ist das Leben nicht - und offenbar auch das Sterben nicht! Zu Lebzeiten - auf der Höhe einer geistigen (und vielleicht auch noch körperlichen) Frische möchte ich zu Hause sein bei meinen Lieben und auch in der Sprache. Darin liegt mehr und mehr der Antrieb für diesen Blog, in dem ich nicht müde werde, meinen Liebsten zu sagen und zeigen, wie sehr ich sie liebe, wie sehr ich ihre Gegenwart und ihre Wahrnehmung meiner schätze und genieße und wie sehr ich sie wahrnehme als das Kostbarste in meinem Leben - ganz besonders mit dem Blick auf die noch ganz Kleinen, die vor allem auch das sind und die das werden, was sie in unserer liebevollen Zuwendung an unverbrüchlichem und unverlierbarem Selbstwert ausbilden - im besten Falle ein enttäuschungsfestes Urvertrauen. Ja, ich bin durchaus noch bei Trost - so wie schon vor mehr als 25 Jahren (Unsere Kinder).