Maxim Biller und das Tagebuch
Gestern - nein vorgestern (Chronos lässt nicht mit sich spaßen) - haben wir im ganz kleinen Kreis, fast nur Familie, den 64. Geburtstag Claudias gefeiert; drei Wochen nach dem Tod Lisas, Claudias Mutter. Das ist ja vielleicht eine Eintragung wert in (m)ein sogenanntes Tagebuch. Ich stehe, was das Tagebuch anbelangt, unter dem Eindruck der arrogant, dümmlich bis klugen Äußerungen Maxim Billers, der vor wenigen Tagen der NZZ anlässlich seines 60. Geburtstages ein langes, langes Interview gegeben hat. Die Frage, ob er Tagebuch schreibe, hat er nahezu empört zurückgewiesen - mit vielen durchaus überzeugenden und bedenkenswerten Argumenten.
Es scheint überaus paradox, genau dies hier einzuräumen, da ich just diese Eintragungen in mein Tagebuch vornehme. Das trivialste, gleichwohl bedenkenswerte Argument für bzw. gegen ein mehr oder weniger konsequentes Tagebuch liegt schlicht in der Feststellung, dass hier(mit) ein Ort existiert bzw. geschaffen wird, der - zumindest mir - erlaubt, solche Vermerke bzw. Spuren (wie beispielsweise den heutigen) immer wieder auffindbar festzuhalten und mir meine Überlegungen dazu ebenfalls in nachvollziehbarer Weise zu notieren. Wenn man freilich - wie Biller nolens volens - als öffentliche Person, gar als V.I.P. agiert und dabei partiell paranoide Züge offenbart, mag ein Tagebuch, eines das man möglicherweise zu Lebzeiten, im Vollbesitz seiner geistigen bzw. körperlichen Zurechnungs- und Handlungsfähigkeit, nicht mehr rechtzeitig vor seinem Ableben vernichten kann, als zusätzliche (vielleicht unerträgliche) Hypothek erscheinen; wobei Biller doch ohnehin schon nach der Maxime lebt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert!
Und Hypothek ist eine ganz gewiss zutreffende Attribution, weil doch kaum jemand will, dass irgendjemand begreift und nachvollziehen kann, wer man wirklich ist bzw. war; einmal ganz abgesehen davon, dass es aberwitzig erscheint und einer Hypbris gleichkommt, davon auszugehen, man wüsste dies selbst und sei sich selbst jederzeit und in jeder Hinsicht vollkommen transparent:
"Wenngleich Organismen Materialisationen ihres Intelligenz- und Erfolgsdesigns darstellen und, dementsprechend, auf die permanente Abtastung und Nachregelung von eigenen Zuständen angelegt sind, so sind sie nirgends darauf eingerichtet, sich in sich selbst vollständig zu reflektieren oder zu repräsentieren. Sie sind, um es anders auszudrücken nicht darauf ausgelegt, die Wahrheit über sich selbst in sich zu haben [...] Es gibt kein menschliches Gehirn, und es kann aus prinzipiellen Gründen keines geben, das bis ins einzelne wüsste, wie es selbst funktioniert, geschweige denn eines, das sich bei laufendem Betrieb eine komplette Repräsentation seiner historischen und strukturellen Betriebsbedingungen - im Sinne eines hierjetzt aktuellen, in Totaltransparenz zu sich gekommenen Geistes - gegenwärtig halten könnte [...] Es existiert in dieser Hinsicht kein sich selbst bis auf den Grund durchsichtiges Subjekt (Peter Sloterdijk in: Luhmann-Lektüren, Berlin 2010, S. 127f.)."
Manche Menschen erwecken allerdings den Eindruck, auf sie träfe genau diese Relativierung nicht zu. Sie sind nicht in der Lage - wie Peter Sloterdijk bemerken würde - zu bemerken, was sie nicht bemerkt haben sollen. Mit anderen Worten, ihnen erscheint jede Form der Diskretion und des Takts vollkommen fremd; sie treten auf als Gralshüter der Wahrheit. Dazu gehören historische Despoten wie Hitler, Stalin und Mao. Gegenwärtig begegnen sie uns - perfide genug - im Kleid demokratisch legitimierter Staatslenker. Trump, Putin, Xi Jinping, Baschar al Assad, Lukaschenko, Erdogan, Bolsonaro etc. repräsentieren diesen unsäglichen und unerträglichen Politikertypus, der durch eine besondere Weltsicht sein besonderes Gefährdungspotential allen demokratisch verfassten Gemeinwesen gegenüber offenbart. Auch dies hat Peter Sloterdijk im Anschluss an Niklas Luhmann präzise beschrieben:
"Es geht hier, möchte ich vermuten, um nichts Geringeres als allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im Ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten (ebd., S. 153)."
Kehren wir zurück zu den Grenzen - vermutlich jeglicher Form des Tagebuches; wäre es im vorgenannten Sinne grenzenlos, wäre es in der Lage, die Grenzen aufzuheben und für vollständige Transparenz seiner selbst zu sorgen, so ließe es gleichzeitig Blicke in menschliche Gründe und Abgründe zu, die man sich weder vorstellen noch antun mag. Freilich haben wir mit Ferdinand von Schirach einen Gewährsmann, der sowohl mit dem Blick in familiäre als auch individuelle Abgründe jederzeit jedem jede schuldhafte Verfehlung zutraut, und sei sie noch so abgründig. Nüchtern betrachtet benötigen wir dazu auch nicht den Blick in die Untiefen von Tagebuchaufzeichnungen. Es ist ja durchaus so, dass selbst Personen der Öffentlichkeit, in der Annahme legal - und darüber hinaus möglicherweise gar legitim - zu handeln, jede Sauerei und Dreckigkeit rechtfertigen derer Menschen fähig sind. Dazu gehören gewählte Präsidenten und Despoten, die schon längst bereit sind, für ihre Identitätskonstrukte Staatsterror auszuüben. Wie perfide und banal sich dies ausnimmt, davon zeugt beispielsweise Richard von Schirach mit seiner Autobiografie: Der Schatten meines Vaters. Dass sich selbst hinter zentralen Figuren der nationalsozialistischen Führungsriege noch Schattemänner verbergen, die keine Skrupel hatten, biografische Purzelbäume zu schlagen, lässt sich eindrucksvoll am Beispiel Albert Speers belegen.
Insofern spricht ja einiges für Maxim Billers Verachtung des Tagebuchs als ernstzunehmendes Unterfangen:
Schreiben Sie Tagebuch? (fragt ihn René Scheu für die NZZ)
Auf keinen Fall! Ich verachte das, weil es unehrlich ist. Mit 30, 35 dachte ich mal, ich müsste auch Tagebuch führen. Diese drei Seiten, die ich damals geschrieben habe, habe ich hinterher sofort weggeworfen, und es ist das Einzige, was ich jemals weggeworfen habe. Es war mir unangenehm, zu lesen, wie ich mich für ein späteres Publikum verstellte und spreizte, wie ich nur so tat, als würde ich nachdenken oder beobachten. Tagebuch zu schreiben, ist eine beschissene Ich-spiele-Schriftsteller-Show.
Man tut so, als würde man sein Innerstes für sich nach aussen kehren, aber eigentlich denkt man schon an die künftigen Leser?
Exakt. Schreiben Sie denn Tagebuch?
Nein. Aber ich habe es mir vorgenommen.
Warum?
Um meinen Kindern zu zeigen, wie sie einmal waren.
Das interessiert die wahrscheinlich überhaupt nicht – das denken nur Sie, dass die das wollen. Ihre Kinder werden lieber Ihre Artikel und Essays lesen.
Auf René Scheu werde ich noch eingehen; treibt ihn doch die Phantasie, seinen Kindern via Tagebuch Einblicke in ihre eigene Geschichte und ihr Dasein zu ermöglichen - ich habe übrigens einen Neffen, der hatte mal das gleiche Motiv für seine Aufzeichnungen gewählt, vielleicht ist er ja ins Biller-Lager gewechselt?
Bevor ich auf René Scheu eingehe, möchte ich allerdings darauf hinweisen, lieber Maxim Biller, dass ein ernsthaft geführtes Tagebuch auch ein Sparbuch sein kann. Immerhin erhalten Psychotherapeuten ein nicht unbeträchtliches Schmerzensgeld dafür, dass sie eine Zumutbarkeitsofferte machen, die im besten Fall auch das Tagebuch erfüllen kann. Die Therapeuten unterliegen dabei gleichermaßen der Schweigepflicht wie Priester, Anwälte oder Ärzte. Allerdings - und darauf habe ich bereits hingewiesen - hat das Tagebuch den erheblichen Nachteil, dass sie ihm keine Schweigepflicht abverlangen können. Sie können es allenfalls vernichten, sofern sich hierzu noch Gelegenheit ergibt - vor ihrem Ableben, oder sie können es, wie Maxim Biller empfiehlt, gar nicht erst schreiben. Was der liebe Maxim Biller nicht bedenkt und René Scheu gegenüber in Abrede stellt, das sieht Bernhard Schlink - zumindest durch die Brille des Schriftstellers nuanciert anders: Rede mit mir! Ich nehme mir noch einen anderen Gewährsmann - wie schon häufiger - zur Seite und lasse Botho Strauß noch einmal zu Wort kommen:
"Einige Augenblicke mit Menschen waren erfüllt von Zuwendung, die unanfechtbar bleibt, und man darf sagen: jawohl, da war man nicht allein, da ist man zusammengerückt, da hat man etwas Gutes erlebt. In einer einzigen gelungenen Umgangsform steckt schon mehr Glück, als man verkraften kann. Kaum je sind dies Momente körperlichen Begehrens, der Wollust gewesen. Die Erinnerung selbst ist zärtlich, ist ein Geschenk der Sublimation (in: Paare, Passanten, S. 63)."
So mein lieber Maxim Biller, arme, arrogante, verpeilte Seele - viel Spaß übrigens bei ihrem haltlosen Konsum der Fernsehbilder weiterhin, von Hentig wusste ja schon schlicht und entwaffnend auf die Frage, was denn den Menschen bilde, zu antworten: Alles! Mensch Biller, nun bekenne ich an dieser Stelle, dass ich nicht nur Tagebuch führe, sondern auch noch alle möglichen Kladden nebenbei - so eine aktuelle tatsächlich für meine Kinder und eine für meinen Enkel, der inzwischen 16 Monate alt wird:
"Mein lieber Leo" - so werde ich in Leos Kladde schreiben: "Präziser und gleichermaßen berührender hat selten jemand mein Erleben in Sprache übersetzt, was sich dabei zuträgt, wenn der Großvater seinem Enkel begegnet - immer wieder Augenblicke, erfüllt von absoluter Zuwendung. In dem, was Du mir dabei spiegelst, steckt in der Tat mehr Glück als man verkraften kann. So muss ich mich ganz und gar nicht der Tränen zu schämen, die mir häufig kommen, wenn ich mir diese Augenblicke in Erinnerung rufe. Die Erinnerungen selbst sind zärtlich - ein Geschenk, mühelos geschöpft aus unseren fast täglichen Begegnungen. Sie sind, wie Botho Strauß andeutet, besonders, weil sie jene Leichtigkeit und Unbefangenheit in sich tragen, die - so will ich vermuten - nur zwischen Enkeln und Großeltern möglich sind. Ich weiß das so genau, weil ich Deine beiden Urgroßelternpaare erleben durfte im Umgang mit ihren Enkelinnen. Und ich weiß dies so genau, weil ich mich entsinne der ganz und gar besonderen Erinnerungen, die mich mit meinem Großvater verbinden."
Lieber Maxim Biller, die Artikel und Essays René Scheus in Ehren. Aber ich hoffe, er verwirft Ihren Ratschlag - wenn ich richtig vermute, haben sie ja selbst keine Kinder (lesen sie doch einmal Sabine Rückerts Metamorphose dazu!). Ich hoffe René Scheu zeigt seinen Kindern, wer sie waren, wer sie waren vor allem für ihren Vater, ihre Mutter und ihre Großeltern. Und ich wünsche René Scheu, dem 1974 geborenen Vater, dass er Großvaterfreuden erleben wird. Dann nämlich wird er sie vollends eines Besseren belehren und wird mit Begeisterung seinen Enkelinnen und Enkeln in Erinnerung rufen, wer sie waren - sie werden es genießen und vor Freude jauchzen, wenn sie die Aufzeichnungen ihres Großvaters lesen - dann, wenn er schon lange nur noch lebt durch ihre und seine Erinnerungen. So sehr ein Leben lebt von seinen Widersprüchen, und so sehr diejenigen, die es leben davon getrieben sein mögen, Inkonsistenzen zu tilgen, zu verschweigen, zu leugnen, so sehr kann ein Tagebuch - selbst wenn es in die Hände der Nachkommen gerät - all dies offenbaren: Schönes, Schreckliches, Tragisches, Widersprüchliches, immer wieder Beglückendes und so u n e n d l i c h viel Triviales - halt als Spiegel einer Welt mit vielen Blickwinkeln und Spiegeln und Spiegeln hinter den Spiegelen. Nur wer erzählt, überlebt! Rufe ich dem Erzähler Maxim Biller zu.