Carl Friedrich von Weizsäcker - Ein Denkmal der Resignation
Nach meinen letzten Beiträgen könnte man mir vorhalten, mich nur noch in individualistischen, privatesten Arealen der (Selbst-)Reflexion zu verlieren. Natürlich antworte ich darauf mit dem Totschläger: Alles Private ist politisch - alles Politische ist privat; nur Perspektiven, die Wechselwirksamkeit überhaupt in Erwägung ziehen, kann man halbwegs ernst nehmen. Und selbstverständlich verweise ich auf Schlüsselwörter, die offenbaren, worum es mir geht.
Wir schreiben den 1. August 2020. Es ist ein Samstag. Wir feiern heute in den 33sten Geburtstag meiner ältesten Tochter hinein; am 21.7., vor knapp 14 Tagen haben wir den 31sten Geburtstag meiner jüngeren Tochter gefeiert.
Ich sitze an meinem Schreibtisch, seit knapp eineinhalb Jahren auf dem Heyerberg und schaue in die Weinberge - die Reben grün, die Rieslingtrauben gut ausgebildet, alles andere, die Gräser am Fuße der steilen Weinbergslage eher verdorrt. Seit vergangenen Sonntag fallen - eher zaghaft - die ersten Tropfen, verhalten als wollten sie sich zu einem gediegenen Landregen entschließen.
Mein Blick fällt auf eines der Regale in Sichtweite. Ganz unten rechts in Bodennähe - die Gleichtsichtbrille macht es möglich - lese ich auf einem der Buchrücken: Carl Friedrich von Weizsäcker - Bewußtseinswandel. Seit meiner Versetzung in den Ruhestand begreife ich mich mehr und mehr als Buch- und Seelenretter. Das hängt - was die Welt der Bücher angeht - schlicht damit zusammen, dass ich erleben musste, dass die Zombis, die zuletzt - zum Zeitpunkt meiner Pensionierung - und bis jetzt die Leitung des Instituts für Schulpädagogik an der Uni Koblenz innehatten/innehaben, sich als Buch- und Kulturvernichter hervortaten. Unser langjähriger Institutsleiter, der 2008 die Uni verlassen hat, hatte noch 2016 in einer großen Anstrengung mit einem seiner ehemaligen Mitarbeiter den Nachlass von Prof. Dr. Ernst Begemann in unseren Archivraum gerettet und überführt. Von den ca. 7000 Bänden seiner Arbeitsbibliothek habe ich vor ihrer von der Institutsleitung ohne Absprache verfügten Entsorgung einige hundert an Studierende verschenken können, einige hundert dieser Bände befinden in meinem Privatbesitz.
Warum diese Einleitung, warum der Verweis auf die über die Jahresmitte hinaus zu feiernden Geburtstag meiner Töchter? Es geschieht halt immer wieder, dass Bücher aus dem Nachlass Ernst Begemanns unverhoffte Begegnungen ermöglich oder auch erzwingen. Auch die heutige Begegnung mit Carl Friedrich von Weizsäcker wird vermittelt und beeinflusst durch Ernst Begemann. Er hatte - fein säuberlich gefaltet - eine Seite, Rubrik: Politisches Buch aus der ZEIT (Nr. 42-14. Oktober 1988) in dieses Buch eingelegt: Buch im Gespräch - Ein Denkmal der Resignation von Mathias Greffrath. Von Weizsäckers Vorwort datiert aus dem Januar 1988. Neben seinen grundlegenden Überlegungen zu diesem Buch werde ich hier in knapper Form einige Eckpunkte als Mathias Greffraths Anmerkungen wiedergeben. Ernst Begemann hat diese Rezension mit Bleistift kommentiert. Zeitnah - aus dem Blickwinkel von 1988 - ergeben sich hier zentrale Beobachterpräferenzen - Unterscheidungen gewissermaßen, die etwas offenbaren, was aus einem Abstand von 32 Jahren frappierend, erschreckend und beschämend zugleich wirkt. Mathias Greffraths Würdigung beginnt so:
"Im Elend der südlichen Hemisphäre leben die Brutalitäten des Frühkapitalismus fort; die Natur stirbt an ihrer Ausbeutung durch die Menschen, und das Klima wird lebensgefährlich; immer noch ist der große Krieg wahrscheinlich, eine Menschheit mit dem Bewusstsein von Lemmingen macht weiter. Kassandras Lied hat viele Strophen und der Refrain heißt: 'Ich behaupte, dass es in keinem der vier Bereiche ein Problem gibt, das nicht durch gemeinsame Anstrengung der Vernunft lösbar wäre. Ich behaupte auch, dass unsere politischen Ordnungen, unser gesellschaftlicher Zustand und unsere seelische Verfassung diese gemeinsame Vernunft fast unmöglich machen.' Der Blick aufs Ganze, zum Weizsäckers Buch einlädt, lähmt: Alles kann man machen, und nichts kann ich ändern - wer über die Welt nachdenkt, landet unweigerlich bei diesem grauen Dilemma."
In seinem Vorwort, auf das sich Greffrath zentral bezieht, erläutert Friedrich von Weizsäcker seine pessimistische Zwischenbilanz. 1986 hatte er das Büchlein Die Zeit drängt veröffentlicht. 1987 folgte das Buch Das Ende der Geduld. In letzterer Veröffentlichung äußert sich von Weizsäcker zur Alternativlosigkeit eines radikalen Bewusstseinswandels. Im Vorwort zum Sammelband Bewusstseinswandel gibt er schließlich noch einmal zu bedenken, dass er schon seit langem die Meinung vertrete,
"dass alle politischen, ökonomischen, ökologischen Probleme unserer Gegenwart und Zukunft grundlegend in gemeinsam angewandter Vernunft lösbar wären. Diese Vernunft aber besteht heute noch nicht. Sie setzt einen tiefgehenden Bewusstseinswandel voraus. Der Bewusstseinswandel ist unterwegs, aber er ist zu langsam und geht nicht tief genug."
Der Bewusstseinswandel ist unterwegs!? 32 Jahre später verkörpert er sich zum Beispiel in einer Bewegung der Kinder und Jugendlichen, die langsam in die Erzeugergenerationen hinüberschwappt. Sie nennt sich Friday for Future. Es sind bottom up-oder Graswurzelbewegungen. Das gibt einerseits Hoffnung, offenbart aber auch im Sinne Friedrich von Weizsäckers, dass im Gegensatz dazu die Regierungen vieler, vor allem systemrelevanter Länder gegenwärtig in der Hand verantwortungsloser Idioten liegt. Bei Vollspacken wie Donald Trump (USA), Scott Morrioson (Australien) oder Jair Bolsonaro (Brasilien) sind Zweifel berechtigt, ob der von den Neurowissenschaften für Vernunftbegabung und -anwendung identifizierte dorsolaterale präfrontale Cortex überhaupt ausgebildet worden ist. Carl Friedrich von Weizsäckers Diagnose, der Bewusstseinswandel sei unterwegs, aber er sei zu langsam und gehe nicht tief genug, bekommt hier eine andere Dimension, und es bleibt im Grunde genommen nur die Hoffnung, dass - von November an beginnend - die Wähler Einsicht zeigen und vernunftresistente Enstscheidungsträger wie Trump, Bolsonaro, Morrison und andere aus ihren Ämtern fegen werden. Andererseits gebe ich zu bedenken, dass ungebildete, verantwortungslose Repräsentanten auch der westlichen Hemisphäre - da gibt es ja beispielsweise auch noch Spacken wie Boris Johnson oder so kleine Lichter wie Viktor Orban, Jaroslaw Kaczynski und sein Adlat Andrzej Duda durchaus Typen von Intelligenzverkörperungen darstellen, die die andere Seite der Vernunft repräsentieren.
Kommen wir zu Mathias Greffraths Buchbesprechung zurück:
"Das Buch ist ein Denkmal der Resignation: Heute mache er keine Prognosen mehr und entwerfe auch keine Strukturen, schreibt Weizsäcker, aus dessen Starnberger Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der Industriezivilisation in den siebziger Jahren wichtige Anstöße in der Abrüstungs-, der Dritte-Welt und der Ökologie-Debatte kamen."
Wo der Theoretiker ratlos werde, gebe er dem Ethiker das Wort, betont Greffrath: "Seit dreitausend Jahren gehe es um dasselbe: Sucht nach Macht, Herrschaft über alle Kreaturen. Und dagegen die Moral - von Weizsäcker im O-Ton: "Man lese die Bergpredigt. Wer von ihrer unwidersprechlichen Wahrheit getroffen wird, der wird entsetzt sein, dass er ihr gleichwohl nicht folgt. Dieses Entsetzen ist der Anfang eines Bewusstseinswandels."
Ist diese Botschaft angekommen??? Von Weizsäcker träumt - wie Jürgen Habermas - immer noch vom Projekt der Moderne. Er glaubt immer noch, dass ein Blick aufs Ganze möglich ist und zur Besinnung treibt. Aber weil die Botschaft noch lange nicht bei allen angekommen ist, wie er einräumt, gibt er auch Kassandra nach wie vor eine zentrale Rolle: Mathias Greffrath fasst das so zusammen:
Kassandra werde gebraucht für den heilsamen Schrecken, für den Blick aufs Ganze, aus großer Höhe, um sich dann wieder den Einzelheiten zuzuwenden. Nur so komme man aus dem Zirkel heraus, in dem Weizsäckers Analyse bleibe und der kein Denkfehler ist, sondern der Zustand der Welt: Von Weizsäcker im O-Ton: "Die gemeinsame politische Vernunft bedarf des Bewusstseinswandels in den einzelnen Menschen; dieser Bewusstseinswandel aber bedarf der Verankerung ... in den Institutionen."
Schließen wir einstweilen mit einem Ausblick Mathias Greffraths im Sinne Carl Friedrich von Weizsäckers und fragen wir uns - wir einzelnen Menschen: Wie steht es mit der Verankerung der von Weizsäckerschen Einsichten in unserem Bewusstsein - und: wie spiegelt sich das in den Institutionen wider (manche sagen angesichts des Blicks in die Welt: unsere Angie ist die beste aller Staatenlenkerinnen und haben Angst vor dem, was nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt folgt)? Aber ohnedies: Deutschland als Insel der Seligen ist fragwürdig und wird nicht ausreichen. Nun aber - wie gesagt noch einmal zu Mathias Greffrath im von Weizsäckerschen Gestus - wie gesagt in der ZEIT vom 14. Oktober 1988:
"Eine Weltversammlung der Christen, eine Aktion von Greenpeace, ein Buch über die Chemie des Waldsterbens, ein Vorstoß im Parlament, der Blick auf ein Kind - es ist ungewiss, wie das zusammenwirkt (und ob es reicht): Das 'jüngste Gericht', zitiert Weizsäcker Georg Picht, 'sei schon geschehen... , die Schöpfung aber liege noch vor uns'."