26 - 65: Für Willi von 1994 bis 2020
Lieber Willi,
in diesem Jahr würdest Du 65! Auf Deinen 38sten Geburtstag - am 12.11.1993 - folgte kein weiterer. Gestern las ich in der Rhein-Zeitung: "Die enge Bindung der Ratzinger-Brüder - Eine hoch emotionale Reise, die den emeritierten Papst fordert"; der 93jährige Joseph besucht seinen kranken Bruder, den 96jährigen Georg. Den beiden ist bis ins hohe Alter vergönnt, was uns beiden - als Brüdern - vor 26 Jahren genommen wurde. Auch zwischen uns lagen gut 3 1/2 Jahre, und sicher wäre es gleichermaßen spannend wie unspektakulär, wie sich unsere Beziehung als Brüder weiter entwickelt und gestaltet hätte. Da wir - trotz aller vordergründigen Unterschiede - dazu neigten, die gleichen Fehler zu machen, hätten wir bis ins höchste Alter genügend Gesprächsstoff gehabt.
Heute kann ich Dir sagen - und das habe ich Dir ja vor vielen Jahren an Deinem Grab versprochen -, wie es weitergegangen ist. Dabei konzentriere ich mich auf's Wesentliche und begrenze die wenigen Bemerkungen auf's Blutverwandtschaftliche. Im übrigen habe ich dieses Versprechen über all die Jahre ja immer wieder auch schon eingelöst; zuletzt in Wahl!
Kurz nach Deinem Tod habe ich mich selbst ja auf jene Achterbahn begeben, auf der Du - zwar als Jüngerer, gleichwohl auf Augenhöhe - bereits ein paar Runden gedreht hattest. Mit dem Abstand von mehr als 25 Jahren sehe ich meinen eigenen Weg durch die Irrungen und Wirrungen, die auf Deinen Sekundenabgang folgten, als Hinterlassenschaft, als Erbe, als Hypothek, als Mahnung. Ganz und gar sicher bin ich mir, dass Du mir bei der schwindelerregenden Achterbahnfahrt, die ich 1997 absolviert habe, beigestanden hättest. Du hättest mich gestützt in meinen Schwindelattacken, und Du hättest mir den Kopf gewaschen, so wie ich es bei Dir im Frühjahr 1994 bei Dir noch versucht habe. Bevor ich Dir erzähle, was aus meiner Sicht vielleicht bemerkenswert ist, möchte ich daran erinnern, was Brüder zu Brüdern macht; und zwar ohne dabei etwas zu mystifizieren, was ohnehin ein Mythos war. Vier Jahre nach Deinem Tod habe ich mit einer Ausbildung begonnen; ich meine die sich über drei Jahre erstreckende Ausbildung zum systemischen Familientherapeuten in Heidelberg bei der IGST - das war meine Rettung, meine eigene nachhaltige Therapie, die mich vom Kopf wieder auf die Füße gestellt hat. In diesem Kontext ging es auch um Geschwisterbeziehungen - um Geschwister als Rivalen, als Vertraute, als Vorbilder, als Spielkameraden, als Unterstützer, als gleichwertige Streitpersonen. Für mich war die Lücke, die Dein Tod gerissen hat exorbitant. Die zurückbleibenden beiden Geschwister - unsere Schwester und Dein Bruder - haben in den vergangenen 26 Jahren die Unverbrüchlichkeit ihrer Bindung aneinander erfahren uns gelebt. Es ist zutiefst bedauerlich, dass Du nicht mehr erlebt hast, wie Ulla ihre beiden Halbbrüder gefunden hat - überhaupt die fast vollständige Auflösung einer Familiendynamik, die uns belastet und jahrzehntelang mit Geheimhaltung geschlagen hat.
Ein unfassbares Glück - und alles andere als eine Selbstverständlichkeit - ergibt sich aus der verschworenen Gemeinschaft, die Deine zwei Töchter und meine beiden Töchter jeweils für sich und untereinander begründet haben. Ich habe Dir schon aufgeschrieben und berichtet, dass Deine Töchter auf beglückende und beeinderuckende Weise ihren Weg gehen, Ann-Christin und Jens seit vier Jahren mit Mathilda, Deiner Enkeltochter. Um die Mutter Deiner Kinder hast Du Dir nie sorgen machen müssen. Sie ist die Inkarnation einer selbstbewussten, erfolgreichen Frau, die über ein besonderes Maß an Überlebenswillen und Resilienz verfügt. Alles andere kannst Du nachlesen in den vielen Beiträgen, die alljährlich um den längsten Tag des Jahres entstanden sind.
Vor mir liegen Deine Brieftaschen und Dein Portemonnaie. Ich sehe bewusst zum ersten Mal die Fotos und Texte, die Du darin aufgehoben hast. Es sind Fotos aus der Frühzeit Deiner Ehe und Deiner Familie, die ich unbedingt bei Gelegenheit weitergeben muss. Es sind Fotos, worauf Anja zu sehen ist, die Schäferhündin, die uns beiden vielleicht am nächsten war und es sind Texte, die ich heute hier zum ersten Mal ins Netz stellen möchte, weil sie Dir offensichtlich wichtig waren:
Das Glück ist ebenso
habgierig als selbst fremder
Habgier ausgesetzt. So lange
dir nichts genug ist, wirst auch
du selbst das Ziel für die
Begierden anderer sein.
Seneca
Du liebst es frei zu sein.
Manchmal zu zweit
und manchmal auch allein.
Du sagst, es gibt viele Wege zum Glück.
Und doch kommst Du immer zurück.
Weil ich Dich liebe,
weil ich Dich wirklich liebe,
nehm ich Dich so, wie Du nun einmal bist.
Für mich brauchst Du Dich nicht zu ändern.
(Verfasser unbekannt)
Wirklich große Menschen
erregen keine Furcht. Ihre
Bescheidenheit nimmt dem
anderen die Befangenheit.
Wenn eine hochgestellte
Person sie einschüchtert,
ist sie nicht groß; sie glaubt
es nur zu sein.
Elisabetz Goudge
Im Auge des Taifuns
Der Wind heult durch die Straßen
es ist kalt heut Nacht
Du liegst in seinem Arm
irgendwo in dieser Stadt
und er sagt Dir, dass Du schön bist
er fasst Dich zärtlich an
und Du schenkst ihm Dein Geheimnis
das noch keiner kennen kann.
Uns ich seh im Auge des Taifuns
hier im Herzen des Orkans ist alles still
doch ansonsten stürzt mein Leben ohne Dich
ganz langsam ein - Stein für Stein
Stefan Waggershausen
Wie es mir geht
Das sieht doch ein Blinder
Dass es blendend um mich steht
Mein Leben ist nur noch grau
Ich bin fast schon tot
Ich schlafe nicht mehr ein
Nur ab und zu bringen meine rosa Freunde mich heim
Wenn ich daran denk'
Was der andre grad mit dir tut
Soll ich vielleicht sagen, schlafen sie gut?
Das Bild auf meinem Pass stimmt schon längst nicht mehr
Mein Gesicht ist mir fremd
Die Zeiten sind ewig her
Ich bin oft betrunken und eigentlich fast schon tot
Die Wohnung
Die ist ein Gedicht
Vor der Tür hängt ein Schild: „Bitte stören Sie nicht“
Dein Gift wirkt noch immer und macht mich zärtlich kaputt
Ich trage 'nen Sticker, „No Future“, ganz exclusiv
Ich seh' alles nur noch grau, bin eigentlich tot
sitzt e Wermche
mit nem Schermsche
unerm Ermche