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Peter Sloterdijk - der Seher, und warum ich ihn so über die Maßen schätze

Der konnte 2009 sehen und vor allem in halbwegs lesbare Sprache übersetzen, was wir heute einzuordnen haben und woraus wir heute überlebenswirksame Schlüsse ziehen müssen. Und: Er konnte locker das schon zusammendenken, was wir heute - Bernd Ulrich und andere - die langsame und die schnelle Krise zu nennen belieben. Peter Sloterdijk selbst nimmt im Interview, das Adam Soboczynski für die ZEIT (16/2020, S. 47 - Für Übertreibungen ist kein Platz mehr) mit ihm führt, nur am Rande Bezug auf seine Monographie: Du musst dein Leben ändern - Über Anthropotechnik (Suhrkamp - damals noch Frankfurt 2009):

"Wir erleben den Beginn eines Zeitalters, dessen basale ethische Evidenz ich in meinem Buch Du mußt dein Leben ändern als Ko-Immunismus bezeichnet habe. Anders als im Kommunismus geht es nicht um eine Produktions- und Güterverteilungsgesellschaft, sondern um das Einschwören der Individuen auf wechselseitigen Schutz. Eine immunologische Risikogemeinschaft, die weltweite Solidarität verlangt, ist allem Schrecken zum Trotz denkbar."

Die Zeit des lockdowns bringt ungeahnte Zeitreserven zum Vorschein, die das Lesen wieder zu einer scharfen Option erhebt im Ozean medialer Beliebigkeit. Sloterdijks Monographie war nebenbei - bemerkt - das Abschiedsgeschenk der KollegInnen und MitarbeiterInnen an Rudi Krawitz, unseren langjährigen Institutsleiter an der Uni. Seither gehört er an vorderster Stelle zu unserem Anregungs- und Zitatensteinbruch. Ich habe ihn nun wieder vorgenommen und war erstaunt, wie hellsichtig und mühelos Peter Sloterdijk vorwegnimmt, was uns gegenwärtig widerfährt und dabei gleichermaßen die schnelle wie die langsame Krise in den Blick nimmt.

Es beginnt mit dem lapidaren Hinweis, das wir dem Philosophen Hans Jonas den Beweis verdanken, dass die Eule der Minerva nicht immer erst in den Abendstunden ihren Flug beginnt:

"Durch seine Umformung des kategorischen Imperativs in einen ökologischen Imperativ hat er die Möglichkeit vorausschauenden Philosophierens für unser Zeitalter demonstriert: 'Handle so, dass die Wirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden (S. 708)."

Die folgende Interpretation des modifizierten kategorischen Imperativs taugt zu nichts Geringerem, als zu einem tiefen Eingriff in unsere alltäglichen Lebensgewohnheiten und -vollzüge:

"Weil er jeden persönlich anredet, muss ich seinen Appell auf mich beziehen, als wäre ich sein einziger Adressat. Von mir wird gefordert, mich zu verhalten, als könnte ich auf der Stelle wissen, was ich zu leisten habe, sobald ich mich als Agent im Netzwerk der Netzwerke begreife. Ich soll die Wirkungen meines Handelns in jedem Augenblick auf die Ökologie der Weltgesellschaft hochrechnen. Mir scheint sogar, ich solle mich lächerlich machen, indem ich mich als Mitglied eines Sieben-Milliarden-Volkes verstehe - obwohl mir schon die eigene Nation zuviel ist. Ich soll als Weltbürger meinen Mann stehen, selbst wenn ich meine Nachbarn kaum kenne und meine Freunde vernachlässige. Mögen die meisten neuen Volksgenossen für mich auch unerreichbar bleiben, weil 'Menschheit' weder einge gültige Adresse noch eine begegnungsfähige Größe darstellt: Ich habe dennoch den Auftrag, ihre reale Gegenwart bei jeder eigenen Operation mitzubedenken. Ich soll mich zu einem Fakir der Koexistenz mit allem und allen entwickeln und meinen Fußabdruck in der Umwelt auf die Spur einer Feder reduzieren (S. 708f.)."

Das Zusammendenken von schneller und langsamer Krise findet unterdessen in beschleunigter Form statt. Bernd Ulrich gibt davon einen Vorgeschmack - andere folgen. Peter Sloterdijk hatte all das schon 2009 bedacht und auch auf den Punkt gebracht, indem er den Kollektivtod als einfache Chance definierte. Dazu muss man zunächst einmal biologische Immunität, die sich auf die Ebene des Einzelorganismus bezieht von analogen Immunsystemen unterscheiden. Sloterdijk spricht von zwei sozialen Immunsystemen - den überorganismischen, kooperativen, transaktionalen, konvivialen Dimensionen menschlicher Existenz:

"Das solidaristische System garantiert Rechtssicherheit, Daseinsvorsorge und Verwandtschaftsgefühle jenseits der jeweils eigenen Familien, das symbolische gewährt Weltbildsicherheit, Kompensation der Todesgewissheit und generationenübergreifende Normenkonstanz. Auch auf dieser Ebene gilt die Definition: 'Leben' ist die Erfolgsphase eines Immunsystems. Wie die biologischen Immunsysteme können auch das solidaristische und das symbolische Phasen der Schwäche, ja soger der Beinahe-Erfolglosigkeit durchlaufen. Solche äußern sich in der Selbst- und Welterfahrung der Menschen als Labilität des Wertebewusstseins und als Ungewissheit hinsichtlich der Belastbarkeit unserer Solidaritäten. Ihr Zusammenbruch ist mit dem Kollektivtod gleichbedeutend (S. 710)."

In meinen Argumentationen - eingebettet in einen republikanisch geerdeten Verfassungspatriotismus - spielen inzwischen auch schärfer gestellte Einnordungen eine Rolle, die einem gemäßigten Föderalismus einiges abgewinnen, die auch einen ausreichenden Abstand von zentralistisch ausgerichteten institutionellen Eigenarten einer Präsidialdemokratie halten und die auf der grundlegenden Verankerung von Grundrechten, wie sie unser Grundgesetz garantiert, fußen. Dem geschuldet entwickle ich meine unversöhnlichen Attacken gegenüber rechtsextremistischen Strömungen, die vor allem den Begriff des Politischen wieder beginnen an der radikalen Freund-Feind-Polarität auszurichten, wie sie von Carl Schmitt begründet worden ist. Ich erwähne dies hier sehr bewusst genau an dieser Stelle, weil es Peter Sloterdijk ist, der darauf aufmerksam macht, dass

"wer auf der Linie bisheriger Trennungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden weitermacht, Immunverluste nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst produziert (S. 713)."

In diesem Sinne fordert Sloterdijk, an die Stelle einer Romantik der Brüderlichkeit habe eine kooperative Logkik zu treten:

"Menschheit wird ein politischer Begriff. Ihre Mitglieder sind keine Passagiere auf dem Narrenschiff des abstrakten Universalismus mehr, sondern Mitarbeiter an dem durchwegs konkreten und diskreten Projekt eines globalen Immundesigns (S. 713)."

Zumindest die community der Epidemolgen und Virologen scheint dies verstanden zu haben, denn wie Sloterdijk bereits 2009 feststellt:

"Die Einsicht, dass gemeinsame Lebensinteressen höchster Stufe sich nur in einem Horizont universaler kooperativer Askesen verwirklichen lassen, muss sich früher oder später von neuem geltend machen. Sie drängt auf eine Makro-Struktur globaler Immunisierungen: Ko-Immunismus. Eine solche Struktur heißt Zivilisation (S. 713)."

 Und es folgt die Aufforderung:

"Ihre Ordensregeln sind jetzt oder nie zu verfassen!"

Von dort aus - so Sloterdijk - sind die angemessenen Anthropotechniken zu codieren, die der Existenz im Kontext aller Kontexte gemäß sein müssten:

"Unter ihnen leben zu wollen würde den Entschluss bedeuten: in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen (S. 714)."

Peter Sloterdijk wäre aber nicht Peter Sloterdijk, wenn er uns nicht noch ein bitteres Lächeln oder eher Grinsen abtrotzen würde. Im erwähnten Interview mit Adam Soboczynski antwortet er auf den Einwurf: "Wir leben in einer Zeit, in der es schwierig ist, sich zu verlieben. Man könnte sich anstecken."

"Das Liebesobjekt ist neuerdings ein möglicher symptomfreier spreader. Man könnte auch sagen: Das Objekt hat zu allen bestehenden Optionen, dich unglücklich zu machen, noch eine hinzubekommen."

 

 

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund