Covid 19: Apokalypse oder Paradigmenwechsel? Auf Youtube
Heute schreiben wir den 22. März 2020. Eine gute Freundin teilte mir gestern Morgen mit, sie habe ständige Auseinandersetzungen mit ihrem Mann, weil sie selbst – wortwörtlich – die ganzen Aktionen immer noch für extrem übertrieben halte. Mich hingegen schockieren die Bilder aus Italien, aus Cremona und Bergamo – moderne Pesthelfer fahren in Militär-Lastwagen im Morgengrauen durch die norditalienischen Städte und verbringen die Leichen der Verstorbenen in die Krematorien, die inzwischen Überlast fahren; ähnliche Bilder erreichen uns aus Madrid, aber auch in Würzburg hat das Sterben im institutionellen Kontext eingesetzt. Das medizinische Personal in Norditalien bewegt sich physisch und psychisch in absoluten Grenzregionen und wirkt angesichts der nicht mehr beherrschbaren Dynamik zunehmend traumatisiert. Gibt es da irgendjemanden, der den Schuss noch nicht gehört hat?
Bernd Ulrich jedenfalls hat ihn gehört. Der Titel seines aktuellen ZEIT-Beitrags (13/20, Seite 13-14) vermittelt gleichwohl Optimismus: „Apokalypse, not now!“ Ich möchte ihn für meinen Beitrag in die Frage abwandeln: „Apokalypse oder Paradigmenwechsel?“ Bernd Ulrichs Ausführungen bringen all das auf den Punkt und injizieren uns all das Unaussprechliche wie eine Halluzinogen in unsere abgeschatteten synaptischen Talsohlen. In meinem ersten Blog-Beitrag „Covid 19“ habe ich die Frage gestellt, ob unsere individuelle Angst und unsere Hysterie im besten Fall die Kehrseite sein könnten zu einer ethischen Grundorientierung, die mehr im Blick hat als das individuelle Überleben im Hier und Jetzt?
Mir war es nicht nur ein Anliegen, sondern zentraler alltäglicher Taktgeber, den eigenen (Schwieger-)Eltern, Mutter und Vater, Schwiegermutter und Schwiegervater bis zuletzt beizustehen. Die nun letzte der Ahnen lebt mit im hohen Alter von 96 Jahren in einem örtlichen Altenheim. Wir haben sie dort in den letzten drei Jahren bis zum vergangenen Sonntag täglich besucht – wie unterbesucht muss sie sich nach der totalen Besuchersperre vorkommen, und wie irritiert und schockiert gehen wir mit dem Umstand um, dass sie – wie Bernd Ulrich meint – nun möglicherweise getrennt von ihren Kindern sterben muss? Zerreißt es uns das Herz? Ja, es zerreißt mir das Herz! Die kognitiven und emotionalen Dissonanzen sind kaum zu ertragen. Ich vernehme allerdings die Mahnung Bernd Ulrichs: „Aber das Herz wird noch gebraucht!“
Und Bernd Ulrichs Schreibe schneidet schärfer als ein Skalpell durch unseren daseinsvergessenen Gewohnheitstrott. Er erinnert in die Zukunft hinein, was auf uns alle zurollt:
„Dann diejenigen, die schon jetzt erleben, was der Gesellschaft insgesamt bevorsteht: ihre ganz persönliche Wirtschaftskrise.“ Er malt Zukunft, indem er gleichermaßen lapidar wie unmissverständlich meint, diese Pandemie erzwinge ein gigantisches Experiment: „Binnen Wochen bremsen sich die Gesellschaften herunter, alles wird langsamer, weniger, einsamer.“
Aber es wird eine Zeit nach Corona geben, genauso, wie es eine Zeit vor Corona gegeben hat. Und nun kommen die Sätze, die uns danach fragen, wo denn der Verzicht sich andeutete angesichts eines Lebenswandels, der so tut, als habe er nicht nur die Ressourcen einer, sondern gleich dreier Erden zur Verfügung, um uns hemmungslos unseren Obsessionen hinzugeben. Und das, obwohl in der globalisierten Cyber-Welt niemand mehr die Position für sich beanspruchen kann, von „alldem“ nichts gewusst zu haben: nicht die kerosintrunkenen Vielflieger; nicht die mitleidserweckende, jammernde Rentnergang, die glaubt unter dem Motto: Ich-will-noch-was-von-der-Welt-sehen mit 80 um die Welt jetten zu müssen; nicht die Fleisch-ist-mein-Gemüse-Vandalen, erst recht nicht die Malle-um-die-Ecke-Vollpfosten oder die an fossiler und kinetischer Verschwendungssucht leidenden SUV-ProtzerInnen.
Bernd Ulrich konstatiert und prophezeit: „Corona ist umfassender. Als hätte die Klimakrise beschlossen, zwecks Beschleunigung und besserer Wahrnehmung zum Virus zu werden.“ Wie wird die Rückkehr aussehen zu einer wie auch immer dann gearteten Normalität? „Wie viel von dem, was wie eine Tatsache aussah, war dann bloß Konvention: nicht unabdingbar, sondern Luxus. Was bewirkt diese Erfahrung, wie verändert sie das Lebensgefühl?“
Bernd Ulrich fragt danach, was wohl die kollektive conclusio aus alldem sein wird? „Nachholende Gier, Wachstum auf Teufel komm raus (und der wird dann auch rauskommen)? Oder eine Freiheit, gespeist aus der Erfahrung des überlebbaren Weniger?“
Für Bernd Ulrich war vermutlich am 18. März Redaktionsschluss. Heute bzw. mit Blick auf die nächste Woche trifft seine Feststellung zu: „Und jetzt, wo alles stillsteht?“ Die Beantwortung der Frage, die sich anschließt, wird sicherlich über corona hinaus über unser künftiges Wohl und Wehe entscheiden: „Gibt es eine sinnvolle Verbindung zwischen der langsamen und der schnellen Menschheitskrise, zwischen Klima und Corona?“
Was werden wir erleben? Massenhafte Demonstrationen jener kinetischen Verschwendungshaltung auf den Autobahnen und Flughäfen im Sinne eines Ich-kann-nicht-anders und Das-steht-mir-zu?
Bernd Ulrich beschreibt neben einem nüchternen Faktencheck den Leuchtturm einer beobachtbaren „gewaltigen Solidarität“: „Wann wurden zuletzt kollektiv solche Opfer gebracht, um einige Zehntausend Menschenleben zu retten? Um einer Minderheit von sehr alten und sehr kranken Menschen beizustehen?“
Und nun zum Faktencheck: Bernd Ulrich nennt mit Blick auf einen alternativlosen Zwang zur Besinnung das „atemlose Tempo“, das die Globalisierung mittlerweile angenommen habe. Eine weitere - gegenwärtig in einigen Ländern wie ein Tsunami die Wahrnehmung heimsuchende - Tatsache sieht Bernd Ulrich darin, „dass die Gesundheitssysteme alle mehr oder weniger auf Kante genäht sind“. Die Bilder – schon aus China, nun aus Italien, aus Spanien - zeugen vom totalen Kollaps der medizinischen Notversorgung:
„Unser Alltag muss deswegen so brutal runtergebremst werden, weil es in den Kliniken nicht genug Notfallbetten gibt, weil Ärzte eh schon zu viele Schichten fahren, weil das Pflegepersonal grotesk unterbezahlt und knapp ist, weil sich am Gesundheitssystem Aktionäre und Pharmakonzerne bereichern und weil es genug funktionierenden Lobbyismus gibt, der diesen Skandal verdeckt, zerredet und prolongiert.“
Bernd Ulrich haut uns sodann in die Fresse mit der Frage:
„Wie kann es sein, dass Klima-Aktivisten noch vor wenigen Wochen forderten, wir alle müssten weniger reisen, weniger konsumieren, weniger breitbeinig leben – und dafür angeschrien wurden? Da ging es um den Wunsch nach Vorschriften und Verboten, für deren Nichtbeachtung man heute bestraft würde. Kann der Staat etwa doch handeln.“
Dass nach Corona nichts mehr sein wird wie vor Corona bringt Bernd Ulrich mit dem lapidaren Hinweis auf den Punkt, dass niemand mehr sagen können wird: „Es geht nicht. Man wird sagen müssen: Wir wollen nicht, verdammt noch mal, wir wollen einfach nicht.“
So wie in Covid 19 bereits angemerkt, muss die Menschheit wohl der viralen Metamorphose der Klimakrise ihre Referenz erweisen – oder wie Bernd Ulrich bemerkt:
„Diese verdammte Krise hat einen Möglichkeitsraum eröffnet.“
Werden wir also nach Corona Gretas Hinweis endlich Glauben schenken, dass unsere Hütte brennt? Und werden wir endlich damit beginnen, das Feuer zu löschen und dafür sorgen, dass die Hütte auch für unsere Kinder und Kindeskinder noch Schutz bietet und bewohnbar bleibt. Meine persönliche Meinung ist: Wenn nicht, dann soll – nein – dann wird uns der Teufel holen!