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Wie wollen wir leben? Und wie wird man zum Verfasser der eigenen Lebensgeschichte?

Peter Bieri - vielen bekannt unter dem Pseudonym Pascal Mercier (Nachtzug nach Lissabon) - hat drei Vorlesungen veröffentlicht (Wie wollen wir leben, 5. Aufl., München 2014), in denen er Kernthemen menschlicher Existenz erörtert und dazu anregt, zum Verfasser der eigenen Lebensgeschichte zu werden. Ich nehme die am 13.9. eröffnete dritte Ausstellung meiner Frau - Claudia - zum Anlass, einige seiner Anregungen aufzugreifen.

Zwischen Urknall und Apokalypse – Vernissage in der Gutsschänke Höreth (Stefan Pohl) in Winningen am 13.9.19

Begrüßung zur Ausstellung von Claudia und Laura Rothmund

Liebe Gäste,

um eines vorab klarzustellen: Die immer wiederkehrende Frage, ob Claudia eine schwere Kindheit gehabt habe, wird auch heute nicht beantwortet.

2015 - bei der Eröffnung der letzten Ausstellung Claudias in der Gutsschänke - war noch Claudias Mutter zugegen. Beim Betrachten der Bilder meinte sie zu Claudia, ob sie vielleicht eine schwere Kindheit gehabt habe. Sie hätte darauf ja eigentlich  e i n e  Antwort geben können. Allderdings wäre es sicherlich eine Illusion davon auszugehen, dass Eltern - auch Mütter - und ihre Kinder diesbezüglich zu einer kongruenten Perspektive gelangen können. Die grundlegendste Voraussetzung überhaupt Perspektiven zu entwickeln - gar Verfasser der eigenen Lebensgeschichte zu werden - liegt sicherlich in der Anregung Peter Bieris, die eigene Stimme zu finden. Darüber hinaus könnten Eltern und Kinder - je mit eigener Stimme - sine ira et studio dann das Gespräch suchen. Aber davon träume ich selbst auch nur allenfalls in schwachen Stunden.

Wenn ich den Schwerpunkt meiner kurzen Eröffnungsrede nicht so sehr auf die Ergebnisse des künstlerischen Schaffens lege – da kann sich heute ja ohnehin jeder sein eigenes Bild machen –, dann rückt eher der Schaffensprozess selbst in den Mittelpunkt. Ganz nebenbei bemerkt träume ich in der Tat immer wieder davon - wenn auch teils wider besseres  W i s s e n, die Kindheit unserer eigenen Kinder auch gedeihlich begleitet zu haben. Dass es so gewesen sein könnte, wird zu unserer großen Beglückung sichtbar in der Beteiligung Lauras an dieser kleinen Ausstellung. Stefan Pohl hat das im Übrigen so kommentiert, dass er sich darüber freue, dass endlich auch einmal etwas für ihn dabei sei (es wird im Übrigen auch sichtbar in der Geburt Leos, Annes und Sebastians Sohn - unseres Enkels, der am 8. März dieses Jahres geboren worden ist, und der auf seine Weise alles verändert und beglückt).

Für meine Würdigung der ausgestellten Werke mache ich nun eine Anleihe bei Peter Bieri. In seiner Vorlesungsreihe „Wie wollen wir leben?“ (veröffentlicht bei DTV, München 2014) gibt es ein kleines Kapitel – überschrieben mit dem Titel: „Selbsterkenntnis durch Ausdruck“. Unter anderem ist da zu lesen: „Wer sich in dem, was er ist, nicht ausdrückt, verpasst eine Möglichkeit zu erkennen, wer er ist.“ Er betont, dass die Formen des Ausdrucks ganz unterschiedlich seien und nichts mit Worten zu tun haben müssten:

„Wer man ist, kann sich auch an Tönen, Pinselstrichen und geformtem Material zeigen, an der Art zu filmen und zu fotografieren, zu tanzen oder sich zu kleiden, sogar daran, wie man kocht oder den Garten gestaltet. All das kann eine Quelle der Selbsterkenntnis sein: Man betrachtet, was man gemacht und wie man es gemacht hat und sieht: So bin ich also auch.“

Für den heutigen Tag und die hiermit eröffnete Ausstellung ist nun eine Bemerkung Peter Bieris richtungsweisend, wenn er betont, dass diese Form der Selbsterkenntnis als expressiver Ausdruck, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht in einem versiegelten Innenraum möglich ist, sondern den Weg über die Außenwelt gehen muss, dieses Mal mit Pinsel und Farben oder über die Formgebung einem an sich amorphen Material gegenüber.

 

Nun war und bin ich (oft genug) Zeuge dieser hier Form und Gestalt gewordenen Schaffensprozesse. Und ich kann zu meiner Frau und meiner ältesten Tochter sagen: Ja, so seid ihr auch – ganz unabhängig davon, wie ihr euch selber seht: Dass der Farbenrausch, in dem sich Claudia ergeht und ihre Vorstellungswelten auf Leinwand bannt, auch verbal mit teils drastischer Expression – Fluchen, Zweifeln oder auch – selten genug – mit einer eher stillen Genugtuung einhergeht; dass Laura wochenlang in einer Garage bei winterlichen Temperaturen eine Kettensäge zu ihrem verlängerten Arm und zum materialformenden Werkzeug ihres Gestaltungswillens macht und dabei gleichermaßen fluchend und erschöpft bis zu einer leisen Beglückung gelangt, führt auch zur Beglückung des Beobachters. Dem lebendigen, formgebenden Ausdruck liegen äußerst lebendige Schaffens- und Kraftakte zugrunde; ja  K r a f t a k t e ! Und man mag Peter Bierie ergänzen: Es bedarf nicht nur enormer seelischer Energie, um eine Geschichte zu schreiben, sondern diese Energie ist die Voraussetzung aller gestalterischen Kraftakte. "Man kann gar nicht anfangen, wenn man nicht spürt, dass der Stoff einen in seiner Tiefe berührt und beschäftigt, aus der heraus die nötige Energie fließen wird." Freilich folge ich ihm als Autor, der bereit ist sich auszusetzen, um so mehr, wenn er betont, dass sich an der thematischen Wahl zeige, welche Konflikte, welche Verletzung, Sehnsucht und Vorstellung von Glück den Schreibenden bewege. So ist Hildes Geschichte entstanden. Aber im Wesentlichen verbindet diese Erfahrung all diejenigen, die sich fortgesetzt und konsequent darum bemühen, die eigene Stimme zu finden.

Um mit Peter Bieri zu schließen und uns alle zu ermuntern möchte ich mit ihm betonen: „An dem, was ich schaffe und aus mir heraussetze, erkenne ich die Bewegung, den Rhythmus und die Drift meiner Phantasie, das Gravitationszentrum meiner Einbildungskraft.“ Letztere kann man zuweilen auch mit einem guten Glas Wein beflügeln. In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen vergnügten Abend – übrigens bereits zum dritten Mal mit einer Ausstellung in der Gutsschänke!

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund
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