Stefan Slupetzky - Wir sind im besten Fall Chronisten, allerdings kämpferische! Wie schon bei Hanna Schmitz und Franz Streit
Dieser Beitrag knüpft auch an Christian Geulen an: Völkische Schatten, in ZEIT 5/2017, S. 38
Auch dieser Beitrag beginnt mit einem Dank. Ich danke Barbara und Michael für ihr Weihnachtsgeschenk: Stefan Slupetzky: Der letzte große Trost, Hamburg 2016. Die Fiktion mäandere um die Realität herum, meint Stefan Slupetzky in einem Interview, das der Rowohlt-Verlag zu seinem aktuellen Roman verbreitet (Stefan Slupetzky im Live-Interview mit Heinz Sichrovsky im Rahmen der Sendung: erlesen - sendung 133 ). Auf die Frage, wieviel Stefan Slupetzky in seinem Hauptprotagonisten Daniel Kowalski stecke, antwortet er: 60 - 70%. Sein Roman handelt - nach eigenem Bekenntnis - "von der Last der zweiten Nachkriegsgeneration, Chronisten der eigenen Großeltern zu sein".
Mich beeindruckt Slupetzkys Versuch. Zehn Jahre älter als er, gehöre ich zur ersten Nachkriegsgeneration und sehe mich seit Jahren der Situation ausgesetzt, Chronist der eigenen Eltern zu sein. Es gibt schon jetzt eine Schlüsselstelle in Slupetzkys Roman, die ich für bemerkenswert halte, weil Vater und Sohn in einem Gespräch auf die tragische und dramatische Dimension in den Geschichten der Kriegsopfer und -täter stoßen. Wie lebt man als Sohn und als Enkel eines Kriegsverbrechers der ersten Kategorie? Die Antworten, die Vater und Sohn auf einer Reise in Venedig finden, sind gleichermaßen ernüchternd wie verblüffend. Und für uns, die wir in der geschichtlich längsten Friedensperiode mitten in Europa leben, stellt sich noch eine ganz andere Frage:
"Aber sind wir wirklich bessere Menschen, nur weil uns die Zeit, in der wir leben, besser aussehen lässt?" Der Vater zeigt sich für Daniel im Gespräch ungewöhnlich einfühlsam und kenntnisreich - insbesondere mit Blick auf die Geschichte der Juden in Europa. Ihre Reise führt sie unter anderem ins Sestiere Canaregio, "dessen Herz die kleine Insel bildet, auf der im ausgehenden 16. Jahrhundert das jüdische Ghetto errichtet worden war [...] Wiederholte Flüchtlingswellen aus ganz Südeuropa hatte die Bevölkerungszahl auf dieser kleinen Insel in kurzer Zeit vervielfacht", berichtet der Vater. Daniel knüpft mit dem Hinweis an: "Angespuckt, gefoltert und ermordet, durch die Welt gejagt und wie das Schlachtvieh eingepfercht - warum?"
Es beginnt nun ein Gespräch der beiden, das mit der oben zitierten Schlüssefrage endet. Zunächst einmal antwortet der Vater auf die Frage Daniels, warum die Juden im schon immer im Mittelpunkt des Fremdenhasses gestanden hätten:
"Weil es den meisten Menschen leichterfällt, das Fremde zu vernichten, als es zu verstehen."
Der Vater ergeht sich in einer kenntnisreichen Schilderung religiöser Vorschriften aus dem Regelwerk des Talmuds und Daniel fällt auf, dass er diese Vertrautheit des Vaters mit der Geschichte und der Lehre des Judentums "als von Geburt an da gewesene Gegebenheit angenommen hatte, ohne auch nur ein Mal nach dem Grund dafür zu fragen:
Jetzt, im Ghetto von Venedig, schien es ihm mit einem Mal verblüffend: Paul Kowalski, Sohn eines der größten Nazi-Kriegsverbrecher, derer Österreich sich schämen durfte, war ein regelrechter Talmudist." Und Daniel schließt die Frage an:
"Sag, warum weißt du eigentlich so viel über die Juden?" Der Vater antwortet: "Weil...", er zieht die Augenbrauen hoch, als sei die Antwort völlig selbstverständlich, "weil ihr welche seid, eure Mutter, dein Bruder und du."
Der Vater erzählt seinem Sohn Daniel, dass es ihn schon immer interessiert habe, was die Menschen auf der Welt so glauben, und vor allem wie sie es so glauben: "Einer nimmt den Hut ab, wenn er in den Tempel geht, der andere setzt extra einen auf. Die einen heiligen den Wein, bei wieder anderen ist er veboten. Und das alles nur, weil sie der Meinung sind, es gebe etwas Größeres als Fressen, Scheißen, Kopulieren und Geldverdienen, etwas, das das nackte Dasein erst zum Leben macht."
"Das sie sich dann aus lauter Glaubenseifer gegenseitig nehmen",
bemerkt Daniel darauf hin. "Schon möglich", räumt der Vater ein. Aber meistens gehe es dieser Art von Mördern eben doch um Macht und Geld. "Wie deinem Vater?" Slupetzky erzählt, dass sich Daniel auf die Zunge beißt, kaum dass er die Worte ausgesprochen hat. Slupetzky markiert den Unterschied, den diese Auslassung Daniels für den Vater und ihn selbst bedeutet. Daniel hofft spontan, "dass er keine Wunden aufgerissen hat, die für ihn selbst, den Zweiundzwanzigjährigen, nur Randnotizen auf den Seiten eines ungelesenen Geschichtsbuchs sind". Aber der Vater reagiert ruhig, eher gelassen und beginnt dann mit der Schilderung von Vorkommnissen, die in ihm unauslöschliche kognitive und emotionale Dissonanzen ausgelöst haben:
"Ich denke schon... jedenfalls zum Teil. Es gibt da etwas, das ich nie so recht verstanden hab... Weißt du, bei uns zu Hause war er alles andere als ein Gewaltmensch. So etwas wie Zärtlichkeit war freilich nie ein Thema, er war kalt und unzugänglich, aber trotzdem niemals grob oder sadistisch. Nach dem Krieg, als er dann im Gefängnis war - ich muss so acht, neun Jahre alt gewesen sein -, da hab ich dann etwas gefunden. Eine Schachtel, gut versteckt in einem Fach hinter den Büchern im Regal. Es waren Unmengen Fotos in der Schachtel, hundert oder mehr, die mit seiner Leica selber aufgenommen hat. Die meisten waren datiert:"
Daniels Vater erzählt weiter, dass die Datierungen im März 1938 beginnen. Unmittelbar nach dem Anschluss sei der Vater offenbar nach Wien gefahren, um beim triumphalen Einzug Hitlers dabei zu sein. Aber keines dieser Fotos zeige den "Heldenplatz" oder dokumentiere Hitlers Rede oder zeige auch nur die Hunderttausenden, die ihn bejubelt hätten. Er erklärt Daniel den Begriff der "Reibpartien". Die Fotos zeigten nur die Männer und Frauen, die auf dem Pflaster knieten und mit fassungslosen Mienen die Bürgersteige schrubbten: "Eben noch hat man als Mensch das Haus verlassen, und Sekunden später ist man nur noch Ungeziefer in der Gosse, schikaniert, entwürdigt und misshandelt von den eigenen Nachbarn." Die jeweiligen Nachbarn habe man auf den Fotos auch gesehen; sie hätten einen Kreis gebildet um die Reibpartien, nicht nur um sie an der Flucht zu hindern, sondern auch, damit man möglichst nahe am Geschehen war: "Die Kleinen durften ganz nach vorn, man war ja schließlich kinderlieb." Es seien auch Fotos dabei gewesen, die ihn selber zeigten - Erinnerungsbilder; nur dass hinter seinem selbstherrlichen Grinsen nicht der Stephansdom zu sehen sei, sondern die gedemütigten Juden.
Er habe die Fotos verbrannt:
"Zuerst bin ich aufs Klo gegangen, weil ich kotzen musste, und danach hab ich die ganze Schachtel im Kamin verbrannt."
Der Vater erzählt Daniel weiter, dass der Vater später natürlich noch viel Schlimmeres getan habe. Er selbst habe - wie gesagt - immer gedacht, es gehe um Macht und Geld, um einen mörderischen und unbarmherzigen Opportunismus, der uns Kindern als Opferbereitschaft verkauft wurde, als Dienst am Deutschen Reich und unserer Familie.
"Aber diese Schachtel... Manchmal denke ich, in dieser Schachtel war sein wahres Wesen, etwas, was viel stärker war als jegliche Berechnung. Sonst hätte er die Fotos nämlich selbst verbrannt, sobald die Allierten einmarschierten. Wenn man sie gefunden hätte, hätten sie ihn Kopf und Kragen kosten können."
Daniel fragt nach, warum der Vater denn glaube, dass er sie aufgehoben habe. Der Vater antwortet unsicher und fragend:
"Möglich, dass sie ihn erregt haben. Als würde er sich Pornobilder anschauen. Vielleicht hat er sie von Zeit zu Zeit zur Hand genommen... Ich weiß es nicht. ich habe keine Ahnung, nicht einmal den Hauch einer Vermutung. Trotzdem würde ich es gerne verstehen."
"Wie man so sein kann?" insistiert Daniel. "Eigentlich, wie man so werden kann", erwidert der Vater.
"Oder, um es anders auszudrücken: Ob das auch in mir steckt, ob ich selbst in einer anderen Zeit und unter anderen Umständen auch so geworden wäre."
"Wärst du nicht" insistiert Daniel.
"Wer weiß? Ich lebe seit fast vierzig Jahren in Frieden, du seit über zwanzig. Welche Bestien - oder Engel - in uns schlummern, hat sich nie gezeigt. Wir sind im besten Fall Chronisten, die behaupten, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Aber sind wir wirklich bessere Menschen, nur weil uns die Zeit, in der wir leben, besser aussehen lässt?"
"Wir haben Glück", erwidert Daniel. "Wir haben Glück", nickt der Vater. "Wir haben Glück und Autos, Tiefkühltruhen und Fernsehapparate."
Ja, wir haben Glück!
Und wir leben in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat, den wir uns nicht erkämpft haben, möchte ich hinzufügen; einer offenen und freien Gesellschaft, in der niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf (Artikel 2 Abs. 3 des GG). Dies alles findet seine Grundorientierung in Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Ich stelle mir dieselben Fragen wie Daniels Vater. Deshalb beobachte ich nicht nur mich selbst. Ich habe bei meinem akademischen Lehrer Alfred Bellebaum Abbitte geleistet. In meiner Aufarbeitung der Biografie Wolf Biermanns lässt sich dies nachvollziehen. Ich habe in den siebziger Jahren begriffen, welch fundamentale Bedeutung dem staatlichen Gewaltmonopol zukommt, sofern es strengen rechtsstaatlichen Prinzipien unterworfen bleibt. Ich empfehle deshalb neben der Selbstbeobachtung, die konsequente Beobachtung der Staatsorgane - in Sonderheit der Polizei -; die Beobachtung der Eliten im Politik-, Wirtschafts- und Wissenschaftssystem und ganz besonders im Rechtssystem. Um die zivilgesellschaftliche Verwurzelung demokratischer Kultur sorge ich mich mit dem Blick auf kulturelle Eliten und die breite Verankerung einer demkratischen (Streit-)Kultur weniger. Und solange keine grundlegenden Differenzen zwischen den einzelnen Funktionssystemen und einer Zivilgesellschaft im Ganzen zu beobachten sind im Hinblick auf ihre Verwurzelung in der benannten freiheitlich-demokratischen Grundordnung, werden sich die geschichtsklitternden Vollpfosten à la AfD auch wieder einer vollständigen gesellschaftlichen Marginalisierung zuführen.
Diese Entwicklung bekommen wir allerdings nicht geschenkt. Neben rechtstaatlichen Prinzipien wird eine sozialstaatliche Verankerung alleine nicht ausreichen. Die Verteilung gesellschaftlichen Reichtums muss auf den Prüfstand. Und damit das Feld nicht Hetzern vom Schlage eines dumm-dreisten Björn Höcke überlassen bleibt, gilt es zuallererst endlich eine umfassende Bildungsoffensive zu starten und zu verstetigen. Denn nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber - so wie wir es in den USA gegenwärtig erleben. Koblenz bleibt bunt. Dies ist ein klares Zeichen für eine umfassende und breite Verankerung Deutschlands, seiner Städte und Regionen in einer stabilen freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Nachbemerkung:
Slupetzkys Roman macht es für uns - insbesondere die erste und die zweite Nachkriegsgeneration unausweichlich, die Auseinandersetzung um die Thesen Sönke Neitzels und Stefan Welzers zum politischen, sozialen und kulturellen Referenzrahmen des Dritten Reiches weiterzuführen. Daniels Vater gibt uns den entscheidenden Hinweis, von jeder Hybris abzulassen:
"Wer weiß? Ich lebe seit fast vierzig Jahren in Frieden, du seit über zwanzig. Welche Bestien - oder Engel - in uns schlummern, hat sich nie gezeigt. Wir sind im besten Fall Chronisten, die behaupten, aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben. Aber sind wir wirklich bessere Menschen, nur weil uns die Zeit, in der wir leben, besser aussehen lässt?"
Dies ist insbesondere der Grund, warum ich das Gespräch mit Franz Streit aufgenommen habe. Er ist der Vater meiner Schwester und der Großvater meines Neffen und der Urgroßvater meines Patenkindes. Vor und mit Stefan Slupetzky ist es Bernhard Schlink, der hier sowohl als Schriftsteller wie auch als Staatsrechtler wichtige Anstöße vermittelt.
Ergänzung:
Christian Geulen, der Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) lehrt, macht sich in seinem Beitrag für die ZEIT u.a. Gedanken über die Verankerung rechten Gedankenguts im Volk - insofern alle rechten Parteien vom Volk schwärmten. Er schließt zu Recht die Frage an: "Aber wer ist das Volk? Und wieso hat es nur eine einzige Stimme?" Man muss nicht unbedingt auf Norbet Bolzens lapidare Feststellung verweisen, mit der er eine der Grunddifferenzen zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas markiert, wenn es darum geht, die Frage zu beantworten, wieviel Stimmen denn das Volk habe. Unterzieht man sich aber dieser kleinen Mühe, stößt man - wie angedeutet - auf einen Diskurs, der in seiner paradoxalen Spannung ein Grundprinzip pluralistischer Gesellschaftsformationen offenbart:
Jürgen Habermas - so Norbert Bolz - ist noch davon überzeugt, dass auch die moderne Gesellschaft in lebensweltlicher Kommunikation ein virtuelles Zentrum der Selbstverständigung habe und so in einem verständigungsorientierten Diskurs eine vernünftige Identität ausbilden könne. Norbert Bolz meint:
"'Zu schön, um wahr zu sein.' In diesem Diskurskonzept steckt erstens das Vorurteil, technische, technisierte oder strategische Kommunikation sei eine Verfallsform, gemessen nämlich an Dialog und Diskussion. Und überhaupt zwingt die Privilegierung 'vernüftiger', weil verständigungsorientierter Kommunikation Habermas dazu, alle anderen Kommunikationsformen zu entwerten. Zweitens muss gerade eine Soziologie, die Gesellschaft als Inbegriff aller Kommunikationen versteht, vor einer Überschätzung der Sprache warnen: Im Grunde weiß jeder. dass die Umgangssprache unfähig ist, komplexe Konflikte zu lösen [...] Sprache ist zu beliebig, um das Soziale zu struktirieren. Auch reicht der Bezug auf Sprache nicht aus, um die Stiftung von Sinn zu begreifen. Luhmann versteht Sprache deshalb 'nur' als Variationsmechanismus, also in Sprache mutiert Gesellschaft. Sprache als wahrheitsindifferenter Variationsmechanismus oder als Vehikel der Wahrheit, darum geht der Streit." (39f.)
Habermas - so Bolz weiter - skizziere die Bedingungen, die eine solche Verständigung möglich machen würden. Sein Einwand: Aber selbst wenn man diese Bedingungen schon heute herstellen könnte, gelte: "Normalerweise hat man keine Zeit für den Habermas'schen Diskurs." Man müsse entscheiden: "Um ein erstes Zwischenergebnis prägnant als Paradoxie zu formulieren: Konsens kann man nur erreichen, wenn man auf Konsens verzichtet. Wir bekommen immer nur etwas stattdessen und müssen so tun, als ob." Weil Konsens unmöglich sei, müsse man sich mit Akzeptanz begnügen. Wem das wiederum zu pragmatisch erscheine, werde vielleicht den Einwand akzeptieren, dass es Konsens schon rein empirisch nicht geben könne, denn das wäre ja nur denkbar als Identität von Bewusstseinszuständen - bei uns etwa 82 Millionen.
Etwas anderes bedeutet hingegen die Selbstvergewisserung einer nationalstaatlich oder meinetwegen auch europäisch konstituierten politischen Grundordnung auf der Basis der Menschenrechte, wie sie im Grundgesetz in den ersten 20 Artikeln kodifiziert ist.
Christian Geulen geht im Übrigen davon aus, dass die rechten Populisten von Marine Le Pen über Geert Wilders bis hin zu Frauke Petry - im Sinne eines "als ob" - versuchten die Stimme des demokratischen Souveräns als vox populi zu stilisieren, um ihr "archaisches Demokratieverständnis" propagieren zu können. Wir sind das Volk degeneriert auf diese Weise zu der Suggestion, die an vordemokratische Urinstinkte appellierenden, auf Rassismus und Ausgrenzung gründenden Parolen zu einem globalen Kulturkampf repräsentierten die Stimme des Volkes.
"Tatsächliche ist die Gesellschaft, auch in Deutschland, in sämtlichen politischen Themen viel zu gespalten, als dass man einen einheitlichen Willen 'des Volkes' auch nur erahnen könnte. Und so archaisch funktioniert unsere Demokratie glücklicherweise auch nicht - zumindest noch nicht. Sie lebt von unterschiedlichen Partikularinteressen, die im freien Meinungskampf um Mehrheiten ringen, Kompromisse schließen und so in die politische Entscheidungsbildung eingehen."
Das Pluralismustheorem Ernst Fraenkels mag dem ein oder anderen heute in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung als naiv erscheinen; es bleibt jedoch als zentrale Referenz für eine offene, demokratische Gesellschaft alternativlos. Wird es von uns allen nicht mehr als glaubwürdig und realitätsverbürgend angesehen, müssen wir uns mit Christian Geulen in der Tat fragen, "was wir aufgeben, wenn wir die Demokratie als plurales System der Repräsentation unterschiedlicher Interessen Stück für Stück ersetzen durch die mythische Vox Poluli".
Peter Sloterdijk hat anlässlich des Todes von Niklas Luhmann darauf hingewiesen, das sowohl Luhmann als auch Jürgen Habermas, darin übereingestimmt hätten, dass sich beide - bei aller Gegensätzlichkeit - abhängig wissen/wussten "vom schützenden Klima ihrer kulturellen Nische, in diesem Fall dem akademischen Reservat"; und dass beide kaum mehr zu fürchten gehabt hätten, als den "Einbruch des Realen, wobei man unter dem Realen stets auch die Wirkungen der vereinfachenden Gewalt verstehen darf."
Hier schließt sich der Kreis an dem Punkt, wo wir das staatliche Gewaltmonopol in rechtsstaatlicher Bindung betonen. Es ist Galaxien entfernt von jenen Weltbeschreibungen erster Ordnung, wie sie religiösen Fanatikern genauso zu eigen sind wie rechten Populisten. Wir müssen begreifen, dass ein Björn Höcke auf der einen Seite genauso wie religiöse Eiferer auf der anderen Seite für solche Weltbilder erster Ordnung und das ihnen innewohnende Gewaltpotential stehen. Oder, um es mit Peter Sloterdijk zu sagen
"Denn wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten." (153)
Die Norbert Bolz und Peter Solterdijk zugeschriebenen Zitate und Positionen sind entnommen: Luhmann Lektüren, Berlin (Kadmos Verlag) 2010
Ach ja, lieber Christian Geulen, Sie meinen: "Der Slogan, 'Koblenz bleibt bunt' wirkte dagegen eher hilflos, zumal 'Vielheit' längst Teil rechter Rhetorik ist."
Nein, nein - gehen wir doch diesen rechten Populisten nicht wirklich auf den Leim. Deren programmatische Basis dampft in der Tat - wie Sie sagen - auf ein "archaisches Demokratieverständnis" zusammen, dass mit seinen rassistischen Brauntönen und seiner ausgrenzungsgeilen Schwarzmalerei nichts anderes als ein tristes Grau ergibt. Da können die noch so viel Rhetorikkurse machen: Die Reklamation von Buntheit enttarnt sich flugs als pure Ideologie. Pluralismus, so wie Sie ihn andeuten, kommt zwangsläufig bunt daher - so wie Patchwork. Das ist und bleibt immer eine urdemokratische Herausforderung, mit der man umgehn können muss. Und das ist genau das, was die rechten Populisten nicht können, weil sie aus ihrer politischen DNS alle Buntheits- und Vielheitsgene entfernt haben. Wir müssen ihnen nur genau zuhören!