Kurz vor Schluss - über Familiendynamiken und andere chaotische Phänomene - einige Impressionen
Wolfgang Loth stellt in Heft 4/2016 der Familiendynamik die Frage, ob man über "Schluss" sprechen könne? Er nennt diesen Beitrag, der unter der regelmäßigen Rubrik "Kurz vor Schluss" auf der vorletzten Seite der jeweiligen Ausgabe erscheint: "Ach ja, Verantwortung".
Aus technischen Gründen erscheint der Beitrag bereits hier auf der Startseite, obwohl er noch gar nicht erstellt worden ist. Ich freue mich auf eine anregende Nachtarbeit.
Ja, so ist das manchmal, auch heute Nacht - kurz vor Schluss ist dann doch noch etwas anderes zu tun. Und das, was Vorrang haben sollte, bleibt liegen. So gerate ich unversehens mitten hinein in die anregenden Impressionen von Wolfgang Loth, der in seinem Beitrag zuerst die Frage stellt:
"Schluss von was? Ob da etwas zu Ende geht? Ob da schnell noch etwas zu erledigen ist? Kurz vor zwölf und danach die Sintflut? [...] Der Teufel steckt im Detail und kommt womöglich mit dem Schluss. Kann man über Schluss sprechen? Oder: Ist noch kein Schluss, solange man reden kann? Über irgendetwas, mit irgendwem? Kommunikation sei 'eine außerordentlich robuste Operation - man kann immer noch etwas sagen, wenn man in Schwierigkeiten kommt', bemerkt Luhmann in seiner Einführung in die Systemtheorie (Heidelberg: Carl-Auer, 2002, S. 138). Da könnte man gleich Luhmann zitieren, wenn einem nichts Besseres einfällt und einem die Ereignisse um die Ohren fliegen."
Die Ereignisse fliegen einem in der Tat manchmal um die Ohren. Und ob die von Rudi Krawitz und mir immer wieder zitierte Strophe aus Gottried Benns "Kommt" eher zu Optimismus einlädt - das möchte ich unterdessen doch stark bezweifeln bzw. differenzierter betrachten:
Kommt -
Kommt, reden wir zusammen - wer redet ist nicht tot - es züngeln doch die Flammen - schon sehr um unsere Not.
Zunächst einmal, um gleich den Horaz zugeschriebenen Aphorismus mors certa - hora incerta zu bemühen, wissen - zumindest die meisten von uns nicht, wann es kurz vor Schluss ist. Da gibt es Unterschiede, die einen Unterschied machen.
1. Impression
Ich habe die vergangene Woche alleine mit meiner 93jährigen Schwiegermutter verbracht - zu Hause. Das ist ungewöhnlich genug. In der heutigen Ausgabe der Rhein-Zeitung war auf der Titelseite zu lesen, dass die Lebenserwartung sich nur noch in sehr bescheidenen Dimensionen erhöhe - nahezu stagniere. Danach erreichen Männer einer durchschnittliches Alter von etwa 79 Jahren, während Frauen sich durchschnittlich einer Lebenserwartung von etwa 82 Jahren erfreuen. Wie mag Wolfgang Loths erwähnte Vorstellung, es sei möglicherweise kurz vor zwölf, wohl auf meine Schwiegermutter wirken? Wie kurz vor zwölf mag ihr Lebensgefühl sich anfühlen? Wo es doch für die Mehrheit z.B. ihres Jahrganges schon längst zwölf geschlagen hat! Ist morgen zwölf - oder vielleicht doch erst in knapp sieben Jahren? Immerhin hat sie noch ein Ziel vor Augen: Hundert zu werden ist eben keine Kleinigkeit! Wann ist für mich kurz vor zwölf? Mors certa - hora incerta! Ist es womöglich schon so weit - oder habe ich vielleicht - gemessen an meiner Schwiegermutter - noch fast ein Drittel meines Lebens vor mir? Und vor allem: Ist das ein erstrebenswertes Ziel? Was lässt sich dazu sagen - auch angesichts der gemeinsam verbrachten Woche - ohne Störungen von innen und von außen? Sollte Gottfried Benns "Kommt" ein Maßstab sein, backen wir kleine Brötchen: "Kommt reden wir zusammen, wer redet ist nicht tot." Wir haben nicht miteinander geredet. Aber wir haben große Brötchen gebacken - pardon Kuchen, jeden Tag Kuchen! Die Meisterschneiderin, die die Damenwelt von Koblenz in den fünfziger und sechsziger Jahren eingekleidet hat, die ein Leben lang figurbetont und figurbewusst ein Höchstmaß an Disziplin geübt hat - mit Trennkost und anderen Ernährungsweisheiten - ißt zu Mittag ein Stück Kuchen oder auch zwei; und nach der Mittagsruhe mit einer Tasse Kaffee ein weiteres Stück. Es ist eine Lust ihr dabei zuzuschauen. Und wenn alte Augen wieder zu Kinderaugen werden und Dankbarkeit ausstrahlen, dann muss man nicht mehr viel reden. Das größte Glück ist zu erleben, wie der Terror des Figur- und Jugendkults abfällt und wie im Alter die Lust am Essen das Zepter in die Hand nimmt.
Die Beilage der ZEIT zur Frankfurter Buchmesse (Nr. 43 Oktober 2016) wartet mit dem Titel auf: "Ja heißt ja! Und wie geht es dann weiter mit der neuen Frauenbewegung? Ein Gespräch mit Margarete Stokowski und Mithu M. Sanyal über Macht, Autonomie, Männer und guten Sex". Auf Seite 53 erklärt Sanyal in Stokowskis Buch "Unternrum frei" (Rowohlt, Reinbek 2016) sei ihr Lieblingskapitel:
"Eine Poesie des Fuck You" - woraufhin Stokowski kurz und bündig erläutert: "Die Poesie des Fuck You ist eine Soforthilfe für unangehme Momente, in denen uns vorgeworfen wird, wir würden zuviel fordern oder seien zu hässlich oder zu fett für die Welt. Dann hilft es sich an Fälle zu erinnern, wo Widerstand funktioniert hat - im Leben, in der Lyrik, in Musik oder Filmen. Wie eine Freundin sagt, wenn ihr einer vorwirft, sie habe zugenommen: 'Das ist meine Wampe, du Opfer!' Über Opfer als Schimpfwort kann man streiten. Aber es dreht die Perspektive um."
Jawohl mit meiner Schwiegermutter erlebe ich, was eine umgedrehte Perspektive bedeutet und was es heißt, nichts mehr zu müssen, sondern vollkommen losgelöst von den blödsinnigsten Erwartungen zu sein - ein bisschen spät, vielleicht kurz vor zwölf, aber immerhin!
Mich erschreckt allerdings die andere Seite dieses Losgelöstseins und im engeren Sinn des Vergessens. Gewiss verschafft das Vergessen Erleichterung. Ein Leben im Hier und Jetzt konzentriert sich in den wenigen Erinnerungsinseln auf Kindheit, Jugend und einige wenige - vermutlich überlebensnotwendige Narrative. Was mich erschreckt? Dass mein Schwiegervater tot ist, denn: der ist nicht tot, dessen man sich erinnert. Und meine Schwiegermutter erinnert sich nur noch - jedenfalls in dem Sinne, dass sie uns daran teilhaben lässt -, wenn man ihre Erinnerungen zurückholt in die Welt der Kommunikation - zuweilen mit Erfolg - immerhin!
2. Impression
Ich stöbere gern in nachgelassenen Bibliotheken. Bei einer dieser Gelegenheiten fällt mir ein Heft (12/2005) des MERKUR in die Hände. Die Soziologiekolumne entstammt der Feder von Karl Otto Hondrich. Der Andernacher Junge schreibt über "Sex und Liebe"; seit der Veröffentlichung von "Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft" (2004) begeistert mich seine altersweise Betrachtung elementarer sozialer Phänomene. Er ist leider - wie Luhmann - im Alter von 70 Jahren viel zu früh gestorben. Und obwohl er - 37er Jahrgang - mir 15 Jahre voraus hat, kann ich mich mit den zentralen Aussagen und Hinweisen seiner Kolumne weitgehend identifizieren:
"Über Sex und Liebe zu sprechen, fällt mir nicht leicht. Meine Pubertät lag ja vor 1968, in einer Zeit, in der es sexuell mehr Scham und Schweigen als Aufklärung gab, und weniger Freiheit als Repression."
Cum grano salis deckt sich dieser Eindruck mit meinen eigenen prägenden Erinnerungen. Und die Startseite meines Blogs lädt mit Verboten und Schamverlust zu einer ersten Reflexion dieses schamerfüllten und repressiven Hintergrundrauschens ein.
Die Impression resultiert allerdings dann aus einer Bemerkung Karl Otto Hondrichs, die mich merkwürdig berührt. Ähnlich wie in meinem Beitrag "Schamverlust - eine Selbstverortung" schildert Hondrich ein äußerst bescheidenes und fast Mitleid erweckendes Desaster sexueller Sozialisation:
- Es gab keine Aufklärung - vor allem keine "offzizielle" - weder in Schulen noc in den Familien. "Zwar probierte und erfuhr man einiges mit Gleichaltrigen, in den Büchern. Aber auch dabei war die Scheu groß. Ich betrieb ein Art Selbstaufklärung, und zwar so, wie das in Familien üblich war, die einen Bücherschrank hatten. Man griff, wenn die Eltern aus dem Haus waren, ins oberste Fach, hinter die erste Reihe, und zog ein schwer gebundenes Gesundheitsbuch - bzw. Krankheitsbuch hervor, in dem auf Schautafeln, vielleicht sogar aufklappbar, die Geschlechtsorgane abgebildet waren. Das Weitere musste man mehr oder weniger erahnen. Die Aufklärung durch Ahnung und Vorstellung hinterließ ein kribbelnd-unbehagliches, leicht feierliches Gefühl. Ähnlich wie ein sonntäglicher Kirchgang."
- Hondrich erzählt, dass diese einschränkenden Momente natürlich auch Sehnsüchte weckten: "Meine gingen in Richtung Paris. Frankreich galt als das sexuell fortschrittlichste Land überhaupt. Liebende küssten sich dort öffentlich." Hondrich entzaubert den französichen Mythos im Fortgang, indem er lapidar feststellt: "Und es gab Fotos von Küssenden, die, wir wir inzwischen wissen, gestellt waren und heute von den Bouquinisten nostalgisch vermarktet werden."
Was mich besonders anrührt ist dann eine Bemerkung, die vor allem deshalb nachwirkt, weil mir der Ort des Geschehens vertraut ist und - wenn ich knapp 50 Jahre zurückdenke - nur wenige Kilometer von Remagen entfernt ist, wo wir Jungs uns erstmals - wenn auch nur als Mitglieder einer mäßigen Rockband - im Spiegel weiblicher Aufmerksamkeit erkennen durften. Hondrich schreibt:
"Wie anders war das damals am Rhein: Als ich Ende der fünfziger Jahre auf einer Terrasse im Weinort Leutesdorf, wie es im rheinischen Liedgut steht, ein Mägdelein küßte, wurden wir vom Wirt zur Ordnung gerufen."
Die Weisheit Karl Otto Hondrichs habe ich an anderer Stelle ausführlich gewürdigt. Hier sei abschließend ein interessanter Gedanke des aufmerksamen Beobachters Hondrich wiedergegeben, der geeignet ist, uns gerade heute - Ende 2016, schon 9 Jahre nach seinem Tod - ein Grübeln auf/in die Stirn zu zaubern. Er fehlt uns genau in dieser Hinsicht, nämlich in der Fähigkeit, gewohnte Sichtweisen gegen den Strich bürsten zu können:
"Verhüllen, das ist, vordergründig, ein Rückschritt. Jedenfalls ist es ein Rückgriff. Verhüllt, gelegentlich verschleiert, waren die Frauen ja damals. Und das Damals kehrt zurück, von außen, in Gestalt der jungen Muslimin, die der atemberaubenen Enthüllungsgeschichte des Westens eine entschiedene Verhüllung entgegensetzt. Das Damals als Provokation im Heute. Bedeckung als Provokation eines Fortschritts, der sich als Entdeckung versteht. Ein großartiger Kontrapunkt in einer Welt, in der alles auf Enthüllung und Aufklärung angelegt scheint.
Die Selbstverhüllung - mutig, weil sie die muslimischen Frauen hier und jetzt zu Außenseitern und Trägern des Gestrigen macht - birgt in sich Chancen einer anderen Aufklärung: daß Enthüllen auf Verhüllen angewiesen ist; das Enthüllen ohne Verhüllen nicht fortschreiten, ja nicht einmal bestehen kann. Daß zu der Bewegung des Fortschreitens auch das Verhüllen gehört. Daß wir nicht leben können, ohne zu erkennen und anzuerkennen, daß im Heute gleichzeitig das Damals anwesend ist. Die muslimische Frau ist mehr als ein Symbol. Aber sie ist auch ein Symbol einer modernen Welt, die ohne die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht modern, ja nicht einmal existent wäre. Sie weist auf Spannungen hin, die wir aushalten müssen. Auf einen Konflikt, der die Risiken der Gewalt, aber auch die Chancen des Ausgleichs in sich trägt."
3. Impression
Wolfgang Loth (siehe oben) erinnert uns ja kurz vor Schluss daran, dass es da noch etwas gibt: "Ach ja, Verantwortung"! Aber diese Erinnerung löst z.B. mit Blick auf die eigene Familie schon immer die unterschiedlichsten Reaktionen aus:
"Praktisch gibt es viele Optionen, viele Möglichkeiten, die drückende Verantwortung abzufedern: Man kann sie lieben (die kleinen und großen Familienmitglieder), man kann schauen, wo und wie man Einfluss nehmen kann (und landet nicht selten beim 'Technologiedezifizit' und spricht dann vielleicht von Demut, oder man wünscht sich den herbei, der einmal das HB-Männchen heruntercoachte [...] Und manche wiederum wählen Fexit. Exit ist in, Grexit, Brexit - warum nicht auch Fexit? Family Exit. Aussteigen aus der Verantwortung."
Dass es mit den Optionen so eine Sache ist, stellt Loth vorher schon klar, indem er sich an Bertrand Russel erinnert. Der hätte (in seiner Autobiographie) auch etwas Substanzielles über Familie gesagt, der alte Mengenlehrer: "Nur durch Kinder hören Verhältnisse auf, eine rein private Angelegenheit zu sein." Mit drei sei spätestens die Bedingung der Möglichkeit von Chaos gegeben. Wolfgang Loth schlussfolgert, demnach sei der (mathematische) Beginn der Familie gleichzeitig so etwas wie die Vertreibung aus dem Paradies des Privaten. Angesichts dieser Ausweglosigkeit ermuntert Wolfgang Loth dazu, kurz vor Schluss doch noch einmal einen Versuch des Innehaltens zu wagen und der Wehmut über das verlorene Paradies Raum zu geben und am Ende eben nicht am Ende zu sein, sondern am Beginn von etwas, was sich noch entwickeln könne:
"Exit vom eingefahrenen Muster, Ausblick auf Spielräume, Familiendynamik als Möglichkeitsraum. Das wäre dann ein Ausblick. Ein 's' kann eingefügt werden: von Exit zu Exist."
Doch auch "Exist" gewinne Bedeutung erst im Kontext. Man müsse nicht unbedingt die Chaosrhetorik bemühen, um zu verdeutlichen, dass Existieren eine Grundlage brauche:
- Umwelten, die nähren, es brauche
- Schutz,
- Anerkennung,
- Respekt!
"Ob Auseinandergehen oder Miteinandergehen, beides macht Arbeit. Familiendynamik ist anspruchsvoll. Ob's wahr ist oder nur so war: Kurz vor Schluss bleibt immer genug zu tun."
Wir haben uns in der Familie für "Exist" entschieden und bemühen uns um die zitierten Grundlagen. Was dabei hilft? Arnold Retzers Idee von einer "resignativen Reife" (zuletzt in: Psychologie heute compact). Auch die habe ich weidlich vorgestellt und referiert. Hier drängt sich eine Impression auf, die wir nicht bereit sind so ohne Weiteres zu akzeptieren: Dass wir nämlich - vor allem kurz vor Schluss - erkennen, was dabei passiert:
"Was dabei passiert, ist nichts anderes als Trauern. Trauern um etwas, was mit dem Leben nicht vereinbar ist."
Arnold Retzer führt den Begriff der Vergebung ein - Vergebung bedeutet: "Ich gebe meine Ansprüche an den anderen auf und auch an mich selbst. Die Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner wird aufgelöst." Und obwohl die Vergebung eine grundlegende Veränderung einer Beziehung nach sich ziehe, betont Retzer, dass sie kein kommunikativer Akt sei:
"Vergebung findet unter zwei Augen statt. es ist nicht der gnädige Sprechakt: Ich vergebe dir! Der Partner muss nichts von der stattgefundenen Vergebung erfahren. Man macht nicht dem Partner das Geschenk der Vergebung, sondern sich selbst."
Nur wenn Vergebung als ein Akt empfunden werde, bei dem man sich selbst etwas Gutes tue, sei sie überhaupt möglich. An keiner anderen Stelle erweist sich die Haltung einer resignativen Reife im Sinne einer existentiellen Bedingung für ein auskömmliches Miteinander in der Familie als unverzichtbarer. Retzer bringt es zu der Einsicht, man könne Klienten eben nicht verordnen, zu vergeben:
"Es liegt einzig und allein bei den Klienten, wann und ob es für sie einen Sinn ergibt zu vergeben. Vergeben ist eine autonome Entscheidung."