Demenztagebuch vom 14.8.2007-18.8.2007
Aktuelle Einlassung: 22.12.2015 - Irgendwie ist es schon merkwürdig, die Aufarbeitung eines Tagebuches aus den Jahren 2003 bis 2010 immer wieder mit aktuellen Durchschüssen zu versehen. Meine Schwiegermutter wird am 23. Dezember aus dem Brüderkrankenhaus in die Kurzzeitpflege im Laubenhof in Koblenz-Güls verlegt. Wir haben also Glück gehabt noch einen Platz für die Kurzzeitpflege in Güls zu ergattern. Das macht Vieles leichter, was in den nächsten Wochen auf uns zukommt. Der Laubenhof befindet sich am entgegengesetzen Ende von Güls - 10 Minuten Fußweg oder drei Minuten mit dem Auto.
Die eigentlichen Lernprozesse aus den letzten eineinhalb Wochen ergeben sich aus dem Durcheinander von Zuständigkeiten zwischen Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung. Ich frage mich, wie solche Fragen und sinnvolle Lösungen für alleinstehende, möglicherweise demente Alte, herbeigeführt werden. Immerhin konnte ich heute schon Lisas Rollstuhl in ihrer neuen Bleibe abstellen. Der Trakt, in dem sie für die nächsten 4 bis 6 Wochen leben wird, heißt sinnigerweise "Heyerberg". Eine zusätzliche Unsicherheit ergibt sich für uns aus der Tatsache, dass Dr. Schmitt, Lisas - und im Übrigen auch mein Hausarzt, mit Wirkung zum 23.12., also morgen, seine Praxis schließen wird. Wir überlegen gemeinsam, wie es nach der Kurzzeitpflege weitergehen soll. Findet Lisa möglicherweise noch einmal Gefallen an einer Lösung, die zu einer Wiederbelebung vollkommen verkümmerter sozialer Kontakte führen könnte. Oder entschließen wir uns zu einer Lösung bei uns zu Hause?
Demenztagebuch 14.8.2007
Heute Morgen habe ich mit Katayzina die Marlena am Busbahnhof abgeholt. Sie wird für drei Wochen die Vertretung auf dem Heyerberg übernehmen. Heute Nachmittag haben wir für Marlena ein Bett besorgt und in Leos ehemaligem Büro aufgebaut - wir, das sind Anne und ich. Laura ist heute mit Sascha für eine Woche auf Tour gegangen. Ihre ursprüngliche Absicht nach Bergen in Nordholland zu fahren haben sie aufgegeben und sind in die umgekehrte Richtung an den Bodensee gefahren. Ich habe ihnen den Zeltplatz in Litzelstetten empfohlen. Um 17 Uhr rief Laura an und berichtete, dass sie tatsächlich dort noch einen Zeltplatz bekommen haben.
Demenztagebuch 15.8.2007
Es scheint doch so zu sein, dass man die nachhaltigen und bestimmenden Effekte einer fremdbestimmten Rahmung des eigenen Lebens notorisch unterschätzt. Neben den beruflichen Erfordernissen mit einer recht kurzen Zeittaktung (Seminare, Prüfungen, Beratungen - ab dem WS Betreuung und Begutachtung nicht nur von Staatsarbeiten, sondern von Bachelor- und in der Folge zeitversetzt Masterarbeiten) dominieren die familiären Zwänge. Grundentscheidungen wie die, den Schwiegereltern ihre häusliche Situation zu erhalten, fordern ein entsprechendes Engagement. Da ist es vielleicht nicht typisch, dass am ehesten noch Claudia beginnt darüber nachzudenken, ob nicht eine Heimlösung für ihren Vater zwingend wird, um sich und auch ihre Mutter zu schützen. Und sie hat natürlich insofern starke Argumente, als man dies nicht blauäugig betreiben darf, sondern bei den gegebenen Wartezeiten früh genug die notwendigen Initiativen ergreifen muss.
Aktuelle Einlassung 22.12.15 (22.37 Uhr): Es erscheint mir unwirklich und verblüffend in der Duplizität der Umstände - mit dem einen Unterschied, dass Lisa, meine Schwiegermutter 2007 sowohl willensstark als auch zäh in ihrer Grundhaltung war, auch noch verblüffend fit für eine 85jährige. Nun im 93sten könnte sie etwas einholen, was wir schon 2007 für Leo in Erwägung gezogen letztlich jedoch verworfen haben. Aber 2007 war eben Lisa noch an der Seite ihres Mannes. Sie ist nun alleine - lange schon tagtäglich auf unsere Hilfe angewiesen. Schaffen wir das noch einmal? Sie müsste zu uns ins Haus; groß genug ist es allemal. Wir würden eine Pflegehilfe einstellen, die notwendigen Umbauten vornehmen - und unser Leben erneut umstellen; einstellen auf die Bedürfnisse der letzten Verbliebenen im Oberhaus!?
Demenztagebuch 16.8.2007
"Wenn es nicht mehr geht" und "Der menschliche Makel" in einer Verfilmung mit Antony Hopkins und Nicole Kidman; ein grandioses Beispiel dafür, wie ein Film der literarischen Vorlage nicht genügen kann. Die nebenstehende Rezension offenbart den strukturellen Makel, der sich in der Zuspitzung eines elementaren Defizits darstellt: Der Unlösbarkeit eines Betreuungs- und Fürsorgenotstands, der sich in einer zunehmend alternden und letztlich hoffnungslos überalterten Gesellschaft auftut. Ich habe mich heute Abend, als ich - wie fast jeden Abend - Leo, meinem Schwiegervater bei der Verrichtung seiner Notdurft beiwohnte, gefragt, ob es denn indiskret sei, die Umstände und die Details dieser Verrichtung seiner Nachwelt zugänglich zu machen; zu zeigen, dass es alleine in unserem Empfinden und Ermessen liegt, all dies, was Menschen alleine, diskret und schamhaft tun, nunmehr nolens volens einer Öffentlichkeit preiszugeben, die sich dessen würdig erweisen muss - also, ob ich all dies in das Licht eines Protokolls zerren soll?
Demenztagebuch 18.8.2007
Seit gestern ist Johann (Stephan Glöckners und Barbaras Sohn, der in der Familie von Michael, Barbaras Mann in zweiter Ehe - und namentlich mein Neffe - heranwächst) bei uns zu Besuch; am letzten Ferienwochende. Wir hatten ihm ein Zweitligaspiel von TUS Koblenz versprochen. Und die TUS hat gestern - nach dem Auftaktdesaster in Mainz ihr erstes Heimspiel gegen Augsburg 2:1 gewonnen. Jetzt sitzen wir auf dem Aussichtspunkt am Heyerberg - Anne, Johann, Biene und ich -, machen eine kleine Wanderung und wollen heute Nachmittag eventuell mit Leo auf den Winniger Flugplatz.
Ja, das haben wir gemacht - inzwischen ist es 23.25 Uhr. Wir versuchen es immer wieder Leo kleine Abwechslungen zu verschaffen; heute mit großem Erfolg. Auf dem Winninger Flugplatz haben wir das übliche Ritual vollzogen, aber dieses Mal bei gutem Wetter, draußen auf der Terrasse: Und! Wir haben die Landung einer JU52 erlebt - zur großen Freude und Erbauung Leos. Morgen ist Flugtag in Winningen.
Demenztagebuch 19.8.2007
Nein, ich öffne mit dem 19.8.2007 eine neues Fenster. Die nun folgenden Eintragungen machen einmal mehr deutlich, wie bescheiden, begrenzt und eigentlich unsinnig die Ausklammerung, die Ausgrenzung eines "Demenztagebuchs" aus dem lebendigen Fluss eines Tagebuches ist. Aber ich bin noch nicht so weit! Diskret ist, wer weiß, was er nicht bemerkt haben soll!