"Inklusion als Paradiesmetapher" (Wolfgang Jantzen) oder: Zwischen den Fronten?
Kurze Vorbemerkung: Peter Rödler hat einige Klarstellungen angeregt im Zusammenhang mit meinen Beiträgen Inklusion I und Inklusion II. Als Grundlage hierfür beziehe ich mich auf Wolfgang Jantzens Vortrag beim Inklusionspädagogischen Wochenende in Dorum 2015, veranstaltet von der GEW-Fachgruppe Sonderpädagogik im Bezirk Lüneburg und VDS im Bezirk Lüneburg, gehalten unter dem Titel: Inklusion in Selektion? Wege - Widerstände - Visionen". Peter Rödler hat ihn mir freundlicher Weise zukommen lassen:
Es ist durchaus spannend sich in einen Diskurs hineinziehen zu lassen, für den Wolfgang Jantzen einschlägige Begriffe kreiert bzw. übernimmt. Da ist die Rede vom "Glaubenskrieg um Inklusion" oder vom "Budenzauber Inklusion" (jeweils S. 1 des Vortragsmanuskripts).
Er spricht von einem "Tsunami der schulgesetzlich verordneten Inklusion" (eine Rechtslage, die er, Jantzen, gut findet) in die ganze Generationen von Lehrern geworfen würden, "ohne auch nur eine halbwegs adäquate Vorbereitung und Unterstützung erfahren zu haben oder zu erfahren", was absolut schädlich und schändlich sei (ebd. S. 6). Er setzt sich kritisch mit Stefan Doose auseinander und kritisiert, dass in seiner Definition "Exklusion als zentraler Bezugspunkt" verloren gehe und Inklusion zum "Himmelreich auf Erden", zur absoluten "Paradiesmetapher" werde (ebd., S. 4).
Wolfgang Jantzen selbst positioniert sich in diesem "Budenzauber" durch zwei klare Aussagen, einmal an Christel Manske orientiert - zum anderen als abschließende (eigene) Empfehlung:
- "Die Abschaffung der Förderschule ohne eine völlige Umstrukturierung der gesamten pädgogischen Einrichtungen kann ich mir nur als Alptraum für alle Betroffenen vorstellen (Christel Manske)."
- "Entsprechend einem neu erschienenen Buchtitel 'Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus', dessen Ankündigung ich heute morgen auf meinem Rechner fand, sollten wir alle uns dort, wo immer wir es können, für 'eine Korrektur der ökonomisch gesteuerten, erwerbszentrierten Gesellschaftslogik' einsetzen, ohne die Inklusion zum Desaster für Menschen mit Behinderungen, deren Angehörige, Pädagoginnen und alle gutwilligen Akteure dieses Projekts zu werden droht."
Damit begründet Jantzen eine Position, der ich mich weitgehend anschließen kann. Sie liefert die Basis, auf der ich mein Verständnis für Bianca Meyer begründet habe.
Spannend wird es nun - im Sinne entstehender Spannungsmomente -, wenn wir die Gesamtargumentation Wolfgang Jantzens genauer betrachten:
Auch hierzu zunächst einmal der Hinweis, dass ich selbst eine Beobachterposition einnehme, die mich weder als Insider noch als Experten klassifiziert. Ich bin weder Sonderpädagoge noch habe ich mich am fachinternen Diskurs bislang in irgendeiner Form beteiligt. Für uns alle gilt:
"Auch Wissenschaftler sind nur Ratten, die andere Ratten im Labyrinth beobachten aus irgendeiner gut gewählten Ecke heraus. Aber keine Theorie kann voraussagen, wie die Ratten laufen. Es gibt nur die Chance der besseren Beobachtungsmöglichkeiten (Norbert Bolz, in: Luhmann Lektüren, S. 51)."
Die "besseren Beobachtungsmöglichkeiten" nimmt Wolfgang Jantzen zweifellos für sich in Anspruch.
Zur Vermessung des "paranoiden Raumes" der Gesellschaft:
Auf Seite 8 seines Vortragsmanuskripts findet sich folgende Passage in Anlehnung und Interpretation des schweizerischen Schriftstellers Martin R. Dean:
"Im paranoiden Raum, der gerade in Gesellschaften, wo 'antirassistische Bemühungen teilweise offizielle Politik sind', sich besonders weit auftut, 'gibt es keine letzte Wahrheit, sondern nur Subjektivismen, Varianten des Wahrscheinlichen'. Möglicherweise ist es ein solcher paranoider Raum, in dem sich die Debatte um Inklusion bewegt (Hervorhebung, Verf.). Ein Raum, in dem wir möglichst mit Bezug auf behinderte Zeugen und ihre Familien, die wir in diesen Raum mit einbeziehen, ständig beweisen müssen und zu beweisen versuchen, die besseren Lösungen zu haben, aber gleichzeitig zu beweisen genötigt sind, dass wir die Besseren und nicht behindertenfeindlich sind [...]. Dann hülfe sicherlich nicht über Inklusion, sondern über Beseitigung von Exklusion zu verhandeln, untereinander und mit Betroffenen, im eigenen Denken, in der eigenen Institution, im eigenen Fach, in der zivilgesellschaftlichen Teilnahme, im rechtlichen und politischen System, im Raum der Globalisierung und Gegenglobalisierung, der weit mehr unsere Debatten bestimmt, als wir annehmen. Es hülfe sehr zu erkennen, dass der andere 'nicht ein Feind, sondern nur ein anderer ist' (ebd., S. 9)."
Ja, der andere soll also nicht ein Feind, sondern nur ein anderer sein?!
Der Text von Wolfgang Jantzen ist für jemanden, der Paradoxien liebt, unter dieser programmatischen Vorgabe eine Offenbarung. Sie grenzt das Terrain, innerhalb dessen sich auch Jantzens Positionierung vollziehen muss, in der Tat als einen "paranoiden Raum" ab, in dem die Ratten sich permanent mit wechselseitigen Exklusionen hervortun. Jantzens Text ist ein Beleg für die Unvermeidbarkeit und Unhintergehbarkeit des Wechselbezugs von Inklusion und Exklusion in einer (funktional) differenzierten Gesellschaft, der im vorliegenden Fall einem "Glaubenkrieg" (Jantzen, a.a.O., S.1) gleichkommt:
"Die Fronten reichen von den Vorkämpfern für schulische Inklusion bis hin zur traditionellen Sonderpädagogik, vom Hervorheben der Nicht-Inkludierbarkeit des des Großteils der in Heimen und Großanstalten internierten Behinderten auf Grund ihrer körperlichen und Verhaltensprobleme bis hin zum gänzlichen Unsichtbarmachen von Behinderung (ebd.)."
Die eine Seite des "Budenzaubers":
Jantzen zitiert einerseits Sierck, der von einer "Inklusions-Mafia" spricht. Von dieser "Inklusions-Mafia" werde die Idee der Inklusion ohne zu Zögern in das bestehende Aussonderungssystem integriert. Ein erstes wirkliches Aufhorchen ergibt sich aus der resümierenden Zusammenfassung, mit der Jantzen dann feststellt, aber auch hinsichtlich dieser "Inklusions-Mafia" sei er durchaus "hoffnungsvoll". Er nennt exemplarisch den Zusammenschluss von zwölf großen baden-württembergischen Anstalten für Behinderte ("Die Initiative"), die die Interessen von ca. 10.000 Menschen mit schweren Behinderungen vertreten wollten, denn - so deren Argumentation: "Es wird immer auch Menschen geben, die nicht inkludierbar sind (vgl. ebd., S. 2)." Seine Hoffnung stützt er auf die "lateinamerikanische Debatte zur Dekolonialisierung":
"Der Prozess der Befreiung umfasst nicht nur die Unterdrückten, sondern auch die Unterdrücker. Auch der Vorstandsvorsitzende der Mosbacher Anstalten (siehe oben) dürfte inkludierbar sein (ebd.)."
Die andere Seite des "Budenzaubers":
Hier stellt Jantzen fest, dass aus der Sicht der Vorkämpfer/-innen der Inklusion bereits das bloße Benennen von Behinderung obszön sei. Er zitiert Wocken, der meint, Kategorien würden die "Einzigartigkeit von Menschen" aufheben, sie seien der "Anfang und das Mittel der Ausgrenzung und zugleich der Anfang und der Kern aller Vorurteile" (vgl. ebd., S. 3). Jantzen führt abstruse Beispiele auf, wonach innerhalb der Inklusion Kinder mit Beeinträchtigungen "U-Boot-Kinder" genannt werden und Geschwister "quasi zu Wahrnehmungsstörungen" verpflichtet würden, weil sie nicht sehen dürften, was sie sehen, weil Eltern von Kindern mit Behinderungen nicht wollten, das benannt wird, was doch alle wüssten.
Lassen sich im "Budenzauber" diese Extremvarianten im Umgang mit dem der Schlüsselkategorie "Inklusion" ausmachen, so beginnt Wolfgang Jantzen nunmehr mit der eigenen Vermessung des "paranoiden Raumes":
Erster Kritikpunkt: Geschichtslosigkeit
Sicherlich zu Recht weist Jantzen darauf hin, dass vor allem in der "Selbstwahrnehmung der Großeinrichtungen" die eigene Geschichte von Ausgrenzung erst nach und nach in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Darüber hinaus sei der historische und systematische Zusammenhang der Begriffe "Integration" und "Inklusion" nicht wirklich und vor allem nicht unter dem Aspekt politischer Implikationen geklärt. Hier sei mit Blick auf die Position Jantzes sein Anschluss an Stefan Doose vermerkt. Er argumentiert, dass gegenüber Integration der "innovative Kern des Inklusionsbegriffs" auf "die gleichberechtigte Teilhabe aller in ihrer Verschiedenheit in allen Lebensbereichen" ziele. Niemand solle ausgesondert werden, weil er anders sei:
"Es geht aber nicht alleine um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ebenso geht es um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung, Menschen mit unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen, junge und alte Menschen, Frauen und Männer, Menschen mit und ohne Kinder - also um alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit."
Jantzen klassifiziert diese Position Dooses zwar als "utopische Zielvorstellung", die aber als solche zu unterstreichen sei.
Zweiter Kritikpunkt: Theoriedefizite
Jantzen bemängelt das Fehlen einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien von Inklusion und Exklusion einerseits sowie Defizite in der Auseinandersetzung mit der Entwicklungspsychologie und der Entwicklungspsychopathologie. Dazu werde ich an anderer Stelle Position beziehen.
Dritter Kritikpunkt: Gesellschaftskritik
All dies wertet Wolfgang Jantzen als Defizite im "Budenzauber" um Inklusion. Wie ernst Wolfgang Jantzen seinen Verweis auf die lateinamerikanische Debatte zur Dekolonialisierung meint, wird erst deutlich, wenn er die Gesellschaft, in der wir alle leben (gemeint ist die Bundesrepublik), näher kennzeichnet. Hier geht es um Unterscheidungen, die eine Beschuldigungsseite von der eigenen Positionierung abgrenzt und in der Folge mit einem Stigma belegt:
- Er bemängelt "die notwendige Öffnung zu einer zivilgesellschaftlichen Debatte für Inklusion in Anbetracht der zunehmenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und der offen artikulierten Geschichtslosigkeit der Mehrheit der Deutschen". 81% der Deutschen wollten laut aktueller Studien die Erinnerung an den Holocaust hinter sich lassen; es sei kaum etwas über die Berliner Afrikakonferenz vor 130 Jahren und dem damit verbundenen Völkermord in den Kolonien bekannt; die Verstrickung Deutschlands in den Völkermord an den Armeniern sei bis heut ungeklärt...
- "Geschichtsvergessenheit" testiert Jantzen aber vor allem der Inklusionsdebatte insgesamt und im Besonderen der 29. Jahrestagung der Integrations-/Inklusionsforscher/-innen im deutschsprachigen Raum. Er spricht gar von einem "exklusiven Höhepunkt an Geschichtsvergessenheit". Im Mittelpunkt dieser Tagung stand offenkundig die mit dem Namen Otto Scharmer verbundene "Theorie U", die kurzgeschlossen wird mit der von Heike Linnepe vertretenen programmatischen Idee (im Kontext systemischer Unternehmensberatung): "Die Vergangenheit ist Schnee von gestern" (Linnepe). Ob ein in Anlehnung an Epstein "Tempozid" diagnostizert werden muss, sei dahingestellt. Dass Scharmer (siehe youtoube-Link weiter oben) im Anspruch Systemtheorie weiterzuentwicklen, sich nicht entblödet "blinde Flecken zu beleuchten" verärgert eher in Hinsicht auf ein grundsätzlich naives Theorieverständnis.
- Wolfgang Jantzen setzt sich in der Folge (ab Seite 9) mit dem "politischen und globalen Raum von Inklusion und Exklusion" auseinander. Er referiert die prekären Daten zur weltweiten Reichtumsverteilung. Diese führe (auch) in der Zivilgesellschaft zunehmend zu einer Aufteilung in drei Zonen: "die der Inklusion der Reichen [...], die der Gefährdung und Verwundbarkeit einer Mittelschicht (moderate soziale Exklusion) und die der Ausschließung oder Exklusion einer Unterschicht (ebd., S. 11)." Auch die BRD - "als gelobtes Land" - erweise sich "als erschöpfte Gesellschaft" mit wachsendem Gerechtigkeitsdefizit. Er folgt der Einschätzung Keupps, der meint, Inklusion klinge wie das Versprechen einer großen Freiheit, bedeute letztlich aber, aus Schon-, Schutz- und Ausgrenzungsräumen in dem Getriebe des globalen Netzwerkkapitalismus anzukommen (vgl. ebd., S. 11).
Wie können wir eine pädagogisch verantwortliche Perspektive entwickeln? (Wolfgang Jantzen ab Seite 12))
Wolfgang Jantzen führt uns mit dieser Fragestellung in den Bezirk des Heiligen und betont mit Enrique Dussel "die Absolutheit der Exteriorität". Ähnlich wie bei Emmanuel Lévinas erscheint die Beziehung zwischen Menschen als etwas so Eigentümliches, dass sie das eigentliche, Welt konstituierende und zugleich transzendierende Prinzip vorgibt, von dem her alle anderen Beziehungen erst verständlich werden. Auf diese Weise führe sie uns über die Welt hinaus zum Unendlichen des Anderen: "Der Andere ist das einzig heilige Seiende". Dies verlange - so Jantzen in Anlehnung an Vidal Fernandez - auf jede Verdinglichung des anderen zu verzichten. Es gehe darum, dem von jeglicher Narration weitgehend Ausgeschlossenen "erneut Sprache und Stimme, voice and vote zu verleihen" (vgl. ebd., S. 12).
Möglicherweise wird hier deutlich, wo Jantzen die "fehlende theoretische und anthropologische Fundierung des Inklusionsdiskurses" verortet. Es wird aber vor allem deutlich - was an vielen Stellen aufscheint -, dass Jantzen die Haltung eines Intellektuellen einnimmt, der für sich beansprucht ein Fürsprecher einer Realität ersten Grades zu sein, der aus einer Haltung der unmittelbaren Not - gepaart mit Wut - heraus argumentiert. Nur so kann man heute noch auf die Idee kommen, dass es darum gehe, "dem von jeglicher Narration weitgehend Ausgeschlossenen Sprache und Stimme zu verleihen."
Ich möchte Wolfgang Jantzen nicht zu nahe treten und bin mir durchaus bewusst, was er denn auch - und vielleicht vor allem - damit meint, wenn er den Ausgeschlossenen Sprache und Stimme verleihen möchte. In seinem Vortrag "Die Neurodiversitätsdebatte und der dekoloniale Kampf gegen Exklusion – Eine neurosoziologische Perspektive auf die Verdinglichung freier Bürger/-innen" (Vortrag bei der Tagung „(Neuro-) Diversität und Normalität“ vom 17.-19.04.2015 an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, Lutherstadt Wittenberg) schildert er zuletzt den Fall von Maik (Bewohner einer Großeinrichtung, der als Autist gilt und dem Wolfgang Jantzen in einer Phase der akuten Selbstverletzung begegnet) und seine "nicht-invasive Kontaktaufnahme" zu ihm:
Vernunft - so resümiert Jansen abschließend, entstehe, "wenn wir den Raum der Grenze gemeinsam mit den Ausgegrenzten zu bewohnen beginnen." Sie entstehe, entsprechend der Shared-manifold-Hypothese der Spiegelneuronentheorie, auf der Basis eines wechselseitigen emotionalen Embodyments (Gallese 2003, 2005), das zumindest einer der beiden Kommunizierenden sicher vorhalten müsse, damit der Raum der Grenze auch für die Exkludierten bewohnbar werde.
"Bewohnen bedeutet die Schaffung eines nicht invasiven Dialogs, bedeutet die Wiederaufnahme der Narration, bedeutet die Anerkennung des oder der Anderen als absolut heilig (Hervorhebung, Verf.) im Sinne von Dussels Philosophie derBefreiung."
Die Schilderungen Jansens sind lesenswert und beeindrucken. Gleichwohl entsteht - liest man "Inklusion als Paradiesmetapher" unter dem Gesichtspunkt der "Anerkennung des oder der Anderen als absolut heilig", der untrügliche Eindruck, dass das Heilige in dem Maße hervortritt wie Narration eingeschränkt erscheint - oder anders gesagt: Es verschwindet in dem Maß, wie sich mögliche Kontrahenten erbärmlicher Flachheit schuldig machen oder zwangsweise inkludiert werden müssen:
- "Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit (von Inklusion) muss offenbleiben, statt die Debatte in solch erbärmlicher Flachheit (Hervorhebung, Verf.) zu präsentieren, wie dies uns regelmäßig die Zeitschrift für Heilpädagogik vor Augen führt (S. 11)."
- "Die Inklusionsdebatte hat mit der 29. Jahrestagung der Integrations-/Inklusionsforscher/-innen in Halle/S. einen exklusiven Höhepunkt an Geschichtsvergessenheit (Hervorhebung, Verf.) präsentiert (S. 7)."
- "Und schon gar nicht scheint auf die notwendige Öffnung zu einer zivilgesellschaftlichen Debatte für Inklusion (Hervorhebung, Verf.) in Anbetracht der zunehmenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und der offen artikulierten Geschichtslosigkeit der Mehrheit der Deutschen (S.6)."
- "Aber [auch hier] bin ich hoffnungsvoll, weist doch die lateinamerikanische Debatte zur Dekolonialisierung zurecht darauf hin, dass der Prozess der Befreiung nicht nur die Unterdrückten [...], sondern auch die Unterdrückten umfasst. Auch der Vorstandsvorsitzende der Mosbacher Anstalten dürfte inkludierbar sein (S. 2)."
Natürlich weiß hier jemand, wie es geht und was die Lösung ist. Vor allem aber scheint er bereit, die "erbärmliche Flachheit" zu identifizieren und auch zu exkludieren, so wie er Uneinsichtige gleichwohl - auch gegen ihre Überzeugung bereit ist zu inkludieren. Er muss sich aber vehement wehren gegen das, was Niklas Luhmann als funktional differenzierte Gesellschaft beschreibt, weil die Beseitigungsphantasien und die Visionen für eine inkludierte Gesellschaft (unter Einschluss des Vorstandsvorsitzenden der Mosbacher Anstalten) übermächtig sind. Er muss immer wieder Südamerika benennen, wo gegenwärtig - zumindest in Brasilien - Frauen um das elementare Grundrecht auf Selbstbestimmung kämpfen, während die Bundesrepublik primär beschrieben wird als "erschöpfte Gesellschaft mit wachsendem Gerechtigkeitsdefizit", die nur ironiehalber als "gelobtes Land" Erwähnung findet (vgl. S. 11). Dann muss natürlich eine Idee unerträglich erscheinen, wie sie von Peter Sloterdijk formuliert worden ist:
"Wer überhaupt bereit ist, sich auf die Annahme einzulassen, dass es Systeme gibt und dass es, wenn es sie gibt, ihr Proprium sein muss, in ihren jeweils anders beschaffenen internen Spielräumen zu funktionieren, wie sie funktionieren, der wäre vielleicht auch geneigt zuzugeben, dass das Dichten und Trachten der Systeme nicht böse ist von Jugend auf (Sloterdijk in: Luhmann Lektüren, Kadmos-Berlin 2010, S. 122)."
Das ist starker Tobak, wenn man das Heilige im Blick hat. Aber was kann man - mit Peter Sloterdijk - über Idealisten weiter schon sagen, die das empirische Ich prügeln, um das transzendentale oder das absolute exaltieren zu können (vgl. ebd., S. 123)?
Natürlich könnte die Luhmannsche Lektion unser aller Horizont weiten, so wie Wolfgang Jantzen uns mit Georg Feuser zu bedenken gibt, dass es hilfreich und entspannend sein könnte, "Integration als Weg und Inklusion als Ziel aufzufassen"; mit der notwendigen Einschränkung, dass Utopie das real Unmögliche kennzeichne, das unabdingbar vor Augen zu halten sei, während der Weg sich jedoch nur im real Möglichen ereigne (vgl. Jantzen, a.a.O., S. 5). Mit Utopia erscheint dann in der Tat jener Unort, der einen Blick auf Zukunft eröffnet, die niemals beginnen kann.
Wolfgang Jantzen und Otto Scharmer seien gleichermaßen an die damit logisch verbundene Definition des "blinden Fleckes" erinnert, den man eben nicht "beleuchten" kann:
"Die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung lehrt uns zu sehen, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann. Dass man nicht sehen kann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann, ist aber die Definition des blinden Flecks (Norbert Bolz in: Luhmann Lektüren, Kadmos-Berlin 2010, S. 51)."
Die damit verbundenen Kränkungen scheinen exorbitant zu sein. An dieser Stelle entfaltet sich die ethische Dimension der Luhmannschen Lektion, die mit dem einhergeht, was er "Selbst-Desinteressierung" nennt. Vielleicht werden wir auf diese Weise auch wieder des Heiligen gewahr:
"Es geht dann um nichts geringeres als das allen Weltbeschreibungen erster Ordnung inhärente Paranoia-Potential und die von ihm gebundene und entbundene Gewalt. Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identitätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten (Peter Sloterdijk in: Luhmann-Lektüren, Kadmos-Berlin 2010, S. 153)."
"Fundamentalinnozentismus" - einige Elemente der "Luhmannschen Lektion" in Sloterdijkscher Auslegung
Nach der Aufklärung (siehe auch Adornos und Horkheimers Versuch das Telos der Aufklärung in der "Dialektik der Aufklärung" zu retten)
Vorbemerkung: Ich füge hier eine weitgehend unveränderte Passage aus Peter Sloterdijks Totenrede auf Niklas Luhmann an (Luhmann Lektüren, Kadmos-Berlin 2010, S 112ff.), um das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber einer Haltung zu begründen, die auch in Wolfgang Jantzens Versuch dominiert den "Budenzauber Inklusion" in Elemente einer wahrheitsfähigen, richtigen Vorstellung von Inklusion zu überführen. Deutlich dürfte geworden sein, dass dieser Versuch sozusagen einhergeht mit der Exklusion falschen Bewusstseins und seiner "erbärmlichen Flachheit".
Peter Soterdijk führt aus, dass die Aufklärung dazu verurteilt sei, fortlaufend über ihre Vorläufigkeit und Unvollendung zu reflektieren - "eine Verlegenheit, die sie nur durch Hinweise auf ihren Projektcharakter einerseits und auf die anhaltende Nicht-Kooperation mächtiger Behinderer andererseits entgeht". Damit wird die Frage zentral, wieso es eine inzwischen an die Macht gekommene und fast allgemein gutgeheißene menschliche Freiheitspraxis es immer noch nicht zu einer hinlänglich guten Welt gebracht habe. Aufklärung wird von Peter Sloterdijk verstanden als fortlaufende Deutung genau dieses Problems mit dem Ziel der Entfremdung Herr zu werden: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen!" Und während
"die Freiheit im mittelalterlichen Dispositiv die Fähigkeit zur Sünde und die Möglichkeit der Zurechnung zum Sünder darstellt, bedeutet sie in der Moderne die Kompetenz zum Entwerfen, Einrichten und Verallgemeinern moralisch befriedigender Weltverhältnisse. Wo diese nicht angetroffen werden, muss man den Schuldigen an ihrem Nichtbestehen benennen (Hervorhebung, Verf.)."
Exkurs: Sloterdijk verweist grundlegend auf Prämissen zur Begründung eines Entfremdungsvorbehalts, der von jeder kritischen Theorie vorausgesetzt wird. Er hält dem entgegen, dass - wo so gedacht werde - der einfache Sachverhalt außer Betracht gerate, dass Fremdheit zumeist weder durch ein Trennungsdrama aufkomme noch in dessen traumatischen Engrammen verfestigt werde. Fremdheit sei die naturwüchsige und schuldlose Ausgangslage zwischen einander zufällig begegnenden Gruppen und Einzelnen, die nie und nirgendwo vereinigt waren: Erst das metaphysische Einheitsvorurteil zwingt dazu, Fremdheit als Entfremdung zu denken und so der Vielheit ihre ontologische Würde mitsamt ihrer praktischen Schuldlosigkeit zu rauben." Sloterdijk verweist auf die theologischen Wurzeln dieser Betrachtungsweise:
"Die augustinisch ausgelegte Einkrümmung in sich selbst hat ihrerseits eine doppelte Bedeutung: Sie bezeichnet nicht nur die aktuelle Situation des Sündigens, die man heute als Kommunikationsabruch in bezug auf ein gesprächssuchendes oder bittendes Gegenüber charkterisieren würde; sie bezieht sich auch auf das habitualisierte Resultat solcher Abwendung, eine hartnäckige Fehlstellung des moralischen Sinns, die sich sogar bei gutem Willen vom Subjekt selbst nicht mehr kompensieren ließe [...] Nach dem Lapsus sind die Sterblichen als Nachahmer Adams und des Satans in ihrer orthopädischen Katastrophe fixiert; sie sind nicht länger frei sich zu entkrümmen und aus eigenen Kräften den abgebrochenen Kontakt mit dem guten Ganzen und seinem personalen Prinzip, dem brüskierten Gott, wiederherzustellen. Sie sind unkonvertierbar pervertiert oder in sich eingerollt und hängen folglich ganz von dem Entgegenkommen der anderen Seite ab. Dieses Entegegenkommen stellt sich ein Weltalter lang unter dem Titel Gnade vor. Der Terminus gibt einen Hinweis auf die - wie es heißt - nur durch den Anderen vollziehbare Wiederaufbiegung der Einkrümmung. Sie bezeichnet das Korrektiv zu einer Überkulpabilisierung, die aus der Gabe der Freiheit das Gift der Schuld machen musste. Auf der Hand liegt freilich, dass die Entgiftung durch die Gnade erst recht an die Vergiftung durch mea maxima culpa erinnert (Peter Sloterdijk a.a.O., S. 110ff.)."
Hier bietet sich die Anknüpfung für die Behauptung Sloterdijks, dass die "kulpabilistische Matrix" auch in modernen Ansätzen weiter in Gebrauch bleibe. Nun kämen jedoch neue Instanzen und originelle Kandidaten für die Stelle des ersten Übels ins Spiel, auf welche die Last des nach wie vor imposanten Weltbösen verteilt werde: "die bürgerliche Eigentumsordnung, die Klassenherrschaft, der Kapitalprozess, die Identitätslogik, die Tauschabstraktion, der Todestrieb, die perverse Rebellion des Subjekts gegen die symbolische Ordnung, der objektivistische Subjektivismus der Neuzeit, der Logozentrismus, die Weigerung, den Vorrang des Anderen zuzugestehen, die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Macht- und Geldsysteme - und einiges mehr."
Die Anwendung dieser Matrix und die aus ihr resultierende Praxis von Exklusion lässt sich an Wolfgang Jantzens Ausführungen zur "Paradiesmetapher Inklusion" exemplarisch aufzeigen.