Lesen als Vergnügen - Lesen als Routine - und als Bedrohung
Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen - Zehn Geschichten (Diogenes - Zürich 2018). Neunzehn Seiten - die erste Kurzgeschichte. Benedict Wells gibt ihre den Titel: Die Wanderung. Ich bin ein akribischer Leser - verliere mich tage-, wochen-, monatelang (manchmal jahrelang) in meinen Lieblingsbüchern; und finde mich zuweilen dort wieder. Zu einem meiner Lieblingsbücher sind Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und Leben (Diogenes - Zürich 2024) geworden.
Vorgestern begleite ich meine älteste Tochter nach Vallendar zu Dr. Mathan, ihrem Gynäkologen - es sind nur noch drei bis vier Wochen zum errechneten Termin der Niederkunft. Meine Tochter lässt mich am Einstieg in den Ort aussteigen - ich muss noch etwas erledigen und werde - bei herrlichem Spätsommerwetter - mit einer kleinen Wanderung durch den Ort die Höhrer Straße erreichen, wo sich Dr. Mathans Praxis befindet. Auf dem Weg dorthin gerate ich in eine chaotische kleine Buchhandlung - ein Regal mit Diogens-Autoren. Ich kaufe Benedict Wells Die Wahrheit über das Lügen. Die Entstehung der Angst habe ich vorgestern bereits gelesen - akribisch. Heute Morgen überfliege ich Das Grundschulheim - Erinnerungen. Dann überlege ich mir, schau doch mal die allererste seiner Geschichten an: Die Wanderung. Wenn ich wenig Geduld mit mir selbst und dem Autoren habe, lese ich Geschichten - insbesondere Kurzgeschichten - auch schon einmal von hinten. Auf der letzten Seite findet sich der Satz:
"Er überlegte, was er darauf antworten sollte, da fiel ihm der kräftige, hochgewachsene Apfelbaum auf, der im Garten stand."
Beim Querlesen der Geschichte wird mir unvermittelt deutlich, dass Benedict Wells für den Haupprotagonisten - Henry M. - auf diesen 19 Seiten einen Bogen spannt, der sein gesamtes Erwachsenenleben als Unternehmer, als Familienvater, als Mann durchmisst. Ich komme auf die Idee auf den ersten Seiten das Pendant zu suchen zu dieser Wahrnehmung, dass da im Garten ein kräftiger, hochgewachsener Apfelbaum steht. Auf Seite 17 werde ich fündig:
"Im Garten betrachtete er das winzige Apfelbäumchen, das er nach dem Hauskauf gepflanzt hatte..."
Bei seiner finalen Wanderung und seiner Heimkehr drängt sich das winzige Apfelbäumchen als kräftiger, hochgewachsener Apfelbaum in seine Wahrnehmung - und für den routinierten Leser wird klar, dass hier jemand die Orientierung in Zeit und Raum verloren hat - es lohnt diese wundersame Geschichte mit ihrer starken metaphorischen Aufladung zu lesen. Auf 19 Seiten gelingt es Benedict Wells ein ganzes Leben punctum auf das Wesentliche zu schrumpfen. Er streut dazu beiläufig kleine, aber biografisch mächtige Impressionen ein:
"Er hatte geglaubt, die Ehe würde ihn sesshafter machen, und später, dass die Kinder ihn verändern würden. Doch auch jetzt gefiel er sich als Flaneur, der leichtfüßig zwischen Familie, Arbeit und Freundschaften hin und her streifte, manchmal verweilte, aber nie ganz zu halten war."
"Ein großes Glücksgefühl überkam ihn. Dies waren die goldenen Jahre, als Vater, als Mann und im Beruf, und er genoss seine Freiheit als Wanderer zwischen diesen Welten, die er für seine größte Leistung hielt. Er winkte der jungen, hübschen Kellnerin. Sie lächelte ihm zu, Henry lächelte für einen kurzen Moment schwärmerisch zurück. Früher hatte er einige Affären gehabt, meistens, um die Monotonie seiner beruflichen Reisen etwas aufzulockern, aber in den letzten Jahren hatte er sich nur noch wenige solcher Eskapaden geleistet."
Henry M. kehrt von seiner letzten Wanderung heim:
"Er stand noch immer an derselben Stelle, zwischen dem Gartenzaun und dem Eingang, und rührte sich nicht. Es waren von hier nur noch acht Schritte ins Haus, höchstens neun, aber er spürte, dass er ess nicht mehr schaffen würde."
Ich war versucht, es hierbei zu belassen. Aber ich bin unterdessen 73 Jahre alt und kann mich nur wundern, wie es einem jungen Mann gelingt - Benedict Wells war eben 34 Jahre alt, als er Die Wanderung verfasst hat - ein ganzes Leben zu durchmessen und aus einem winzigen Apfelbäumchen einen kräftigen, hochgewachsenen Apfelbaum werden zu lassen, denn seine Geschichte beginnt mit dem Unheil verheißenden in Worte gemeißelten Hammersatz: