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Benedict Wells: Kurve und/oder Linie

Benedict Wells widmet der Frage Kurve und/oder Linie zweieinhalb Seiten in Die Geschichten in uns - Vom Schreiben und Leben (Diogenes - Zürich 2024). Er schreibt nicht sozusagen mitten aus dem Leben, sondern er nimmt konsequent die Perspektive bzw. Haltung eines Erzählers ein, der sich bezogen auf Kurve und/oder Linie einige Fragen beantworten muss. Gleichwohl zweifelt wohl kaum jemand daran, dass die Figuren, die Hauptprotagonisten mit diesem binären Unterscheidungsmerkmal - Kurve und/oder Linie - unterschieden werden können. Und es ist auch so, dass Benedict Wells unsere eigene Vergangenheit zum Bezugspunkt macht:

"Denken wir an unsere eigene Vergangenheit, die irgendwann zu unserem Jetzt wurde, schreiben wir uns gern ein logische Entwicklung zu [...] Wir wünschen uns eine charakterliche Entwicklung [...] Aber wir sind beim Schreiben nicht der Sklave dieses Wunsches. Wir sollten die Erwartungen kennen, die wir mit unserer Geschichte bei den Leser:innen wecken - dann können wir damit spielen." (S. 283)

Aber Benedict Wells weist im gleichen Atemzug darauf hin, dass die Wirklichkeit nie so nachvollziehbar und konsequent sei wei in einem Roman: "Oft entwickeln sich Menschen  nicht und machen die gleichen Fehler wieder und wieder. Und fast immer enden die Dinge anders, als wir es uns wünschen: zufälliger, chaotischer, weniger logisch." Umgekehrt störe es ihn, dass pessimistische Geschichten als realistischer gelten, den in der Wirklichkeit sei beides gleichermaßen möglich:

"Manche Trinker:innen schaffen es durch ihren inneren Antrieb oder äußere Ereigenisse tatsächlich, ihr Leben zu ändern - hier nimmt die Figurenentwicklung eine Kurve nach oben. Andere werden trotz der gleichen Ereignisse rückfällig und verhaaren für immer in ihrer Sucht - hier bleibt die Charakterentwicklung eine horizontale Linie. Manche Menschen sind ihr Leben lang egoistisch und neiderfüllt beziehungsweise zufrieden und zugewandt (Linie), andere verändern sich durch bestimmte Erlebnisse und werden empathisch und selbstlos oder bitter und hart (Kurve). Manche glaubten schon als Kinder nicht an sich und schaffen es auch jetzt nicht für sich einzustehen (Linie), andere beschließen eines Tages, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich den alten Mustern zu widersetzen (Kurve)." (S. 283f.)

Benedict Wells meint, es sei ein guter Zeitpunkt um in die Handlung einer Geschichte einzusteigen, wenn sich bei den Figuren entscheide, ob die Linie eine Linie bleibt oder zu einer Kurve werde: "Wir sollten zunächst die Figuren in ihrem alten Zustand zeigen, dann kommt es zum ersten Wendepunkt." (S. 284) Es ist halt wie im echten Leben: "Das Leben besteht aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen." (extrem verknappte Wiedergabe der Lebenslauftheorie Niklas Luhmanns) Das Zusammenspiel aller widerstrebender Kräfte sei es, was fasziniere, meint Benedict Wells - "die Unberechenbarkeit und Frage, wie es ausgehen wird und ob das Ende gut ist, schlecht oder offen. Wer entwickelt sich und wie". (Seite 284)

Mit Blick auf ein ganzes Leben ist es ein Unterschied ums Ganze, ob man über diese Fragen nachdenkt gegen Ende seines Lebens oder eben zu Beginn jener Phase, die uns die Frage, ob Linie oder Kurve aufdrängt bzw. aufzwingt. Wer wir sind, und wie wir sind, das können einem nur die anderen beantworten. All die schwierigen Prozesse, die Helm Stierlin mit der bezogenen Individuation mit und gegen die bedeutsamen Anderen im Blick hat, verlaufen ja in der Regel nicht linear, als einförmige horizontale Linie. Oder glaubt jemand, dass wir für uns selbst und für die anderen ein für alle Mal und unverrückbar immer Dieselben sind bzw. bleiben? Es entstehen Kurven, in denen sich manifestiert, dass wir angesichts der Herausforderungen manchmal an Wendepunkte gelangen, wo wir uns entscheiden müssen. Benedict Wells beschreibt Entscheidungssituationen:

  • Weitertrinken oder aufhören?
  • Bitter und hart sein und bleiben oder Empathie und Vergebungsbereitschaft bei sich und anderen zulassen?
  • Egoismus und Neid pflegen oder Zufriedenheit und Zugewandtheit erwägen?
  • Im Gewohnten und Vertrauten verharren oder sich alten Mustern widersetzen und Neues wagen?

Benedict Wells schreibt auf Seite 100f.:

Wir sind die Geschichten in uns; nicht nur die, die wir erlebt haben, sondern auch die, die wir anderen und uns selbst erzählen […] Ich habe Schreiben gelernt, um Gefühlen nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern sie ins Bewusstsein zu holen und mit Menschen zu teilen, die mir wichtig sind. Etwa mit meiner Schwester (die ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich und der ich Vom Ende der  Einsamkeit widmete, da es ihr viel verdankt). Mit meiner Mutter (die wie bei den Romanen zuvor kluge Fragen und Anmerkungen zur Geschichte hatte). Mit meinem Vater (dem ich das Manuskript mal in mehreren Nächten ganz vorlas). Trotz traumatischer Momente, Brüche und Probleme gab es in meinem Leben immer auch Liebe, Versöhnung und Gespräche, das hat mich geprägt. Und ich hoffe, das schimmert auch durch das Buch.“

So wird Benedict Wells unverhofft selbst zu einem Protagonisten, an dem sich seine Theorie des Erzählens nachvollziehen und belegen lässt:

   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund