-
Danke für Hildes Geschichte (21) - immer mit dem Verweis auf J. Lear - Dankbar? Wofür?
-
Henning Sußebach hat mich auf die Idee gebracht, meinen Blog zu nutzen und Hildes Geschichte noch einmal Kapitel für Kapitel zu erzählen - ganz im Sinne seiner Überzeugungen, die er mit dem Aufschreiben der Geschichte seiner Urgroßmutter verbindet. Hilde, meine Mutter ist inzwischen auch Urgroßmutter, und ich stelle mir vor, dass sie ihre Hand nicht nur über mich hält, sondern über alle, die aus ihr hervorgegangen sind. Bert Hellinger macht uns noch einmal darauf aufmerksam, dass zu diesem Hervorbringen unter Umständen - und Hilde hat solche Umstände erlebt - auch die schlimmen Gesellen gehören. Aber werden wir beispielsweise dem Vater meiner Schwester tatsächlich gerecht, wenn wir ihn als schlimmen Gesellen sehen. Der Ausschluss, das beharrliche Weigern auch jenen Ahnen zu sehen und anzunehmen, dem meine Mutter, die Mutter meiner Schwester, die Großmutter meines Neffen, meiner Kinder und meiner Nichten und die Urgroßmutter aller Enkel:innen in Hingebung und Liebe begegnete, verhindert dort anzukommen, wo ich mich wähne - als jemand der irgendwann die Augen öffnet, sich noch einmal umblickt, aufsteht und geht - im Einklang mit sich selbst und seiner Geschichte.
Dieses 21. Kapitel sollte wohl eines sein, das für sich und aus sich selbst spricht. Ich habe es aufgespannt zwischen den beiden Polen Hoffnung und Verzweiflung. Beginnen wir bei letzterem: Von dem Zeitpunkt an, wo Hildes Schwangerschaft - auch für sie selbst - als unabweisbar im Raum stand, müssen die Selbstzweifel und die damit ausgelöste sittlich-moralische Klemme wie ein Tsunami über Hilde hereingebrochen sein. Änne hatte ihr wohl in aller Behutsamkeit vor Augen geführt, dass sie in der Tat ein Kind in sich austrug, dass sie in weniger als neun Monaten niederkommen würde, dass sie in wenigen Monaten ihre Schwangerschaft nicht mehr werde verheimlichen können, und dass Vorsorge zu treffen sei für ihre Niederkunft. Wie Hilde diese Perspektive für sich selbst angenommen hat, wie überwältigend die Anfälle von ratloser und vernichtender Verzweiflung gewesen sein mögen, entzieht sich gänzlich meiner Vorstellungskraft. Zu dieser Verzweiflung gehört die Unausweichlichkeit, mit der sich Hilde irgendwann in den nächsten Monaten zumindest ihrer Mutter anvertrauen musste. Es ist zu vermuten, dass die Rolle Ännes nicht überbewertet werden kann: Sie hat Hilde Tag für Tag begleitet. Sie hat Hilde ganz gewiss die Option in den Raum gestellt, das Kind wegmachen zu lassen. Sie verfügte vermutlich über entsprechende Kontakte. Sie war es aber ganz sicher auch, die über die intime Kenntnis der Lebensumstände und der überaus katholisch geprägten häuslichen Situation Hildes Bescheid wusste. Das Pendel im Entscheidungsdilemma schlug daher wohl früh in eine andere Richtung aus; dass man nämlich sein eigenes Leben nicht wegwerfe, zumal dann, wenn man in sich selbst neues Leben trage. Änne wird sich wohl anfänglich tatsächlich gesorgt haben, Hilde könnte sich etwas antun. Wenn Not und Verzweiflung, die Schmach der eigenen Verfehlungen so übermächtig werden, dass sich kein Ausweg mehr zeigt, dann war eine Kurzschlusshandlung nicht auszuschließen. Die von mir erwähnte Brücke am Ende der Kastanienallee und des Kaiser-Wilhelm-Parks gibt es heute nicht mehr. Sie ist der Flutwelle am 14. Juli 2021 - so wie fast alle anderen Brücken im Ahrtal - zum Opfer gefallen. Diese Flutwelle, die auch die beiden Elternhäuser meiner Mutter und meines Vaters verwüstet haben, wird mir heute zum Sinnbild für die Urgewalt, mit der sich auch Hilde konfrontiert sah.
Hoffnung? Hoffnung worauf und Hoffnung in wen? Die erfundenen Briefe sind halt erfundene Briefe. Wir wissen nur von unserer Mutter, dass Hilde nach der Offenbarung Franzens, dass er verheiratet sei und Vater eines Sohnes, alle Briefe und alle Fotos vernichtet hat. Diese Offenbarung war ja gleichbedeutend mit einem radikalen Kontaktabbruch. Hilde hat in der Tat erst nahezu 60 Jahre später erfahren, was mit Franz passiert ist und dass es mit Werner noch einen zweiten Sohn gibt, der am 30. Dezember 1942, ein halbes Jahr nach seiner Schwester, das Licht der Welt erblickte. Zuvor mögen aber auf der Achterbahn der Gefühle auch Hoffnungen eine Rolle gespielt haben, Hoffnungen auf eine Heirat mit Franz, Hoffnungen auf eine Familiengründung - wie auch immer. Hilde bewegte sich über Monate in einer gefühlsmäßigen Gemengelage mit unendlichen Höhen und Tiefen. Dass es in die Tiefe gehen würde und wie tief es gehen würde, war zwar - zumindest für Änne - absehbar, aber blieb in all den Einzelheiten noch das Damoklesschwert, das über Hilde, ihrem Kind und ihrer Familie schwebte.Details
Hildes Geschichte - Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
So schrieb Hilde in ihrem ersten Brief an Franz, den sie am 11. 9. Zur Post gab:
Neuenahr, 10. 9. 41
Lieber, geliebter Franz!
Ich kann nicht aufhören, an Dich zu denken. Seit gestern Nachmittag, das weiß ich, ist mein Leben auf den Kopf gestellt. Auf dem Weg von Remagen nach Neuenahr war mir das Herz so froh und so schwer zugleich. So sehr habe ich gefühlt, daß mein Leben eine Wende nimmt, und daß nichts mehr so ist wie vorher. Alle Ängste hast Du mir genommen. – und mein schlechtes Gewissen schmerzt mich zwar, aber es ist trotzdem zu schwach, um irgendetwas zu bedauern. Gestern Abend bin ich zu Änne gefahren und habe ihr alles erzählt. Es ist gut, dass ich sie habe, auch wenn sie viele Sachen sagt, die ich nicht hören will. Ich habe Dich so lieb, daß niemand mir dies wegnehmen kann. Nur die Angst um Dich läßt mich nicht zur Ruhe kommen. Das Radio spricht nur von Siegen und daß der Krieg bald zu Ende ist. Gib auf Dich Acht. Ich will, daß der liebe Gott Dich beschützt, und daß Du bald wieder nach Neuenahr kommen kannst. Ich bringe den Brief noch zur Post, damit Du ihn bald bekommst. Die gepressten Vergißmeinnicht sollen Dich an die Zeit in Neuenahr, an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Ich habe Dich so sehr lieb, wie Du es Dir nicht vorstellen kannst!
Deine Hilde
Du kannst mir schreiben an die Adresse des „Goldenen Pflugs“ in Bad Neuenahr, Hauptstraße.
Hilde wusste von Franz, aber auch von ihrem Cousin Christian (25a) oder dem Nachbarjungen Theo (26a), dass die Feldpost manchmal Wochen unterwegs war, um ihre Adressaten zu erreichen. Trotzdem wartete und zitterte sie schon nach einer Woche und versäumte es keinen Tag an der Rezeption des „Goldenen Pflugs“ nachzufragen, ob ein Brief für sie da sei. Der Rezeptionist – auch er schätzte Hilde sehr – lachte schon und meinte nach 14 Tagen des Rituals, er würde es sie schon wissen lassen, wenn endlich Post für sie da sei. Dies war schon zu der Zeit, als die Unruhe in Hilde aus anderen Grünen wuchs und zunahm, noch weniger durch eigene Einsicht und Erfahrung als durch die fürsorglichen Hinweise Ännes. Zu ihr war der Kontakt inzwischen wieder sehr viel enger und vertrauensvoller; so eng und unverzichtbar, dass man kaum darüber spekulieren mag, was wohl aus Hilde geworden wäre, wenn nicht Änne einen Weg gefunden hätte. Einen Weg, der überhaupt erst einen Zugang eröffnete zu dem, was wohl nur als apokalyptische Weltuntergangsphantasie überhaupt vorstellbar war.
Der Fluss des Blutes, der sich am 9. September aus anderen Gründen so zaghaft wie deutlich gezeigt hatte, sollte fortan vollkommen versiegen. Aber wie konnte und sollte etwas sein, was nicht sein durfte, nicht in dieser Welt, der Keuschheit und der Gottesfurcht, die hier im katholischen Rheinland immer schon eine unheilvolle Allianz gebildet hatten; nicht einer Mutter gegenüber, die an die unbefleckte Empfängnis so sehr glaubte, dass alle Lust des Teufels war und die Befleckung selbst dort unvermeidbar blieb, wo zwei Menschen mit Gottes Segen einander zugetan waren. Aber ohne Gottes Segen und das Siegel der Obrigkeit bliebe neben der Todsünde nur die Schande. Und wo die Schande die Mutter in die Verzweiflung trieb, da war es wohl die mit der Unschuld verlorene Ehre, die für den Vater nur noch tiefste Beschämung bedeuten konnte.
So blieb, als das Unabwendbare schließlich unabwendbar war, für Hilde nur die Frage, wie sie damit leben, oder ob sie damit nicht sterben müsse? Wohl hatte sie ja noch Franz. Doch hätte sie nicht mehr ihre Eltern und ihre Eltern nicht sie. Mit diesen (selbst)mörderischen Gedanken mochte Hilde sich wohl quälen, als sie am Abend des 7. Oktober auf jener Brücke stand, auf der ihr am 28. August zum ersten Mal die Beine versagt hatten, weil ihr in der ersten Liebe das Herz überquoll und die Not ihr gleichzeitig den Atem nahm. Nach Tagen des mörderischen Irrsinns, lichteten sich erstmals ihre Gedanken so, dass sie nicht wie flammende Schwerter in ihr Herz und wie heiße Nadeln in ihr Seele fuhren; sie von einem Chaos in ein größeres stürzten. Nur die Tatsache, dass Hilde nicht zur offenkundigen Exaltiertheit und Hysterie neigte sowie die unendlich fürsorgliche und allseits gegenwärtige Unterstützung Ännes sorgten dafür, dass die vollkommene Katastrophe einstweilen vermieden wurde und das Geheimnis von Hildes Schwangerschaft vorläufig Bestand hatte.
An diesem Abend stand Hilde auf der Katzenbuckelbrücke und versuchte ihre Gedanken zu sortieren und vor allem die Entscheidung, die sie getroffen hatte, in ihr Denken und Fühlen einzuordnen.
Zuerst dachte sie an Änne. Ohne Änne wäre alles schon längst verloren. Sie hatte sie vor allen Dummheiten bewahrt, die Änne selbst nur allzu gut vertraut waren: „Man wirft sein Leben nicht weg, und vor allem dann nicht, wenn man neues Leben in sich trägt!“ Damit hatte Änne sie wachgerüttelt und gleichzeitig in eine Entscheidung getrieben, die von den tiefsten Regungen ihres Fühlens und Denkens getragen wurde, und die sie um keinen Preis mehr in Frage stellen würde. Dies hatte sie auch Änne in Dankbarkeit klar gemacht; Änne, die sich in unauflösbare Widersprüche verstrickt hatte. „Man kann und darf nur leben und muss leben, wenn man neues Leben in sich trägt!“ Wie konnte sie denn dann von ihr erwarten, dass sie dieses neue Lebens „wegmachen“ lassen sollte???
Änne hatte ihr angeboten, alles zu veranlassen und zu arrangieren, um das Kind „wegzumachen“. Dabei hatte sich Änne Hilde zum zweiten Mal offenbart und erklärt, das sei die bessere Lösung, und niemand würde etwas erfahren. Aber da war Hilde schon längst auf einem anderen Weg, mit dem Änne sie ja selbst im Leben gehalten hatte. Diese innere Stimme wuchs sich zu einem vielstimmigen Chor aus. Und alle Stimmen sangen ihr das Lied vom Kind, das euch geboren werden soll. Sie ahnte den Kreuzweg, der auf sie zukommen würde. Aber ihr Entschluss stand unverrückbar fest. Auch Änne musste eingestehen, mit ihren eigenen Waffen geschlagen worden zu sein.
Franz hatte seinen Brief längst fertig, als ihn Anfang Oktober endlich Hildes Brief erreichte. Er bestand aus mehreren zeitlich gestaffelten Teilen, die er in den letzten Wochen verfasst hatte, so wie es ihm sein Weg an die Front möglich machte. Franz schrieb an seine Frau, und er schrieb an sein Hildchen. Mit jedem Kilometer, den ihn der Balkan-Transport von St. Pölten aus über Wien, Richtung Osten, über Tschernowitz schließlich bis an den Dnjepr nach Krementschug brachte, wuchs seine Zuversicht, ja seine Euphorie, dass hier etwas Großes, etwas Unfassbares geschehe, Dabei konnte er seinen Kameraden aus St. Pöltener Zeiten durchaus verstehen. Max Wolf hatte ihm geschrieben, dass sein Regiment möglicherweise wieder einmal zu spät komme, dass der Sieg ohne sie stattfinden könne. In Kriwoi Rog, als klar war, dass es jetzt Richtung Krementschug gehen müsse, war er auf Kameraden gestoßen, die schon ihren ersten Erholungsurlaub antraten. Sie alle erzählten, der Russe wehre sich zwar, aber wenn es hart auf hart gehe, ließe er Waffen und Tross im Stich und suche sein Heil in der Flucht. In Kriwoi Rog übernahmen die 33er 4 überholte Panzer IV und wurden mit der Bahn non stop über Krementschug bis nach Mirogorod verbacht, wo sie Anschluss an ihr Regiment (Panzerregiment 33) fanden. In den Briefen, die Franz schrieb, spürte man die ungeheure Euphorie, die – trotz verlustreicher Kämpfe – die Stimmung in der Truppe beherrschte. Das warme, trockene Spätsommerwetter beflügelte diese Stimmungslage zusätzlich, so dass die Mosaiksteine, aus denen Franz seinen ersten Brief an Hilde zusammensetzte, wie ein harmonisches und von Optimismus getragenes Traumbild erschien; den ersten Brief hatte er auf dem Bahntransport von St. Pölten in die Ukraine geschrieben:
13. 9. 41
Mein liebes Hildchen!
Ich grüße Dich aus der sonnigen Ukraine.
3 Tage und Nächte sind wir nun schon unterwegs durch die unendlichen Weiten im Südosten Rußlands. Wir wechseln nur die Lokomotiven und ab und zu wird ein Waggon abgekoppelt oder angehängt. Die Fahrt durch die Karpaten mit ungeheuren Fichten- und Tannenwäldern war herrlich. Hier ließe es sich auch leben. Am zweiten Tag, als ich von der strahlenden Sonne geweckt wurde, waren wir schon in der Nordukraine. Hier gibt es nichts außer Feldern mit Weizen und Kartoffeln. Viele Dörfer sind zerstört. Unsere Armeen müssen mit einer gewaltigen Wucht durch das Land gefegt sein. Ich hoffe, daß nicht schon alles vorbei ist, wenn ich meine Einheit erreiche.
14.9.41
Liebes Hildchen,
jetzt habe ich Dir so viel Belangloses geschrieben und Dir noch gar nicht gesagt, wie sehr ich Dich vermisse, wie sehr Du mir fehlst. Mit jedem Kilometer wurde mir mein Herz schwerer, mein Herz, das Du im Sturm erobert hast, mein Herz, das nur bei Dir ist. Schreib mir bald, damit ich weiß, wohin ich die Post schicken kann.
Vor einer Stunde ist unser Transport von russischen Fliegern angegriffen worden. Wir hatten Glück, daß unsere Jäger ihnen bereits auf den Fersen waren. Wir merken jetzt schon, daß wir uns der Front nähern. Wir sind heute in aller Frühe Richtung Norden losgefahren. Wenn die Brücke bei Krementschug hält, dann sind wir heute Abend in Mirgorod und dann endlich auch wieder bei unserer Einheit. Ich freue mich, die Kameraden wiederzusehen.
24.9.41
Liebes Hildchen,
immer noch kein Brief von Dir. Aber in den letzten Tagen gab es auch keine Post. Du kannst Dir nicht vorstellen, was hier los ist. Doch, Du wirst es im Volksempfänger gehört haben. Als ich am 14. endlich mein Regiment wiedergefunden hatte, war tatsächlich fast schon alles vorbei. Wir haben den letzten Einsatz mitgefahren, und am Abend trafen wir als Spitze der Panzerarmee aus dem Süden auf unsere Kameraden, die aus dem Norden herangebraust kamen. Die Russen sitzen in der Falle und es gibt kein Entkommen.
Wir sind inzwischen schon 100 km weiter nördlich, wo wir wahrscheinlich einem neuen Verband zugeordnet werden. Es soll wohl Richtung Moskau gehen – was man so hört. Wir haben hier in Romny einen längeren Aufenthalt, und ich hoffe, daß wir in den nächsten Tagen endlich Post bekommen.
25.9.41
Mein liebes, liebes Hildchen,
wie schön und hell die Welt doch sein kann. Heute kam endlich die Post mit Deinem Brief und mein Herz hat vor Freude einen großen Sprung gemacht. Ja, ich denke immer – selbst in den schweren Stunden – an Dich. Ich trage Dein Herz in mir und auf meiner Brust. Und jetzt noch duften die Vergißmeinnicht, die in meiner Brieftasche ganz fein und geschützt in meinem Soldbuch liegen. Manchmal glaube ich, daß mich Dein Herz beschützt, so daß mir nichts geschehen wird. Wir haben den lange schon neben uns fahrenden Panzer von Walter Poschner durch Volltreffer verloren. Nur Walter selbst hat schwer verwundet überlebt. Für ihn ist der Krieg wohl zu Ende. Wir haben gegenwärtig eine totale Urlaubssperre. Ich versuche früh genug für den Beginn des nächsten Jahres einen längeren Urlaub zu bekommen, so daß wir uns sehen werden. Dein Herz ruht in meinen Händen, und ich küsse Dich
Dein Franz
PS: Wenn ich mich beeile geht der Brief noch heute mit zur Post!