Das Trauma überwinden! Welches Trauma?
Oder: Wofür die ZEIT (18/2014) auch gut ist!
Am 6.6.2015 ergänze ich den nachfolgenden Beitrag um zwei Bemerkungen: Erstens: Gestern haben Claudia und ich unseren 34. Hochzeitstag gefeiert (meine Schwester Ulla ihren 73sten Geburtstag). Heute haben wir uns noch einmal beglückwünscht, dass wir beide unser Eheschiff auch durch zuweilen schwere See mit hohem Wellengang und Orkanböen erfolgreich gesteuert haben. Man könnte sogar sagen - wie eine entfernte Bekannte einmal bemerkte -, dass wir unser Schiff nicht nur auf Kurs gehalten und vor dem Kentern bewahrt haben, sondern notwendige Sanierungen und Reperaturen bei laufendem Betrieb erfolgreich durchgeführt haben. Zweitens: Auslöser für diese Aktualisierung und diese Selbstvergewisserung war ein Fernsehfilm, den wir heute Nachmittag eher zufällig gemeinsam angesehen haben. Er inszeniert die Thesen dieses Beitrags auf spielerische Weise und durchaus mit pädagogischem Zeigefinger - gleichwohl Alles in Allem ein überaus respektables Ergebnis: "Nur mit Euch!"
Anerkennung, Zugehörigkeit, Geborgenheit - Karl Otto Hondrich, selbst geschieden, wirbt in "Meine Lieben" gleichermaßen eindringlich wie resignativ für mehr V E R N U N F T in der Begründung und Entwicklung von Beziehungen. Einige Egomanen besinnen sich spät - manchmal - nein in der Regel zu spät - was ihr beziehungs- und reproduktionsrelevantes Spuren in dieser Welt angeht. Wenn sie sich früh genug besinnen, bedeutet das im besten Fall, dass die Folgen ihres Handelns nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Kinder in einem lebbaren Tonus gehalten werden. Insofern also die "gute Nachricht" zuerst: Die Forschungsdirektorin des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Sabine Walper sagt: "Eine Trennung hat für Kinder langfristig weit geringere Auswirkungen als früher angenommen."
Martin Spiewak, verantwortlicher Redakteur für "WISSEN" in der fraglichen Ausgabe der ZEIT fasst in der Folge die Befunde in differenzierter Form zusammen, so dass zum Beispiel eine interessante Nuance in Erscheinung tritt: "Trennungskinder unterscheiden sich nicht von Mädchen und Jungen, die in stabilen Familien aufwachsen. Abgesehen davon, dass ihr eigenes Liebesleben instabiler ist und sie sich später signifikant häufiger scheiden lassen." Ist das jetzt eine schlichte Feststellung Spiewaks, die man hinnimmt - oder spürt man hier einen sanften Hauch von Ironie? Oder könnte man gar eine Anmutung von Sarkasmus empfinden? Zumal es in der Folge dann eher weniger gute Nachrichten zu vermelden gibt: Dass Scheidungskinder weder verstärkt unter Minderwertigkeitsgefühlen oder Krankheiten leiden, und dass sie weder in der Schule noch im Freundeskreis besorgniserregende Verhaltensauffälligkeiten zeigen, gilt auch nach der Diagnose der DJI-Forscher nur unter einer Bedingung: "Die Eltern müssen nach der Trennung einen Weg finden, sich über die Belange ihrer Töchter und Söhne einigermaßen zu verständigen."
Klitzekleiner Exkurs zur Ironie- bzw. Sarkasmusanmutung (sozusagen in Klammern gedacht): Zumindest seit Richard Sennets "flexiblem Menschen" oder auch Ulrich Becks "Kompetenzprofil" zu einer Lebenstüchtigkeit in der Moderne könnte es durchaus sein, dass der weniger bindungsabhängige, flexible Mensch, der in Lebensabschnitten denkt und plant und der austauschbare - zumindest aber extrem anpassungsfähige Beziehungswelten kreiert, als "Phänotyp" eher in Frage kommt als der zuwendungs- und im Scheitern therapieabhängige Sehnsuchtsmensch, der sich nach Hause sehnt und nicht weiß wohin.
Im Umkehrschluss - so jedenfalls Spiewak - sehe dies völlig anders aus, wenn der private Kleinkrieg kein Ende nehme: "Schon vor zwanzig Jahren analysierte die amerikanische Scheidungsforscherin E. Mavis Hetherington: 'Die einzige Belastung für ein Kind, die schlimmer ist als zwei sich streitende Eltern, sind zwei geschiedene sich streitende Eltern'." Spiewak integriert Forschungbefunde in eine Falldarstellung, die ihm gestattet typische Konflikt- und Verhaltensmuster darzustellen. Leon ist sein Protagonist, der auf den Dauerkonflikt der Eltern in entsprechender Weise reagiert:
"Wenn sich Mutter und Vater am Telefon anbrüllten, schrie der verzweifelte Leon: 'Hört auf!' Dann hielten die Eltern inne. Meist jedoch schwieg das Kind und zog sich zerück. Es bekam Hautauschläge. Infekte häuften sich: 'Wir haben Leon da voll mit hineingezogen', das hat der Vater inzwischen erkannt."
Anders sieht es inzwischen aus mit Blick auf die Verfahrensstandards bei der Mediation von "hochkonfliktiven Trennungspaaren": "Wir sind nicht hier, um ihre Beziehung zu klären... wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich über Ihre gemeinsame Elternschaft Gedanken machen." Auf dem Erfahrungshintergrund des Cochemer Deeskalationsmodells verfügen die Gerichte - unter Androhung von empfindlichen Strafgeldern - immer häufiger Trainings zur Teambildung für geschiedene Eltern. "Kinder im Blick" heißt ein Programm des Berliner Vereins "Zusammenwirken im Familienkonflikt". Am Beispiel einer emotional extrem fordernden und berührenden Situation stellen sich Eltern ihrer Geschichte. Sie sollen die Augen schließen und sich in die Zukunft versetzen: "Es ist der 18. Geburtstag ihres Kindes, und das Kind nutzt die Gelegenheit, um den Eltern zu danken. 'Ich bewundere, dass es euch trotz der schweren Trennung gelungen ist: ...' In Gedanken soll jeder den Satz vervollständigen. Hörbares Schlucken in der Runde."
Auf diese Weise geraten dann die Kinder tatsächlich wieder in den Blick; die gemischte Zusammenstellung der Traininsgruppen erlaubt für viele zum ersten mal Einblick in die Motive und Gefühlswelten der anderen Teilnehmer. Sie bekunden, es sei interessant die Perspektive der anderen nachvollziehen zu können bis hin zu der selbstkritischen Einsicht, dass "wir doch Idioten sind". Im Falle Leons verhilft schließlich die Arbeit mit einer Kinderpsychologin zum Durchbruch: "Wer heute , fünf Jahre nach der Trennung, in Leons Übergabebuch blättert, kann nachlesen, wie der Konflikt über die Monate zum Erliegen kam und abstarb." Martin Spiewak schildert, dass viele Paare auch nach schweren Konflikten "wieder zur Vernunft kommen". Statistisch gesehen nehme die Zahl der totalen Kontaktabbrüche in Deuschland kontiunuierlich ab: "Das heißt, immer weniger Kinder müssen damit leben, dass bei ihnen eine Leerstelle klafft, weil ein Elternteil verschwindet."
Spiewaks fallbezogener Ausblick zitiert eine beteiligte Mutter, die sich mittlerweile daran störe, wenn jemand sie als "alleinerziehende Mutter" bezeichne: "'Nein, da gibt es noch einen anderen', sagt sie dann. Selbst wenn dieser andere ihr noch immer nicht ganz geheuer ist. Immerhin, neuerdings trinkt sie mit Ingo bei - nunmehr persönlichen Übergabe sogar manchmal Kaffee. Ihr Sohn lässt sie dann in der Küche allein. Als wolle er nicht stören, wenn seine Eltern friedlich beisammensitzen."
Wir begnügen uns an dieser Stelle nicht mit einer typischen - vielleicht einen langen, belastenden Beitrag versöhnlich und perspektivisch abrundenden - Journalistenhaltung; zumal Martin Spiewak im vorvorletzten Abschnitt "investigativ" bleibt:
"Der Frieden wird wie bei allen streitenden Trennungspaaren brüchig bleiben. Wer mit den beiden Expartnern spricht, hört zwei total unterschiedliche Trennungsgeschichten. Womöglich werden neue Partner die Dreiecksbeziehung dereinst auf die Probe stellen. Irgendwann kommt dann die Pubertät und vielleicht der Tag, wo Leon Vater oder Mutter aus irgendwelchen Gründen nicht mehr sehen will. Die Prognose jedoch, dass sie langfristig zusammenfinden, ist gut. Nicht unter einem Dach, aber als Schicksalsgemeinschaft."
Leider öffent der obige Link (in der Titelzeile) nur den Zugang zum Text Martin Spiewaks. Sonst hätte ich dringend dafür plädiert, die kontextbildenden Fotos anzuschauen: Auf Seite 33 - die Headline "Das Trauma überwinden" integrierend - ein offen schauender, lächelnder Junge (vielleicht "Leon"), der auf der einen Seite die Mutter mit dem rechten Arm hält, während die linke Hand in Vaters linker Hand "ruht" - haltend und abwehrend zugleich? Mutters rechte Hand bedeckt den Bauch Leons, ihn haltend und schützend. Eine Dynamik suggerierende Szene, die keine Rückschlüsse zulässt über den Ausgang dieser Schwebesituation. Die Eltern bleiben gesichtslos, sind aber durch kleidungstypische Attribute zu identifizieren. Auf der zweiten Seite (33) hält die Mutter Leons Hand und der Text erscheint wie in einem Rahmen. Der untere, den Text begrenzende Balken enthält nochmals den deutlichen Hinweis/Appell: "Mutter und Vater - Kinder brauchen beide Eltern"; zumindest dürfen sie keinen Krieg gegeneinander und um ihr(e) Kind(er) führen.
Deshalb widme ich diesen Beitrag Kathrin. Ich kenne viele Kathrins. Die Kathrin die gemeint ist, weiß, dass sie gemeint ist, weil sie Kinder hat! Und vor allem, weil sie mich 1997 erlebt hat, als ich - von Sinnen - bereit war, wieder einmal in meinem Leben die "Delete-Taste" zu drücken. Ich widme den Beitrag auch Tina, damit sie gewappnet ist, wenn ihr "Leon" spätestens in den Wirren der einsetzenden Pubertät erwartet-unerwartete Verhaltensweisen an den Tag legen wird. Ach was, ich widme diesen Beitrag - gemeinsam mit Karl Otto Hondrich - uns allen, die wir durch diese bunte, farbenfrohe Leben driften und dabei ab und an die Orientierung verlieren!
Zum Schluss noch ein paar Links, die ich auch (und immer noch) an Teilnehmer meiner Seminare weitergebe: John Bowlby, Grossmann/Grossmann und eine schöne, knappe Zusammenfassung!