Mach dir einen Plan II
Zum Verständis der folgenden Replik ist die Kenntnis von "Mach dir einen Plan" zwingend!
Sehr geehrter Herr Hammes,
in seinen Ausführungen über „die Kontingenz der Sprache“ kommt Richard Rorty zu der Schlussfolgerung: „Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen. Die Welt kann, wenn wir uns eine Sprache einprogrammiert haben, die Ursache dafür sein, dass wir Meinungen vertreten. Aber eine Sprache zum Sprechen kann sie uns nicht vorschlagen. Das können nur andere Menschen tun. Die Erkenntnis, dass die Welt uns nicht sagt, welche Sprachspiele wir spielen sollen, darf jedoch nicht dazu führen, dass wir sagen, die Entscheidung, welches Sprachspiel wir spielen, sei willkürlich, auch nicht dazu, diese Entscheidung sei Ausdruck von etwas tief in unserem Inneren (Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1991, hier wiedergegeben aus: Edmund Braun, Hrsg., Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie, Darmstadt 1996, S287).“
Nein, Herr Hammes, erschrecken schützt nicht vor den Konsequenzen, einen Diskurs zu beginnen bzw. zu suchen und sich dann mit Kritik konfrontiert zu sehen. Das muss man aushalten. Und so trifft eine Haltung auf Unverständnis, die auf der einen Seite ein Sprachspiel inszeniert, dass im wissenschaftlichen Diskurs um Schulentwicklung und Unterrichtstheorie einen eindeutigen Ort markiert, von dem man dann plötzlich nichts mehr wissen will. Das erweckt den Eindruck, jemand werfe aus der sicheren Deckung Brandfackeln in die trockene Steppe und rufe dann: „Haltet den Brandstifter!“
Ein Positionspapier entfaltet ein Eigenleben. Diejenigen, die es im Kontext eines Fachdiskurses lesen, kennen in den wenigsten Fällen den Urheber persönlich. Da hilft es wenig, all seine persönlichen Verdienste und Motive ins Feld zu führen. „Lesen ist“ – Sie zitieren aus den Bildungsstandards Deutsch, Klassenstufe 4 – „ein eigenaktiver Prozess der Sinnkonstruktion:“ Das ist er grundsätzlich, immer und unvermeidbarer Weise bei allen Lesern allen Texten gegenüber. Dieser Prozess ist auf Selbstreferentialität verwiesen und hat – wie Dieter Lenzen betont – zwangsläufig zur Folge, dass jede Repräsentation von Außenwelt unvermeidbarer Weise immer auch einen Akt der Selbstrepräsentation darstellt.
Sie verteilen Ihre Positionspapiere innerhalb der Universität – und wohl auch andernorts. Ich habe Ihren Text gelesen, und meine Replik erschreckt Sie. Sie weisen die Kritik, Ihre Aussagen stünden für "top-down-Strategien" zurück und reklamieren für eine „bottom-up“-orientierte Haltung einzustehen. Woran soll man das festmachen? An den guten Absichten, die jemand für sich in Anspruch nimmt? Das reicht mir weder aus noch halte ich es im wissenschaftsorientierten Diskurs für eine tragfähige Vorgehensweise. Und vor allem mag ich nicht glauben, dass Sie nicht wissen, welches Sprachspiel Sie spielen und inszenieren!
Einmal ganz abgesehen von den beiden Rahmenvorgaben – dem „Mutter-Sohn-Dialog“ und der „Hausbau-Metapher“ – , die einen linearen Zusammenhang zwischen der Definition und dem Erreichen von Zielen – von Ist und Soll – suggerieren, finden sich in Ihrer auf einer DIN A4-Seite zusammengestellten Argumentation sechs Mal der Begriff der „Soll-Ist-Analyse“, drei Mal der Begriff der „Soll-Formulierung bzw. –Beschreibung“; zwei Mal sprechen Sie von „diagnostizieren“, einmal von „Vermutungsdiagnosen“ und einmal geht es Ihnen um „exakt definierte Kompetenzbereiche“.
Und vor allem: Niemand, der Ihren Text liest, hat Zugang zu dem, was Sie persönlich unter einer "Ist-Analyse" verstehen!
Sie erwecken nolens volens den Eindruck, Ihre Vorstellung von einem Lehrer-Profi decke sich ganz offensichtlich mit der von Dieter Lenzen 2003 vertretenen Auffassung, der „Lehrprofi auf höchstem Niveau“ müsse über „diagnostische Fähigkeiten“ verfügen, „die anspruchsvoller sind als die eines Arztes“. Anders kann ich die von Ihnen gestellte Frage nicht verstehen:
„Wie kann ich aber individuell, differenziert und kindgerecht auf das Potential des einzelnen Kindes hin mit meinem Kommunikationsverhalten, mit Aufgabenstellungen und Methoden reagieren, wenn ich nicht durch eine individuelle Ist-Analyse u.a. Sprachvermögen, Denkfähigkeit, Zusammenhangwissen, fachliche Kenntnisse, Fertigkeiten, Haltungen, Einstellungen, ‚biografische und Milieu bedingte‘ Vorerfahrungen des ganz bestimmten Kindes diagnostiziert habe?“
Sollen wir uns Schulen fortan wie Diagnosekliniken vorstellen? Immer wieder ist die Rede von „Soll-Beschreibungen“, deren Erreichen ganz offenkundig auf einer „individuellen Ist-Analyse“ gründen soll. Sie stellen die Frage, wie man dies denn erreichen solle, wenn man nicht zuvor „u.a.“ – die nun folgende Liste ist also unvollständig bzw. ergänzungsbedürftig – „Sprachvermögen, Denkfähigkeit, Zusammenhangwissen, fachliche Kenntnisse, Fertigkeiten, Haltungen, Einstellungen, ‚biografische und Milieu bedingte‘ Vorerfahrungen des ganz bestimmten Kindes diagnostiziert habe?“ Hier entsteht der Eindruck, dass auf diese Weise – und nur auf diese Weise – die Zielvorgaben im Sinne „exakt definierter Kompetenzbereiche“ zuverlässig erreicht werden könnten. Vielleicht legen wir noch die Farbe und das Schnittmuster fest, wonach die künftigen Lehrer-Arzt-Kittel gefertigt werden sollen.
Sie sind der Auffassung, Lehrerinnen und Lehrern in „keiner Weise zu misstrauen“. Wie sollen denn Lehrerinnen und Lehrer Ihre folgenden Fragen verstehen? Im Blickfeld Ihrer Frage steht ja ganz offenkundig nicht irgendein(e) persönlich adressierte(r) Lehrer/Lehrerin, sondern ein ganzer Berufstand:
„Wann, wo und wie stellen wir durch welche Ist-Analyse denn fest, ob eine Lehrerin der 4. Klasse diese Soll-Formulierung überhaupt versteht und auf der Anwendungsebene umzusetzen vermag? Wie diagnostizieren wir, ob sie z.B. ‚das intensive Lesen diskontinuierlicher informierender Sachtexte auf welche der fünf Lesekompetenz-Stufen‘ jemals zum Einsatz bringt und mit welchem Lernfortschritt ihre Kinder die Inhalte nicht nur ‚eins-zu-eins entnehmen und wiedergeben‘, sondern auch ‚text-immanent und/oder wissens-basiert reflektieren und bewerten‘ können?“
Sie, Herr Hammes fragen: Wann, wo und wie und durch welche Ist-Analyse kommen wir Defiziten auf die Spur? Ich frage Sie, wer soll diese Diagnosen vornehmen. Neben den Kindern sind ja auch ihre LehrerInnen wirksamen Ist-Soll-Analysen zu unterziehen. Also bitte, noch einmal: Wer soll das tun? Vielleicht doch die unruhigen Ruhestandsbeamten mit ihren vielfältigen ungedeckten Valenzen?
Und noch einmal: Ihre Ausführungen lösen eine vergleichbare Horrorvision vom „Lehrprofi als Diagnosegenie“ aus, wie die Aussage von Dieter Lenzen. Dieter Lenzen allerdings hat sich früh schon eines Besseren belehrt hinsichtlich einer solchen pädagogischen Allmachts-Phantasie (man stelle sich einmal einen solchen Diagnose-Hype vor! Nein, nicht wie in einer ärztlichen Praxis, wo Fehldiagnosen im face-to-face-Setting selbstverständlich auch täglich vorkommen, vielmehr müssten wir diesen Diagnose-Wahn meinetwegen auf eine Grundschulklasse übertragen mit vielleicht 25 Grundschulkindern!).
Ich wiederhole mich bewusst im Hinblick auf die von Dieter Lenzen gewählte Entblödungsstrategie: In einem Beitrag zu Niklas Luhmanns 70sten Geburtstag äußert er die radikale These:
"Die Figur des 'Nicht-mehr-Gebildeten' gibt es im Bildungsdiskurs nicht... Für die klassische soziologische Vorstellung von der Sozialisationsfunktion der Gesellschaft gegenüber dem Individuum hat dieses eine radikale Folge: Es gibt sie nicht. Sozialisation ist Selbstsozialisation... Die wesentliche Differenz [zu einem Bildungsbegriff z.B. Klafkischer Prägung] liegt in dem Verzicht auf eine Humanitätsfiktion. Das ist im Übrigen nicht wirklich neu oder originell. Auch diejenigen, die die Luhmannsche Perspektive zurückweisen, stoßen bereits 200 Jahr früher - z.B. bei Johann Friedrich Herbart - auf ähnlich radikale Positionen: "...Die beste Erziehung mißlingt gar oft. Vorzügliche Menschen werden das, was sie sind, meist durch sich selbst ... (Herbart, Päd. Schr. Bd. 2, S. 386, Aphorismus 9)."
Warum beginnen wir unseren Diskurs nicht dort, wo die grundlegenden Fragen gestellt werden - wo, um einen Ihrer Begriffe aufzunehmen - tatsächlich gegenperspektivisch reflektiert wird? Können wir im fortgeschrittenen Alter - ich bin nahezu 65 Jahre alt, Sie werden, wenn ich nicht irre, demnächst 75 Jahre alt - nicht mit dem existentiellen Phänomen der Kontingenz umgehen? Dies gilt cum grano salis natürlich für eine kontingenzgewärtige Unterrichtstheorie! Wer oder was zwingt Sie dazu in Bertelsmannscher Manier ständig das Technologiedezifit zu ignorieren und mit linearen Fortschrittsmetaphern zu operieren? Wir sind doch wirklich viel zu alt und erfahren, um solchen einfältigen Strategien auf den Leim zu gehen!
Der Diskurs ist eröffnet und er kann redlich und selbstkritisch oder meinetwegen gegenperspektivisch ohne die Luhmannsche Lektion nicht seriös geführt werden. Zum Schluss noch eine kleine Kostprobe, um den kritischen Umgang mit den von Ihnen in den Diskurs immer wieder eingeführten Schlüsselbegriffen anzuregen. Es sind die erwähnten Begriffe
- "Ist-Stands-Analysen an den Schulen",
- Eingrenzung "exakt definierter Kompetenzbereiche" sowie
- "individuelle Ist-Analysen" bzw. "konkrete Soll-Beschreibungen".
Was aber kann und soll denn im im dynamischen Entwicklungsgeschehen psychischer und sozialer Systeme eine "Ist-Stands-Analyse", ein exakt "definierter Kompetenzbereich" sein, wenn wir nicht einmal die schlichte Frage Niklas Luhmanns und Klaus Eberhard Schorrs beantworten können, was denn auf den Schüler wirke, dass er lerne?
Luhmann und Schorr sind nicht müde geworden auf das Technologiedefizit und den Kontingenzvorbehalt hinzuweisen und damit der (Schul-)Pädagogik einen Diskurs aufzuzwingen, inwieweit sie denn könne, was sie wolle. Und vielleicht sollten auch wir noch einmal die Frage stellen, was einen Schüler denn dazu veranlasst zu lernen: Ob es vielleicht
• die Sprache der Lehrkraft ist;
• ihr Aussehen und ihre Sympathiewerte;
• die Klassenatmosphäre;
• der familiäre Hintergrund;
• das Wetter;
• oder die Klassenkameraden
oder gar alles zusammen?
Nicht nur die Frage, ob eine Lehrkraft durch bestimmtes Handeln angesichts der Freiheit ihrer Schüler bestimmte Wirkungen erzielen kann, sondern bereits die Frage, was eigentlich alles auf den Schüler einwirkt, muss nach wie vor als ein Ausgangsproblem der Beschreibung von Unterricht betrachtet werden. Daran lässt sich doch anknüpfen!
Die Antwort-Mail von Edgar Hammes auf die erste Replik:
Edgar Hammes