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Aspekte zur Theorie des Tagebuchs - Ein Metatagebuch?
Das Tagebuch - als Demenz-Tagebuch - nimmt jetzt Fahrt auf, weil ich mich dazu entschlossen habe, die damit verbundenen Einsichten und Chancen als Kraftzentrum zu nutzen! In der Kopfzeile meines BLOGS findet Ihr unter dem Menüpunkt "Tagebuch" in Zukunft mehr und mehr Zugänge zur Theorie und Praxis des Tagebuches.
Wie schon bemerkt wird mit den folgenden Bemerkungen in der Kopfzeile meines mäandernden BLOGS ein weiterer komplexer Menüpunkt eröffnet. Es wird nicht bei theoeretischen Reflexionen zum Sinn und den Grenzen eines Tagebuchs bleiben. Ein alter Fluss mäandert gern und lässt sich ungern in ein (betoniertes) Bett zwängen. Gleichwohl stößt er auf Barrieren, und Jahrmillionen wird keiner von uns fließen. Man wird die wenigsten Barrieren und Hindernisse erodieren können, so dass Letztgültiges und Finales nicht zu erwarten ist. Vielleicht wird es dennoch spannend und unterhaltsam:
Denkt man darüber nach, welche Absichten und Zwecke man mit dem Verfassen eines Tagebuches verfolgt, bewegt man sich auf einer Metaebene. Ich fasse solche Bemühungen deshalb unter dem Begriff des Metatagebuchs zusammen. Nehme ich die Zwecke selbst in Augenschein, bleiben neben dem Tagebuch selbst, das vermutlich die eindrücklichste und nachvollziehbarste Form der Selbstvergewisserung darstellt, spezifische Unternehmungen, wie beispielsweise das Lerntagebuch oder ein Sterbetagebuch. Dies kann gewissermaßen auch in einem Gesamtunterfangen kumulieren, wie es z.B. Wolfgang Herrndorf in seinem Online-Tagebuch Arbeit und Struktur öffentlich in Form eines BLOGS bis zu seinem Suizid im August 2013 versucht hat. Der Leser kann bis zum Ende jene (sicht- und nachvollziehbaren) Spuren verfolgen, die jemand im Angesicht einer finalen Diagnose hinterlässt. Das Tagebuch wird auf diese Weise zu einer prozeduralen Hinterlassenschaft, die Einsichten erlaubt – eben in die Arbeit (Prozess), die jemand absondert und in die Gerinnung dieser Absonderungen (Struktur). Irgendwann – spätestens post mortem – bleiben nur noch die Einkerbungen in eine Welt, die das eigentlich nicht nötig hätte (Derrida).
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"Am Ende des Lebens werden die Räume ja immer kleiner - und der letzte Raum wird der kleinste sein." (Robert Ehret)
Bericht aus dem Sterbehaus
Robert Ehret muss man vermutlich genauso wenig kennen, wie mich. Er ist 90 Jahre alt und ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bank. Marc Brost und Andres Veiel beziehen sich in ihrem Dossier: "Sie nennen es das Sterbehaus" (ZEIT, 43/15, S. 13-15) auch und vor allem auf ein Gespräch mit Robert Ehret, nicht wegen seiner unbestrittenen Bedeutung, sondern vor allem, weil er der einzige von all den ehemaligen Vorständen ist, der sich namentlich zitieren lässt. Und immerhin erinnert er mich an den von Henning Mankell zitierten Aphorismus: "Mach dir im Leben nicht zu viele Sorgen, du kommst da nicht lebend raus." Allerdings verkörpert auch der 90jährige Ehret eine Haltung, die vor allem von der Sorge um sich selbst geprägt wird. Vielleicht ist man geneigt, ihm aufgrund seines hohen Alters Sätze zu verzeihen, mit denen er sich in der Tat zitieren lässt: "Mit einer Bank ist es wie mit den Mädchen. Wenn der Ruf ruiniert ist, bekommt man das nicht mehr hin." Oder: "Eine Bank geht nie an einem Geschäft zu wenig zugrunde, aber manchmal ein einem zu viel."
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Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten - oder: gegen die narrative Atrophie
Odo Marquard, den ich so spät für mich entdecke, ist am 9. Mai 2015 verstorben. Er kann sich gewiss sein, dass er etwas zu sagen hat(te); als Apologet nicht nur des Zufälligen, sondern als ironisch-humorvoller Apologet der Geisteswissenschaften - oder etwas simpler und gefälliger als Verteidiger der Vielfalt. Seine Ausgangsthese in seinem Essay: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften (in: Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2015, 169-187):
"Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften."
Seine Argumente (173ff.):
- Die durch die experimentellen Wissenschaften vorangetriebene Modernisierung verursache lebensweltliche Verluste, zu deren Kompensation die Geisteswissenschaften beitrügen. Das feine Florett, mit dem Odo Marquard ficht, sticht in einer Zusammenfassung der Fundamentalia einer sich empirisch-experimentell vestehenden Wissenschaft. Denn: Wer überprüfbar experimentieren wolle, müsse die Experimentierer "austauschbar machen". Die Experiementierer aber seien Menschen und insofern eben nicht einfach austauschbar; nicht allein deswegen, weil es bei Menschen - sozusagen im Sinne eines bedauerlichen Störfaktors - als Randphänomen auch noch ergebnisverfälschende Emotionen gebe, sondern weil die Menschen primär tatsächlich verschieden seien, nämlich - noch vor aller Individualität - fundamental mindestens dadurch, dass sie in verschiedenen Traditionen sprachlicher, religiöser, kultureller, familiärer Art steckten und gar nicht leben könnten, wenn das nicht so wäre: "Wir Menschen sind stets mehr unsere Traditionen als unsere Experimente."
Weiterlesen: Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten - noch einmal Odo Marquard
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Apologie des Zufälligen - Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl
Basislektüre vor allem auch für alle angehenden Lehrerinnen und Lehrer
Beim Wiederlesen fiel mir auf, wie sehr doch Reinhold Niebuhrs Aphorismus einen Lernprozess erfordert, der unsere Einstellung zum Leben fundamental prägt:
"Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."
Weil es keine schriftliche Fassung der Freiburger Vorträge (1999) zum Gedenken an Niklas Luhmanns Tod (1998) gab, habe ich sie aus Not und Interesse selbst transkribiert (Komm in den totgesagten Park und schau - Ich sehe was, was du nicht siehst, S. 371-430). 2010 hat sich Wolfram Burckhardt als Herausgeber der "Luhmann Lektüren" (Kulturverlag Kadmos Berlin) verdient gemacht. Eine Textstelle aus Peter Sloterdijks Vortrag fällt mir aus gegebenem Anlass spontan ein. Sloterdijk argumentiert, dass von augustinischen Tagen an die christliche Anthropologie von einer gravierenden Tendenz zur Überkulpabilisierung gezeichnet sei. Und in der Folge:
"Wenn man neben all den bekannten Gründen für die Loslösung der Moderne von der alteuropäischen Tradition einen weniger beachteten und doch sehr triftigen angeben sollte, so läge er ohne Zweifel in dem Umstand, dass die seit dem 18. Jahrhundert sich selbst so nennende Aufklärung ein permanentens Referendum zur Dekulpabilisierung des Menschen angestrengt hat - oder doch zumindest so etwas wie eine generationenübergreifende Unterschriftensammlung initiiert hat, die auf eine neue Abstimmung über die menschliche Fundamentalschuld hinarbeitet, eine Sammlung, die wir inzwischen als die moralkritische Bibliothek der Moderne überblicken - mit Beiträgen, die von Montaigne bis Cioran und von Bacon bis Luhmann reichen. Es sei en passant notiert, dass es Odo Marquard ist, der die Logik dieser Sammlung formuliert hat (Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981)."
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Eine erotische Ökologie?
Vor einigen Wochen, noch beeindruckt und erregt durch die Lektüre, empfahl mir Reinhard Voß Andreas Webers "Lebendigkeit - Eine erotische Ökologie" (erschienen im Kösel-Verlag, München 2014). Das Vorspiel weckt Neugier:
Andreas Weber beschreibt die Errettung zweier Mauersegler aus einem Kamin. Ihre Befreiung und ihr pfeilartiges Entschwinden und Wiederkehren eingewoben in die komplexe Choreografie einer Mauerseglerkolonie entfaltet sich in reiner Poesie. Andreas Weber ist Biologe und als Biologe Poet. Man hat den Eindruck, in seinen Beschreibungen erfülle sich die Idee Niklas Luhmanns, der meinte, es fehle uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie:
"Vielleicht sollte es für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist (in: Soziologische Aufklärungen, Band 6, Opladen 1981)."
Wenn Andreas Weber "Liebe als ökologisches Phänomen" beschreibt, springt eine Deutung von Wirklichkeit ins Auge, die einem System-Umwelt-Verständnis Luhmannscher Prägung nahekommt. Er folgt nämlich einem Prinzip, "das aus der Berührung zweier Pole stets ein Drittes schafft", eine relationale Welt, die sich nie wirklich nach einem Pol hin auflösen lässt. Es geht dabei um die Einheit der Differenz, in der sich die Vorläufigkeit und dynamische Verflüssigung unserer Unterscheidungen heillos manifestiert. Umso interessanter fällt mein Gesamtvotum nach Abschluss meiner Lektüre aus, denn Andreas Weber vermag diesen Anspruch nicht einzulösen. Das ganze Gegenteil ist der Fall - ein Rückfall in eine Welt, die noch glaubte - gewissermaßen als objektiver Beobachter ein gelungenes Selbst von einem verfehlten Selbst unterscheiden zu können.