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In Koblenz-Güls werden die ersten Oscars verliehen!

"Der letzte schöne Tag" von Johannes Fabrick mit Wotan Wilke Möhring, Matilda Merkel, Nick Julius Schuck und Julia Koschitz

Der hier nachstehende Text stammt aus dem Wintersemester 2014/15. Inzwischen neigt sich das Wintersemester 2016/17 dem Ende zu. Das bedeutet, dass der "Letzte schöne Tag" zum achten Mal im Rahmen des Semiars "Grenzssituationen" (6.3) gezeigt wurde. Ich bitte die Teilnehmer um Lektüre des nachstehenden Beitrags, so dass wir am 3.2.17 daran anschließen können:

Ich habe in meinem vorletzten Beitrag meinen großen Respekt und auch meine Freude darüber ausgedrückt, dass "Boyhood" von Richard Linklater mit einem "Golden Globe" ausgezeichnet worden ist. Nach dem heutigen Seminar "Grenzsituationen in Schule und Unterricht: Was passiert, wenn das Unfassbare passiert" habe ich mich entschlossen, meinen eigenen "Oscar" zu verleihen; vielleicht fällt mir noch ein passenderes Etikett als "Oscar" dazu ein. Zum vierten Mal habe ich im Rahmen des erwähnten Seminars, das den Umgang mit "Tod, Sterben und Trauer" thematisiert, den Film "Der letzte schöne Tag" gezeigt (mittlerweile gibt es auch das Skript zum Szenenverlauf in protokollierter Form).

Er ist bereits Grimme-Preis-Gewinner des Jahres 2013; er hat den Deutschen Fernsehpreis 2012 gewonnen; er ist Gewinner des 3-SAT-Zuschauerpreises 2012, Gewinner des Prix Italia 2012, Gewinner des Premios Ondas 2012 und Gewinner des Festival de Télévision de Monte-Carlo 2012 (Goldene Nymphe & Signis-Preis).  Und - was mich besonders freut - Wotan Wilke Möhring ist als bester Schauspieler im Rahmen des Deutschen Fernsehpreises ausgezeichnet worden. Von mir bekommt er den Oscar, genau wie Johannes Fabrick für die Regieleistung und Dorothee Schön für ein unglaublich präzises und gleichermaßen feinfühliges Drehbuch. Den Oscar für die beste Nebenrolle bekommt Julia Koschitz, und bei mir gibt es erstmals den Kinder- und Jugendlichen-Oscar für Matilda Merkel und Nick Julius Schuck.

Ich vergebe einen Oscar an Dorothee Schön. Sie hat das Drehbuch zum Film geschrieben. In einer kurzen Sequenz - dem Gespräch zwischen Lars Langhoff und dem Pfarrer, der die Beisetzung übernehmen soll - offenbart Dorothee Schön ein zentrales Motiv ihrer Arbeit:

Pfarrer: Herr Langhoff, nicht das sie denken ich will ihre Frau nicht beerdigen. Die Zeiten, in denen die Kirche Selbstmörder verdammt hat sind vorbei. Trotzdem glaube ich, dass es Gründe gibt, warum der Selbstmord ein gesellschaftliches Tabu ist und auch bleiben muss. Leidtragende sind doch die Hinterbliebenen. Sie und Ihre Kinder. Ich habe es immer wieder erlebt, was für ein verhängnisvoller Sog so ein Suizid für die Familien bedeutet. Das machen sich die Leute überhaupt nicht klar, die sich für die aktive Sterbehilfe einsetzen.  
Lars: Wie, wie meinen Sie das?  Pfarrer: Durch so eine Tat wird eine Tür geöffnet und die kriegen sie nicht wieder zu. So kann ein Selbstmord den nächsten nach sich ziehen und ich glaube nicht, dass die Gene daran schuld sind. Das ist der Tabubruch der da wirkt.

Im Booklet zur DVD erzählt Dorthee Schön, dass sie selbst "Betroffene" ist: Ihre Mutter hat sich das Leben genommen - und Jahre später die Schwester auch. Mehr als 10.000 Menschen setzen in Deutschland ihrem Leben jährlich selbst eine Ende. So ist es auf der Rückseite des Booklets vermerkt - verbunden mit dem Hinweis, dass in Deutschland weit mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle sterben. Hinzu kommt die Vermutung, dass auf eine vollendete Selbsttötung 10 bis 20 Versuche kommen. Dorothee Schön liegt vor allem an dem Hinweis, dass es bei Menschen, die unter Depressionen leiden, in ca. 15 Prozent aller Fälle zur Selbsttötung kommt: "Die Gefahr, dass sich ein depressiver Mensch selbst tötet, verringert sich aber, wenn die Depression erkannt und behandelt wird." Es finden sich außerdem auf der Rückseite des Booklets Hinweise zu "Warnsignalen", zu Möglichkeiten der Hilfe sowie "Hilfe-Adressen".

In der pädagogischen Auseinandersetzung mit Tod, Sterben und Trauer hat Herbert Gudjons in einem ersten Themenheft einleitend in der Pädagogik (1996) die These formuliert, dass in der Regel erst persönliche Betroffenheit zur Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex führt. Dorothee Schön bestätigt diese These auf eindrucksvolle Weise und hat ein Drehbuch vorgelegt, das Johannes Fabrick auf eine ungewöhnlich sensible wie dichte Weise filmisch umgesetzt hat. Er bestätigt im Übrigen auf die Frage, wie denn Freunde und Verwandte auf dieses Projekt reagiert hätten, Gudjons These: Einige reagieren nach einem Moment der Ratlosigkeit mit Bemerkungen wie "harter Stoff". Oder - und dies sei überraschend häufig der Fall geschehen: "Es zeigte sich eine ganz persönliche Betroffenheit, weil näher oder weiter im Umfeld Selbstmord Thema war. Dann spürt man, wie relevant die Geschichte ist."

Über Drehbuch und Regieleistung machen sich die Filmkonsumenten in der Regel keine Gedanken. Die besondere Gesamtleistung, die hier alle Beteiligten abgeliefert haben, wird ja in erster Linie durch das grandiose Spiel - im Übrigen aller(!) Mitspieler deutlich, bis in die letzte Nebenrolle hinein. Johannes Fabrick honoriert die Arbeit Dorothee Schöns durch den Hinweis, sie habe "ein großartiges Buch" abgeliefert. Auch nach einem ersten Stutzen habe sich dieser Eindruck verfestigt: "Das Buch ist tatsächlich so gut. Da sind keine bemühten szenischen Konstrukte, alles ist unerhört simpel und genau deshalb in der Summe so berührend."

Das Spiel von Wotan Wilke Möhring, von Julia Koschitz (die weitgehend ohne verbale Textur spielt), von Matilda Merkel und Nick Julius Schulz ist nicht nur berührend; es ist ergreifend und erschütternd, ohne auch nur je eine simple Totalidentifikation auszulösen. Das Spiel der Hauptprotagonisten wirkt in einem Maß authentisch - und vielleicht deshalb so ernüchternd (und ohne die Verlockung der Identifikation), weil man einerseits in diesen Plot hineingezogen wird, andererseits aber im abgeklärten Spiel des systemisch ausgeklügelten komplexen szenischen Arrangements ein Brett nach dem anderen vor den Kopf geschlagen bekommt. Im Leichenschmaus gehst du auf und unter - du bist mittendrin, ohne die geringste Chance des Entrinnens, wenn alle denkbaren Stereotype subtil mit Fleisch, Blut und Tratsch entfaltet werden, die man sich nur je auszudenken vermag. All die für mich namenlosen Mitspieler erreichen, dass ich mich gleichermaßen in fassungsloser Betroffenheit wiederfinde wie als ernüchterter, teils belustiger, teils entrüsteter Beobachter.

Aber eins nach dem anderen: Lars Langhoff; Ehemann von Sybille Langhoff und Vater der beiden gemeinsamen Kinder Maike (14) und Piet (7), muss erleben, wie er (und die Kinder) von Sybille getäuscht werden und durch eine zeitverzögerte e-mail Sybille erst nach ihrem Suizid im Kölner Königsforst frühmorgens findet; an jenem Ort, den sich Sybille offenkundig an ihrem "letzten schönen Tag" bei einem Spaziergang ausgesucht hat - unter einer Eiche. Den Suizid selbst muss Lars - bei seiner als Anästhesistin arbeitenden Frau - ironischer Weise als professionell vorgenommene Selbsttötung begreifen, die - wie ihr Chef ihm bei der Beerdigung vermittelt - im Falle einer Fehlleistung geradezu "als ärztlicher Kunstfehler" erschienen wäre. Alles, was aus dieser Tat folgt, erklärt Dorothee Schön, hat sie im Drehbuch schließlich bewusst verdichtet auf die ersten Tage nach dem Suizid bis zur Beisetzung: "Usprünglich hatte ich gedacht, dass die Geschichte das erste Jahr der Familie nach dem Tod der Mutter erzählen würde, aber ganz schnell habe ich gespürt, dass die dafür notwendigen Zeitsprünge die Gefahr in sich bergen, dass ich ausweiche. Im Film geht es ja immer so elegant: Schwups, und schon ist ein Monat vergangen..."

Eine kleine Randbemerkung: Dorothee Schön muss für diese Vermeidung von "Eleganz" eine andere Art der "Eleganz" in Kauf nehmen. Es ist die einzige, milde Kritik am Plot und seiner dramaturgischen Inszenierung: Der Film endet mit "Kuchenbacken", dem Neubesprechen des Anrufbeantworters, der Übergabe von Sybilles Handy an Piet sowie dem Überreichen von Sybilles Ohrsteckern an Maike. Dorothee Schön - und auch Johannes Fabrick haben sich verführen lassen, trotz der im Kern überzeugenden zeitlichen Begrenzung auf die intensiven Tage nach dem Selbstmord bis zur Beisetzung, den Eindruck zu erwecken, die von Elisabeth Kübler-Ross, Verena Kast und vielen anderen in Variation beschriebenen Phasen und Dynamiken des Trauerprozesses innerhalb dieser Zeitphase entwickeln zu können. Es ist - wie weiter oben schon betont - unglaublich und für sich auf unfassbare Weise überzeugend, wie Lars, Maike und Piet diese emotionale Achterbahn in ein grandioses Spiel übersetzen. Aber hier haben Dorothee Schön und Johannes Fabrick zu viel gewollt!

Aber ich bin geneigt, diese Randbemerkung völlig auszublenden und setze mich weiterhin dem bitter-süßen Genuss aus, nunmehr dem Spiel von Wotan Wilke Möhrings, Matilda Merkels, Nick Julius Schucks sowie dem von Julia Koschitz und aller anderen nur noch fasziniert und begeistert zu folgen.

Morgen geht's weiter! Na ja, inzwischen schreiben wir den 23.1.2015, und es war gut, eine kleine Pause zu machen. Die heutige Sitzung zu den "Grenzsituationen" ist zu Ende und eine differenzierte Rückmeldung vor allem hinsichtlich der didaktischen Sinndimension, also den Film im Kontext des Seminars (als freiwillige Veranstaltung) anzubieten, hat den eigenen Blick noch einmal geschärft. Seit einigen Semestern ist der "Der letzte schöne Tag" integraler Bestandteil des erwähnten Seminars. Angehenden Lehrerinnen und Lehrern in der Masterphase soll Gelegenheit gegeben werden, sich mit den existentiell zentralen Themenbereichen von Tod, Sterben und Trauer (im Kontext von Schule) auseinanderzusetzen. Das Votum für die hochschuldidaktische Legitimation, den Film als integralen Bestandteil des Seminars zu sehen, war von einem umfassenden Konsens getragen.

 

 

Letztes Lied

 

Ich werde fortgehn, Kind. Doch Du sollst leben
Und heiter sein. In meinem jungen Herzen
Brannte das goldne Licht. Das hab ich Dir gegeben,
Und nun verlöschen meine Abendkerzen.

Das Fest ist aus, der Geigenton verklungen,
Gesprochen ist das allerletzte Wort.
Bald schweigt auch sie, die dieses Lied gesungen
Sing Du es weiter, Kind, denn ich muss fort.

Den Becher trank ich leer, in raschem Zug
Und weiß, wer davon kostete, muss sterben …
Du aber, Kind, sollst nur das Leuchten erben
Und all den Segen, den es in sich trug:

Mir war das Leben wie ein Wunderbaum,
von dem in Sommernächten Psalmen tönen.
– Nun sind die Tage wie geträumter Traum;
Und alle meine Nächte, alle – Tränen.

Ich war so froh. Mein Herz war so bereit.
Und Gott war gut. Nun nimmt er alle Gaben.
In Deiner Seele, Kind, kommt einst die Zeit,
soll, was ich nicht gelebt, Erfüllung haben.

Ich werde still sein; doch mein Lied geht weiter.
Gib Du ihm deinen klaren, reinen Ton.
Du sei ein großer Mann, mein kleiner Sohn.
Ich bin so müde – aber Du sei heiter.

Mascha Keleko

 

 

 

Dorothee Schön hat meinen Beitrag im BLOG gelesen und mir am 30.6. folgende mail zukommen lassen:

 

 

Lieber Herr Witsch-Rothmund,
So bin ich nun also stolze Oscarpreisträgerin! Es freut mich wirklich sehr,
dass Sie sich von unserem Film haben so berühren lassen und ihn offenbar zu
Unterrichtszwecken einsetzen. Ich weiß, dass das Thema Suizid oft tabuisiert
wird, und da es ist es gut, wenn Menschen eine Sprache und eine Haltung dazu
finden. Auf jeden Fall hat noch keines meiner Drehbücher eine so nachhaltige
Resonanz gehabt. Bis heute bekomme ich Mails dazu, so wie heute von Ihnen,
und zum Teil sehr bewegende und persönliche Briefe.
Vielen Dank für Ihre Anerkennung und den gefühlten "Oscar"  
Ihre
Dorothee Schön
   
© ALLROUNDER & FJ Witsch-Rothmund